*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 52013 *** #################################################################### Anmerkungen zur Transkription: Der vorliegende Text wurde anhand der 1922 erschienenen Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Zeichensetzung und offensichtliche typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert bzw. ergänzt. Einige altertümliche Wortformen wurden vom Autor offenbar in illustrativer Absicht eingefügt; diese Begriffe wurden nicht verändert. Unterschiedliche Schreibweisen wurden nicht vereinheitlicht. Im Originaltext beginnen neue Absätze ohne Kennzeichnung durch Einrückungen oder vergrößerte Zeilenabstände. In einzelnen Fällen mussten daher vom Bearbeiter willkürliche, aber möglichst sinngemäße, Entscheidungen bezüglich des Beginns eines neuen Absatzes getroffen werden. Wie bei den meisten Frakturschriften üblich, kann auch im Original zwischen den Großbuchstaben ‚I‘ und ‚J‘ nicht unterschieden werden. Die Zuordnung erfolgte in einigen Fällen gezwungenermaßen rein willkürlich; obwohl beispielsweise die Schreibweisen ‚Iago‘ und ‚Jago‘, sowie ‚Iachimo‘ und ‚Jachimo‘ gleichermaßen bekannt sind, wurden in diesem Text die Formen ‚Jago‘ bzw. ‚Jachimo‘ verwendet. Die Originalausgabe enthält am Ende des vorliegenden zweiten Teiles ein Inhaltsverzeichnis für beide Bände, welches in der elektronischen Fassung der Übersichtlichkeit halber vom Bearbeiter an den Beginn des Textes gestellt wurde. Gesperrt gedruckte Passagen wurden mit _Unterstrichen_ gekennzeichnet; Stellen in Antiquaschrift sind von ~Tilden~ umgeben. #################################################################### Gustav Landauer Shakespeare Dargestellt in Vorträgen Zweiter Band 1922 Literarische Anstalt Rütten & Loening Frankfurt am Main Alle Rechte, besonders die der Übersetzung, vorbehalten ~Copyright 1920 Literarische Anstalt Rütten & Loening, Frankfurt a. M.~ 6. bis 10. Tausend Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig Inhaltsverzeichnis _Erster Band_ Seite Vorwort V Romeo und Julia 1 Der Kaufmann von Venedig 42 König Johann 91 Julius Cäsar 139 Hamlet 189 Troilus und Cressida 256 Othello 303 _Zweiter Band_ Maß für Maß 1 Macbeth 48 König Lear 80 Antonius und Cleopatra 130 Timon 160 Coriolan 189 König Zymbelin und Das Wintermärchen 238 Der Sturm 269 Die Sonette 318 Shakespeares Persönlichkeit 371 Maß für Maß Von dem Augenblick an, wo ein Registrator sich auf den Himmelsthron setzt und mich als gebietender Gott zwingt, Shakespeares Stücke ordentlich auf die gehörigen Rubriken zu verteilen, werde ich Troilus und Cressida zu den ganz großen Tragödien, Maß für Maß aber unbedenklich als größte zu Shakespeares Komödien stellen. Eine Komödie größter Art ist dieses Stück gerade darum, weil es seinem Stoff nach durchaus tragisch ist; die Komik liegt nicht im entferntesten in den Geschehnissen, die zur Höhe der Handlung emporgeführt werden, nicht einmal eigentlich in der Art, wie der Dichter die Welt, in der diese Dinge geschehen, ansieht: die größte Schärfe des Blicks und Bitterkeit der Stimmung ist mit unsäglich liebender Innigkeit und verzeihender Milde verbunden, so daß ein Umfang der Empfindung von einer Weite und Höhe entsteht, die man Heiterkeit oder Humor nur nennen kann, wenn man jeglichen Beigeschmack von Vergnüglichkeit oder idyllisch kauziger Beschränktheit aus diesen Begriffen entfernt; die Komik liegt vor allem in der gleich von Anfang an vorbereiteten Wendung, die die Handlung auf ihrem Höhepunkt nimmt: ein geheimer Lenker, ein ~deus~ nicht ~ex machina~, sondern ~ex anima~ ist da, der mit einer liebenswürdigen Grazie ohnegleichen wilde Wallungen besänftigt, schroffe Gegensätze ausgleicht und den pochenden Schmerz der Leidenschaften in sinnvollen Scherz und ernstes Spiel verwandelt. Wie wenn ein ironischer Gott die Menschen erschaffen hätte und nun als Zuschauer sie frei gewähren ließe, bis ihre Leidenschaften und Widersprüche zu solchen Verwicklungen und Konflikten geführt hätten, daß sie ohne sein Eingreifen verderben müßten, und dann käme er und lenkte sie mit sanfter Bestimmtheit, wohin er sie haben will, so erschafft der Herzog dieser Komödie einen Fürsten an seiner Statt mit dem Vorbehalt, ihm eine Weile zuzusehen, zur rechten Zeit aber einzuschreiten. Die Ironie weckt die Tragik und gestattet ihr ihre verzerrte Bahn, bis es der Pein und des Frevels genug und schon fast zu viel ist und die Ironie wieder die Herrschaft antritt. Shakespeares Lustspiele könnte man einteilen in die Spiele, in denen alle Erdenschwere in Ironie, Musik, Traum und Geisteszauber aufgelöst scheint; dahin gehören der Sommernachtstraum und der Sturm; auch der Kaufmann von Venedig, nur daß da das Geisterhafte ganz vom Menschlichen und Natürlichen bestritten wird; und in die Stücke, die zwar oft in dieses Reich hineinragen, deren Leichtigkeit und Spielerei aber zum Teil auch daher kommen, daß der Dichter in ihnen etwas auszuruhen scheint, nicht nur die Probleme, sondern auch die Durchführung leichter nimmt und sich eine Umbiegung der Charaktere je nach dem Erfordernis der Handlung und Bühnenwirkung keineswegs immer verbietet; Was ihr wollt, Wie es euch gefällt, Viel Lärm um nichts sind die vollendetsten Exemplare dieser Gattung. Aus diesem Bezirk ins Reich der großen, bitter ernsten Komödie hebt sich Ende gut, alles gut, ohne die letzte Vollendung zu erreichen. Diesem Schauspiel ist Maß für Maß in mehr als einem Punkte benachbart; hier aber ist die Vollendung erreicht, und die Wendung zum Sinnspiel bringt diese Dichtung wieder in die Nähe der Gattung menschlich-natürlicher Märchen, die Der Kaufmann von Venedig repräsentiert, nur daß im Kaufmann die Tragödie als alles überschattende Episode im Lustspiel steht, während in Maß für Maß die gesamte Handlung, in der alle Hauptpersonen stehn, zu tragischer Höhe ansteigt, bis vom Scheitelpunkt an die Tragik mählich gemildert und in Prüfung verwandelt wird. Der erste Druck, den wir von dem Stück haben, steht in der Folioausgabe von 1623. Nach einem Dokument, dessen Echtheit nicht völlig feststeht, wäre das Stück 1604 am Hof aufgeführt worden. Der Stoff findet sich zuerst in derselben Novellensammlung Hecatommithi von Giraldi Cinthio, in der sich auch die Novelle vom Mohren von Venedig findet; Shakespeare stützte sich aber überdies auf zwei Arbeiten von Georg Whetstone, die Komödie Promos und Kassandra (1578 gedruckt), und eine kurze Novelle, die er 1582 in der Sammlung ~Heptameron of civil discourses~ herausgab. Die ursprünglichen Namen und Schauplätze Cinthios haben sowohl Whetstone wie dann wieder Shakespeare verändert. Shakespeares Herzog Vincentio von Wien ist bei Cinthio Kaiser Maximilian in Innsbruck, bei Whetstone König Corvinus von Ungarn und Böhmen; der Statthalter heißt erst Juriste und dann Promos; unsre Isabella bei Cinthio Epitia, bei Whetstone Kassandra; in all diesen Fassungen vor Shakespeare muß dies Mädchen um der Rettung ihres Bruders willen sich tatsächlich dem Statthalter hingeben; und aus der Umgestaltung dieses Hauptmotivs, die Shakespeare vornahm, ergibt sich schon, wie er mit dem äußern Stoff und innern Sinn im Kleinen und Großen frei geschaltet hat. Maß für Maß hat sehr vielen, die über Shakespeare geschrieben haben, aus demselben Grund und im nämlichen Grad unangenehme Gefühle und Verlegenheit erzeugt, wie Troilus und Cressida. Man hat von berühmten, geachteten und anerkannten Männern Urteile gehört, wie: das Stück sei auf _unsrer_ Bühne nicht möglich; für _unsern_ Geschmack dürfe bei einem solchen Motiv von komischer Behandlung und Wirkung keine Rede sein; _unser_ sittliches Gefühl werde in unerträglicher Weise verletzt; und die üblichen Epitheta sind: peinlich, abstoßend, widerlich. Mit alledem zeigen, die so schreiben, nur, daß sie für Shakespeare nicht reif sind; und daß ihresgleichen in Ehren und nicht in verlachtem Schimpf stehen, ist kennzeichnend für unsre öffentlichen wie geheimen Zustände. Ich sage von vornherein, daß mir Maß für Maß zu Shakespeares vortrefflichst gebauten, schlagkräftigsten, spannendsten, bühnenwirksamsten, innigsten, reinsten und reifsten, freiesten und tiefsten Schöpfungen gehört. Kann es denn für eine Komödie, das heißt für eine solche Darstellung von Gegensätzlichkeiten, über die wir lachen dürfen, weil wir sie in uns und um uns zugleich kennen und nicht kennen, in unsrer erbärmlichen Wirklichkeit kennen, in unserm Glauben, Wünschen und Umschaffen nicht kennen, kann es tauglichere Motive geben, sowie wir die Komik ernst genug nehmen und mit ihr nicht Vergnügliches betrachten, sondern wollend in unsrer eignen Zwiespältigkeit eine Entscheidung treffen? Wer, der in Betracht kommen will, ist denn durch elende Lustigkeit, bei der die Gemeinheit mit der Gemeinheit lacht, oder gar durch Frohsinn, bei dem der Philister mit den Philistern vergnügt ist, so verdorben, daß er nicht weiß, daß das echte Lachen der Komik ebenso gegen die Niedrigkeit Partei ergreift, wie die Ergriffenheit der Tragik für die Hoheit und Innigkeit eintritt? Ich habe das Wort Tränen hier vermeiden müssen, weil die Rührung allermeist erbärmlich geworden ist und weil bei diesen edeln Tropfen nicht mehr die adligen Gefühle der Teilnahme am Großen und Reinen, das beschmutzt und zu Fall gebracht wird, von den Regungen der Tröpfe zu unterscheiden sind; genau so ins Gemenge und in die Menge gekommen ist das Lachen, das eine Steigerung sein sollte und allermeist eine Erniedrigung oder Plattheit geworden ist. Maß für Maß zeigt uns die Macht und den Mißbrauch der Macht; das Verhältnis des wahren Menschen zu der Rolle, die er im Amt spielt; die hohe richterliche Pose; zeigt uns den Mann, der in einem idealen Wortgebäude wohnt, welches einstürzt, sowie der Sturm der Triebe kommt; den Anspruch des Staates, regulierend und sittlichend ins Geschlechtsleben einzugreifen, wobei sich dann ergibt: was für eine Erfindung, vom Staat zu reden, als ob das ein Gebilde übermenschlicher Art für sich wäre, und ist doch nur ein Name für Menschen und Untermenschen! Einen Fürsten sehen wir, der wie Harun al Raschid im Verborgenen, verkleidet, die Vorgänge in seinem Staat beobachtet, Zeuge wird, die Fäden lenkt, alles zum Guten wendet, der Milde und Nachsicht, vor allem aber Wahrheit an die Stelle der Strenge, der Übergriffe, der Heuchelei setzt; dazu kommen die Probleme des Rechts, vor allem des Strafrechts und geradezu der Strafrechtstheorie; der Moral und Moraltheorie, der Gnade, der himmlischen und irdischen Liebe, des Lebens und des Todes. Dazu ist die Sprache dieses Dramas nach Form und Gefühls- wie Gedankengehalt rein, reich, voll, kräftig, knapp; sie bringt Bilder von wundervoller Ausdrucksgewalt; die Komposition ist glänzend und sicher; die Abwechslung zwischen Verssprache und Prosa ist besonders weise abgestuft; die Szenen der niederen Komik, diese burlesken Scherzo-Variationen sowohl des erotischen wie des Beamtenthemas, die es mit den entsprechenden in Viel Lärm um Nichts getrost aufnehmen können, sind lustig, reich an Einfällen, famos; und selbst in diesem untern Bezirk ist das höchste tragische Motiv mit Fug in eine keineswegs bloß das Zwerchfell erschütternde, in eine schlechtweg erschütternde Komik gewandt: da haben wir den Mörder und Räuber, der lustig leben und sterben will. Dies Stück, das, wie jedes von Shakespeares bedeutenden, seinen Sinn nicht irgendwie sentenziös ausspricht, sondern sich deiktisch verhält, ist darum auch nur denen voll zugänglich, die schauend, Gegensätze schauend, empfindend, in der Phantasiesphäre zu denken vermögen, die überdies das, was ihnen plastisch, als bewegtes, dissonierendes Leben, als Gegensätze der Sphären, der Regungen, der Charaktere entgegentritt, aufzulösen und zu vereinigen wissen in der Musik, die durch dieses Stück so waltet wie in Rembrandts Schöpfungen. Das hat sehr schön Hugo von Hofmannsthal gesehen und zum Ausdruck gebracht, und besonders gut weist er auch auf diese gegenseitige Ergänzung des oberen und unteren Bereichs hin: „Welche Lichter auf dem Finsteren, welches Leben des Schattens durch das Licht.“ Das Stück setzt, so wie der König Lear, in der Staatsszene, die den Eingang bildet, sofort mit einem Sprung in die Haupthandlung hinein: der Herzog entfernt sich aus Wien, seiner Hauptstadt, und übergibt aus besonderen Gründen dem jungen Angelo mit voller Statthalterhoheit das Regiment; einen alten, klugerfahrnen Mann, Escalus, der eigentlich das nächste Anrecht auf die Vertretung des Herzogs hätte, gibt er ihm nur als Gehilfen bei. Was sind das für Gründe besondrer Art? Was ist Angelo für ein Mann? Das merken wir, daß die besondern Gründe in ihm, in seiner Natur liegen; ihn selbst aber, wie er ist, zeigt uns der Dichter noch lange nicht; und auch, was der Herzog über ihn zu ihm selbst äußert, ist zwar von entscheidender Wichtigkeit, aber mit Absicht dunkel gehalten; so dunkel, daß die meisten Übersetzer, die ich habe prüfen können, -- zumal der neueste und doch wohl allerschlechteste, Hans Olden -- den Sinn verfehlt, oft ins Gegenteil verkehrt haben; der Herzog sagt: Angelo, Auf deinem Leben zeigt sich eine Prägung, Die dem, der aufmerkt, deinen Lebenslauf Völlig enthüllt. Du selbst und deine Gaben Sind nicht so ganz dein eigen, daß du dich An deine Tugenden, noch sie an dich Verschwenden darfst. Der Himmel macht’s mit uns, Wie wir’s mit Fackeln tun: um ihretwillen nicht Entzünden wir sie; wenn die Tugenden Aus uns heraus nicht flössen, wär’ es so, Als hätten wir sie nicht... Ein paar Szenen weiter, nachdem Angelo dem Rat, dem Gebot prompt gefolgt ist und schon begonnen hat, seine Tugenden in die Welt wirken zu lassen, hören wir vom Herzog in seinem Gespräch mit dem Bruder Thomas schon deutlicher, wie er’s gemeint hat: die scharfen Gesetze, über die das Land verfügt, hat dieser Fürst in den vierzehn Jahren seiner milden Regierung kaum zur Anwendung gebracht; so ist vielerlei Zügellosigkeit eingerissen, Die Freiheit zupft dem Rechte an der Nase; würde er selbst jetzt mit einem Male auf die Gesetze zurückgreifen, die fast vergessen wurden, so wäre das eine Härte, die er geneigt wäre, Tyrannei zu nennen. Denn hatte er nicht selbst all die Schlechtigkeiten geradezu geboten? Denn wir gebieten’s, Wenn wir der Übeltat den Freipaß geben, Anstatt der Strafe. Darum also soll Angelo, ein Mann Der keuschen Selbstbeherrschung und der Strenge, wie uns jetzt gesagt wird, den Gesetzen wieder Geltung verschaffen. Und mit den Worten, die wir vorhin hörten und die keineswegs bloß uns, die auch Angelo selbst dunkel bleiben sollen, hat er ihn dazu bringen wollen und dazu sofort dazu gebracht, aus sich herauszugehen und seine Tugenden -- im Anschluß an die alten Gesetze -- an die Anwendung zu lassen. Der Herzog hat aber, er deutet es Bruder Thomas schon an, noch einen geheimen Hintergedanken: nicht bloß sollen die Gesetze jetzt wieder zu Leben erweckt werden; diesen Statthalter, der nun auf öffentlichem Gebiet seine Tugenden ans Werk lassen soll, will er prüfen. Herr Angelo ist genau Und sieht sich vor. Kaum, daß er zugibt, Blut Fließ’ ihm in Adern oder es gelüste Ihn mehr nach Brot als Stein; die Probe lehrt, Wie sich im Machtbesitz der Schein bewährt. Nach diesen Worten sehen wir schon viel deutlicher in das Verhältnis des Herzogs zu dem jungen, begabten Mann, den er zu seinem Statthalter gemacht hat: etwas Strenges, Asketisches, Welt- und Wirkungscheues hat Angelo bisher an sich gehabt; drum hat der Herzog ihn ermahnt, er solle sein Licht der Welt leuchten lassen, solle seine Tugend auf die Menschen anwenden; und den weitesten Spielraum hat er ihm gelassen, überdies noch zu dem Versuch, in seinem Staat für Zucht und Ordnung zu sorgen. Bist du so tugendhaft, hier hast du Arbeit! Verschwende nicht deine Tugenden in dir, in sich selbst; gib ihnen entfesselte Freiheit, so wie in meinem Lande die bösen Triebe allzu lange diese Freiheit genossen haben. Das soll sich also nun zeigen; die Widersprüche der Menschennatur sollen an den Tag kommen; der Gegensatz von Schein und Wesen, vor allem von Reden und Handeln soll heraustreten. Ganze Systeme hat sich das Reden geschaffen: das System der Tugend oder die Moral; das System der Religion; das System des Rechts. Sie alle treten in diesem Stück auf und spielen ihre Rolle; und ihnen allen treten die leibhaften Tatsachen gegenüber und entlarven sie. Eine kleine Probe solcher Kritik bekommen wir gleich zu Beginn der zweiten Szene in einer kleinen episodischen Einlage. Der Herzog hat absichtlich seine Spuren verwischt; am Hof meint man, er sei in den Krieg gegen Ungarn gezogen; die Berufsoffiziere kennen aber seine milde, vernünftige Natur und fürchten, es könne zu einem Vergleich mit dem Feind kommen. Da seufzt einer den frommen Wunsch: Der Himmel schenk’ uns Frieden; nur nicht mit dem König von Ungarn! Und ein andrer ruft Amen dazu. Da spottet der Edelmann Lucio mit seinem bösen Mundwerk: Du amenst wie der andächtige Seeräuber, der sich mit den zehn Geboten einschiffte, aber eins davon von der Tafel auskratzte. Da lachen sie und wissen gleich, welches Gebot der Seeräuber nicht mit auf seine Berufsfahrt nahm: Du sollst nicht stehlen. Ja, das schabte er weg. Und einer der Offiziere macht sofort die aufrichtige Nutzanwendung: Kein rechter Soldat ist unter uns, der im Tischgebet an der Bitte um Frieden Gefallen fände! So geht’s, das sehn wir sofort nach der kurzen feierlichen Einleitung der Übergabe des Regiments, in diesem Staat, in dieser Stadt Wien zu: es gibt gewisse allgemeine Normen, gewisse Lehren, die ihre Wortmacht üben, so daß man sie mit den Lippen bekennt; aber im vertrauten Kreis macht man kein Hehl daraus, daß dieses Allgemeine sich auf die besondern Stände und Interessen in Wirklichkeit gar nicht anwenden läßt. Und nun ist ein junger Mann ans Ruder gekommen, nicht durch Ehrgeiz oder Usurpation; er hatte sich’s, wir haben es wohl zu beachten, nie träumen lassen, so hoch hinauf zu kommen; und er muß ja auch von vornherein annehmen, daß es nur für eine Weile ist und daß er für alles, was er verfügt, Rechenschaft abzulegen haben wird; wir wissen zunächst weiter nichts von diesem Statthalter, als daß er ein strenger Idealist oder Ideologe sein soll. Wo wird er zunächst angreifen? Welches Gebiet liegt seinem Reform- und Reinigungseifer am nächsten? Noch ehe wir so weit sind, über Angelos Wesen, seine Sittenstrenge und Selbstbeherrschung aus dem Mund des Herzogs etwas zu erfahren, sehen wir, daß dies das Gebiet ist, auf dem der Rigorist vor allem eingreift: die Gesetze zur Aufrechterhaltung und Hebung der Sittlichkeit sind da -- nicht von diesem Herzog, der sie kaum angewandt hat, gegeben, sondern von seinem Vorgänger -- nun soll Ernst gemacht werden. Die Freudenhäuser in den Vorstädten sollen niedergelegt werden; den Kupplern und Kupplerinnen will Herr Angelo das Handwerk legen; ein junger Edelmann, Herr Claudio, der einem Mädchen -- das er sogar zu heiraten gedenkt, nur aus Gründen der Mitgift ist der Akt verschoben worden -- ein Kind gemacht hat, ist verhaftet worden; auf diesem Verbrechen steht nach dem Gesetz der Tod. An dem nämlichen Tag, an dem Claudio ins Gefängnis abgeführt wird, tritt seine Schwester Isabella ins Kloster ein, um da als Novizin ihre Probezeit durchzumachen. Aber sie wird ganz anders, als sie sich’s dachte, wird mitten in der Welt geprüft, wird in die Prüfung Herrn Angelos verwickelt. An sie wendet sich der Bruder durch Vermittlung eines Freundes: sie soll durch Freunde und vor allem persönlich beim Statthalter tun, was sie irgend kann, um ihren Bruder zu befreien. So widerwärtig dem reinen Mädchen, das in einem Zusammenhang, von dem wir nichts Äußeres wissen, im Begriffe steht, der Welt Valet zu sagen, ehe es sie aus Erfahrung kennt, diese Männergeschichten sind, so weiß sie doch, daß der Fall hier anders liegt, als der Anschein sagt: das Mädchen, das Mutter werden soll, ist ihre Freundin, sie hat schon immer gewünscht, daß ihr Bruder sich mit ihr vermähle. Und dann: der Tod! Tod, weil gegen die Ordnung des Staats, aber nach der Ordnung der Natur ein neuer Mensch geboren werden soll! Sie ist bereit, zur Rettung alles zu tun, was sie kann. Wie allmählich, wie zurückhaltend Shakespeare diesmal seine Motive bringt! Da haben wir, jetzt ganz im Hintergrund, den Herzog, den die Leute seiner Regierung und das Volk im fernen Polen glauben, der sich aber in einem Kloster verbirgt, um bald als Mönch zum Volk und zum Statthalter zu gehn, und zu sehen, wie die Dinge sich entwickeln. Da ist der junge Mann im Gefängnis, vom Tode bedroht, und seine fromme Schwester soll helfen. Und da ist der Herr über Leben und Tod, der stellvertretende Fürst, Herr Angelo, und noch wissen wir nichts von seinem innern Wesen, noch kennen wir ihn nur aus Amtshandlungen und Kennzeichnungen aus dem Munde andrer; von seinem privaten Leben sehen wir gar nichts. Können wir uns auf das verlassen, was die Leute so über ihn sagen, jetzt zum Beispiel Claudios mit dem Mundwerk so leichtfertiger Freund Lucio, der Herrn Angelo also schildert: ... ein Mann, des Blut Zerlass’ner Schnee ist; einer, der der Sinne Begier und süßen Stachel niemals fühlt, Nein, stumpft und schwächt den Antrieb der Natur Durch Geistesarbeit, Fasten und Studieren. Ist er so? Ist damit alles über ihn gesagt? Nicht sehr wahrscheinlich; Lucios Psychologie steht auf schwachen Beinen: die Heiligen und Anwärter zur Heiligkeit, die durch Fasten und Kasteien ihre Triebe im Zaum halten, spüren die Regungen und den Aufruhr der Sinnlichkeit nur allzu stark. Sollte das vielleicht der Fall des jungen, strengen Mannes sein, den der Herzog jetzt aus seiner Abgeschiedenheit holte und in die freie Welt, in die Welt des Befehls und der Verantwortung stellte? Mit solchen Fragen und auf wahre Innerlichkeit gespannten Erwartungen treten wir in den zweiten Akt ein, in dem nun sofort Angelo als Hauptperson dasteht. Bei einem Aufbau, wie ihn Shakespeare hier gewählt hat, daß eine Person inmitten des Dramas agiert, deren letztes Wesen und Geheimnis noch unbekannt bleibt und erst später enthüllt wird, könnte es eine Schwierigkeit für den darstellenden Künstler sein, daß er von allem Anfang an einen ganzen Menschen hinstellen muß, während wir nach der Absicht des Dichters noch im Unbestimmten bleiben, das Ganze noch gar nicht durchschauen sollen. Hier ist das keine ernste Schwierigkeit, weil Angelo, das sehen wir jetzt sofort und er sagt es überdies selbst, solange er’s irgend vermag, nicht in seiner privaten Menschlichkeit unter die Leute geht, sondern in der Rolle seines Amtes. Wie es mit ihm bestellt war, als er noch in seinem Wiener Palast sein strenges, privates Leben führte, ob auch da die Sittenstrenge ein Gewand war, das er aus Pflicht oder sonst einem Grund über seinen Menschen streifte und nicht auszog, das wissen wir nicht. Jetzt aber ist er vom Herzog mit dem Amtscharakter bekleidet worden; den trägt er, den hat er darzustellen, das ist seine Aufgabe im Staat, dagegen darf nichts aufkommen. Und das eben wird in dem Drama vorgeführt, wie der zurückgedrängte Mensch Sieger über die Rolle wird. Selbst wenn das nicht ein so wundervolles Motiv wäre, das unser aller Leben, das im Haus und das auf dem Markt, aufs nächste angeht, so wäre es immerhin erstaunlich, daß das Theater sich diesem Stück trotz manchen Versuchen in Wahrheit noch heute verschließt, einem Stück, in dessen Mitte das Problem steht, das den Schauspieler in seiner innersten Menschheit angeht: der Konflikt zwischen der Rolle, die ein Mensch annimmt, und dem von dieser Rolle unterdrückten Triebleben, das, während die Amtsperson ihre Rolle agiert, eben in der Betätigung des Amtes herausgekitzelt wird. Escalus, der alte weise Mann, den der Herzog Herrn Angelo als nächsten Berater unterstellt hat, bittet für den mit dem Tod bedrohten Claudio. Da der Fall ihm arg ans Herz greift -- er hat Claudios und Isabellas Vater gekannt und verehrt --, wird er sehr warm, und es fügt sich natürlich, daß er Herrn Angelo sagt: Kein Zweifel gegen Eure strenge Tugend; aber bedenkt doch nur, um welches Vergehen es sich handelt, besinnt Euch auf Euch selbst; hätte sich die Gelegenheit günstig und verführerisch erwiesen, hättet Ihr nicht denselben Fehler begehn können? Das ist menschlich gefragt; was Herr Angelo zur Antwort gibt, ist in großer Art unmenschlich und heißt nichts anderes als: Richtet euch nach meinen Worten und nicht nach meinen Taten, und noch viel weniger nach Trieben, Gelüsten und Regungen meiner Natur. Was Angelo hier, in Vornehmheit und Amtswürde eingehüllt, ohne mit der Wimper zu zucken, ohne über seine Natur das geringste zu verraten, verkündet, ist weder Tartüfferie noch Heuchelei zu nennen. So viel ist jetzt schon sicher, wo wir den Mann immer noch von außen abtasten: eine solche vereinfachende Karikatur wie den Tartuffe hat Shakespeare mit diesem Herrn Angelo nicht dargestellt; eher könnten wir darauf gefaßt sein, daß das, was Molières elende Psychologie als Heuchelei des isolierten Individuums gegeben hat, von Shakespeare in seinen gesellschaftlichen Zusammenhang eingefügt wird. Angelos Erklärung, Recht müsse Recht bleiben, auch wenn unter den zwölf Geschworenen, die einen Dieb verurteilen, einer oder zwei sitzen, die ärgere Diebe seien als der Beschuldigte, seine Erklärung, der Richter habe das Gesetz anzuwenden, ohne an seine eigene Natur, an seine eigenen verbrecherischen Triebe auch nur zu denken, diese Losung, die wir nannten: Richtet euch nach meinen Worten und nicht nach meinen Taten, -- das ist in Wirklichkeit die Losung jeglicher Kirche, worunter hier jede Organisation zu verstehen ist, in der fehlbare Menschen die Hüter und Rächer eines Idealismus sind. Es geht in dieser gewaltigen Komödie nicht um so eine vom primitiven, abkürzenden, verleumderischen Denken erfundene Figur wie den Tartuffe, mit der man die Lacher aller Stände mit Ausnahme des jeweils betroffenen immer auf seiner Seite hat, sondern es geht um dieses Grundproblem der Kirche, der Schule, des Staats und seiner Rechtsordnung, um ein Problem von unendlicher Erhabenheit und unendlicher Komik, um ein Problem, das immer wieder neu ersteht, solange der Pfarrer in der Sakristei den Talar über den bürgerlichen Anzug streift, unter dem sein nackter Leib sitzt, solange der Richter in der Robe sich zur Frühstückspause zurückzieht, solange es in unsern Menschengesellschaften Bacons Idole gibt, an welche man hier, ohne vor den törichten Schlußfolgerungen der Baconianer Angst zu haben, sachlich zu erinnern hat[1]. Ehe wir Herrn Angelo wegen der These, die er hier verficht, einen Heuchler nennen, wollen wir uns besinnen, ob wir nicht wie er in unsrer Maske stehn, wenn wir als Vater oder Mutter mit unsern Kindern, als Kaufmann mit unsern Kunden, als Offizier mit unsern Soldaten, als Arzt mit unsern Patienten, als Mann mit der Frau, als Mensch mit Menschen, ja sogar als einzelner mit uns selbst und unsern Bedürfnissen zu tun haben. Vielleicht verstehen wir jetzt besser, was es mit dem Problem auf sich hat, das Shakespeare hier behandelt, und mit der Behauptung der Prüderie, dieses Problem könne und dürfe bei uns nicht komisch behandelt werden, das Problem nämlich des Zusammenstoßes zwischen Geschlechtsleben und Rechtsordnung. Vielleicht verstehen wir jetzt besser, warum es grade die Grundnatur des Tiermenschen, das Geschlecht ist, mit dessen Regulierung sich hier der Fürst und oberste Richter zu beschäftigen hat. Vielleicht verstehen wir jetzt auch schon, warum in diesem Stück die niedrige Sphäre der Hurenwirte und Kuppelknechte einen so breiten Raum einnimmt, verstehen, warum hier auch der niedrigste Standpunkt der Kritik an diesen Regulierungen des Staates zu Wort kommt, so, wenn zum Beispiel der Kuppelknecht, der den pompösen Namen Pompejus führt, bei den neuen Maßnahmen und Verfolgungen erstaunt fragt: Soll die ganze Jugend in der Stadt kapaunt und wallacht werden? Und wie das verneint wird, begreift er gar nichts mehr; braucht man denn nicht Freudenhäuser oder so ähnliche Anstalten, solange es lockere Buben und liederliche Dirnen gibt? In der Tat ist das Geschlechtsleben von allen Grundtrieben des Menschen bei weitem der geeignetste, um auf der Bühne mit der Maske der Gerechtigkeit und Hoheit konfrontiert zu werden. Ein Zeichner kann eine komische Wirkung schon erzielen, wenn er einen Priester den Talar hochheben läßt, um, sagen wir, einen Floh zu fangen; oder wenn er einen Monarchen in seinem Ankleidezimmer im Hemd zwischen den Uniformen seiner verschiedenen Regimenter und Feldherrnstellen im In- und Ausland zeichnet; eminent komisch wirkt es, wenn wir etwa in einem Briefe Mirabeaus lesen, die Abgeordneten der Nationalversammlung hätten eine Sitzung in einem entscheidenden und kritischen Moment unterbrochen, weil sie das Bedürfnis verspürten, zu pissen; aber alle solche natürlichen Bedürfnisse und Verrichtungen, auch das Essen und Trinken, haben nicht annähernd eine so seelische Weite wie das Geschlecht, das in seiner Verbindung mit Wildheit, unbezwingbar Leiblichem und erschütterter Innigkeit das Tierische in uns mit der Phantasie und dem Geiste in nächste Beziehung bringt, das vor allen Dingen durch seine Polarität das Element des Dramatischen schon in sich trägt. So daß mich dünkt, Shakespeare hätte sich auf das, was aus dramatischen und eminent wichtigen ethischen und sozialen Gründen auf unsre Bühne gehört und in höchst bedeutendem Sinne komisch zu behandeln ist, besser verstanden als seine Kritiker. Irgend etwas muß in Angelo leben, was ihn zu der unnahbaren Pose des Monarchen, der die staatliche, schon fast die göttliche Gerechtigkeit zu repräsentieren hat, besonders geeignet macht; und der Herzog muß es bemerkt haben. Aber ein andres -- oder ist es das selbe? -- lebt noch dazu in ihm, was die Grenze der Strenge bis zur Härte, bis zu einer fast wilden Grausamkeit hin überschreitet. Von dem Verhör der armseligen Kupplergesellschaft wendet er sich schließlich wie ein Gelangweilter ab und kann den Wunsch nicht unterdrücken, es möchte sich Grund finden, alle miteinander auszupeitschen. Mild und klug, als ein Mann, der in seinen hohen Jahren es noch nicht aufgegeben hat, mit Warnungen, Verweisen, bedingter Strafandrohung zu arbeiten, zeigt sich dagegen Escalus. Aber er, so will es für diese Zwischenzeit der Prüfung der Herzog, darf der Gerechtigkeit, sagen wir besser, der Justiz, nur dienen; Angelo ist ihr Herr. Zu diesem Herrn des Rechts, der schon auf den nächsten Tag die Hinrichtung Claudios verfügt hat, kommt nun, um den Starren zu beugen, die angehende Nonne Isabella, des Verurteilten Schwester. Himmel und Welt treffen da auf einander, Welt in den beiderlei Formen von Staatsregiment und privatem Libertinismus. Furchtbar ist es diesem herben, keuschen Mädchen, daß sie für eine Sünde eintreten muß, die ihr vor allen verhaßt ist; so sind in diesem Zwiegespräch, das nun anhebt, die Rollen verteilt: Isabellas Natur sträubt sich gegen alles, was mit geschlechtlicher Unordentlichkeit im geringsten zu tun hat, sie hat aber, aus Liebe zu ihrem Bruder, das Amt übernommen, ihn zu erretten; Herr Angelo hat das Amt, ihn zum Gericht und zum Tode zu bringen; wie steht es mit seiner Natur? Was sagt die dazu? Isabella hebt damit an, daß sie bittet, die Schuld und den Schuldigen zu trennen; die Schuld soll verdammt werden, nicht ihr Bruder. Schwächer könnte sie’s nicht beginnen; aber auch nicht gefährlicher für sich selbst; denn was geht es den Hüter des Rechts an, daß der Verurteilte eine Schwester hat? Lenkt sie nicht in ihrer Verlegenheit, in ihrer Scham sofort den Blick auf sich? Und tut sie übrigens damit nicht das, was ihr verzweifelter Bruder und sein leichtfertiger Freund Lucio von ihr erwarteten? Wenn Claudio meinte: Ihre Jugend Spricht sprachlos eine wirkungsvolle Mundart, was kann er andres gewollt haben, als daß sie mit ihrem Persönlichen durch die starre, stachlige Hecke des Rechts hindurch auf die Person Herrn Angelos wirken solle? Wie schön wäre das, wenn die reine Menschlichkeit der Jungfrau alle Überzüge, Decken, Masken und Kostüme der Wortsysteme entfernte und zur reinen Menschlichkeit des Fürsten durchdränge? Aber ist das, in dieser Situation, unter Menschen, wo ein Menschliches ganz andrer Art dazwischen steht, zu erwarten? Wird es vielmehr nicht dahin kommen, daß Mensch von Mensch, wie sie jetzt getrennt sind durch das trotz allem ideale Gestrüpp des Rechts, nach dessen Entfernung noch viel tiefer getrennt sind durch das, was sich statt dessen zwischen ihnen erhebt und sie zusammenwerfen will? Das ist die Frage, vor die wir jetzt gestellt sind; und um dieser Frage willen ist das Stück so gebaut, daß wir Herrn Angelo nicht kennen, nichts von seinem Wesen, nichts von seinem Leben. Auf diese Anforderung Isabellas, die Schuld zu verdammen, aber nicht den Schuldigen, hat der Mann des Strafrechts leicht antworten. Die Schuld zu verdammen, einmal für alle, dazu ist das Gesetz da. Er hat gerade das Amt, das Gesetz anzuwenden, ohne Ansehen der Person, auf die Personen, die es übertreten. Isabella, der ihre Rolle über die Kraft, so ganz gegen die Natur geht, sieht es seufzend ein und will gehen. Lucio hält sie zurück, ermahnt sie, flehentlicher zu sprechen; erinnert sie, daß es ums Leben geht. Das bringt sie zu größerer Klarheit, was hier ihres Amtes ist; sie darf nicht mit dem Wahrer des Rechts rechten, sie hat um Gnade zu bitten. Das aber ist ein Punkt, wo irgend etwas in ihm ganz besonders empfindlich getroffen sein muß; er scheint sich noch fester in den Mantel der Justiz einzuhüllen, ehe er schroff zur Antwort gibt: Ich will’s nicht tun. Kaum, daß er als Mann, der sich eifrig, eifersüchtig an die Wahrheit hält, anderes sagen kann. Er ist ja nicht bloß der oberste Gerichtsherr; ihm ist in vollem Maße, ohne Einschränkung, auch die Gnade anvertraut worden. Das entnimmt sie, die, wir merken es mehr und mehr, eine der Frauen ist, die den Geist haben, der ihrer schönen Natur gewachsen ist, seiner kurzen Abweisung sofort; sie wird wärmer, weil sie nun am rechten Ort ist, und fragt, stellt fest, er könne also Gnade üben, wenn er nur wolle. Das rührt nun wieder an ein ungeheures Problem, an kein geringeres als das der Willensfreiheit. Herr Angelo hat in seinem Leben offenbar Gründe genug gehabt, sich mit ihm zu beschäftigen; und der Rigorist hat es in seiner Art gelöst: Was ich nicht tun will, seht, das kann ich nicht. Was hilft da alles Zureden? heißt diese Antwort, aller Versuch, ihn umzustimmen? Er kann doch den Willen nicht haben, den Schuldigen zu begnadigen. Während wir aber dieser Dialektik zuhören, achten wir noch auf etwas andres, kaum Merkliches. Der Mann, der da cäsarisch als Fürst steht, ist kurz, schneidend, schroff, sachlich in seinen Antworten bei dieser Audienz; er will seine Schuldigkeit tun, die Fürbitte zu hören, nichts weiter. Da fällt es auf, wie er allmählich ein ganz klein wenig weicher, wie auftauend wird; mal fügt er als Anrede das Wort „Mädchen“ in eines seiner knappen Sätzchen ein; mal mildert er eine Schroffheit, indem er „~look~“, seht her, dazu sagt. Man könnte wohl einwenden, das seien kleine Flickworte des Versdichters; aber da kennte man den Shakespeare dieser Stufe schlecht! Bei einer solchen Szene ist jedes Wort erwogen und steht kein Wort umsonst; und so sind wir an dieser Stelle schon ahnungsvoll gespannt, was sich weiter mit seiner Menschlichkeit begeben wird. Und siehe da! Gleich bei seiner nächsten Replik ergibt sich zur Evidenz: der Mann ist verwirrt, er ist nicht mehr ganz verwachsen mit seiner Rolle, etwas in ihm fängt an, den Mann von dem Gewandträger loszulösen und einen Spalt zu eröffnen. Denn diese Antwort: Er ist verurteilt; ’s ist zu spät, hätte er in normaler Gemütsverfassung nie geben können; so weit kennen wir den gegen sich selbst viel mehr noch als gegen andre harten und gewalttätigen Mann nun schon aus Schilderungen und aus seinem eignen Auftreten. Von der Gnade ist jetzt die Rede; er kann es nicht vergessen haben; und für Gnade ist es niemals zu spät. Isabella merkt auch sofort, daß da so etwas wie eine nachgiebige Stelle ist; jetzt erst läßt sie ihre schöne Menschlichkeit in ihr bitteres Geschäft, sie wird warm, lebhaft beseelt. Sie weiß ja, fühlt ja im Innersten, daß die Gnade, die menschliche Nachsicht mit der wahren Menschheit, wie sie in ihr selber lebt, mehr zu tun hat als das starre Recht. Sie spricht als eine Liebende; Eros redet aus ihr; und sie, die Strenge, Züchtige, Herbe, beinahe schon Nonne, ahnt nicht, wie der Eros und das Geschlecht bei dem einen aufs feinste, bei dem andern aufs gröbste und leidenschaftlichste beieinander wohnen, sie ahnt nicht, was sie in dem Manne erweckt, dem sie mit ihren kühnen, beflügelten, erwärmenden Worten, mit der ganzen Bewegtheit ihrer Seele, die aus Augen und Mienen und Haltung zu ihm hinüberstrahlt, das Amtskleid herunterreißt! Sie will die Liebe, die Gnade darunter zeigen, wenn sie sagt: Seid gewiß, Nicht festliches Gepräng’ und große Herrn, Nicht Königskrone noch Statthalterschwert, Des Marschalls Stab, des Richters Amtsgewand, Nicht geben die nur halb so schönen Schmuck, Wie Gnade gibt. Irgendwie wird auch in ihr selbst in dem Grade und in der Art, wie es der keuschen Seele ziemt, damit, daß sie das so sagt, eine Hülle dünner, die das Geschlecht von dem Geiste des Eros in ihr trennt, und sofort findet sie die Brücke von ihrem Appell an die Gnade zu der Betrachtung: Wie bist du Mann denn eigentlich selbst in deinen Regungen? Wär’ er wie Ihr, und wäret Ihr wie er, Ihr wärt wie er gestrauchelt, doch nicht wär’ er Wie Ihr, so finster streng. Das trifft; diese Betrachtungen liegen dem Mann des Determinismus nahe genug; und vielleicht hat er auch sonst in seinem Inwendigen Gründe zu solchen Erwägungen, der Heilige? Aber heute hat er ganz Ähnliches schon einmal gehört, von Escalus, und da hat er scharf und trefflich erwidern können, ganz in der Hoheit des Amtes und der Ideologie: Nicht dürft Ihr sein Vergehn drum schmälern, weil Auch ich ja fehlen könnt’, nein, lieber sagt mir, Wenn ich, der ihn bestraft, mich so vergehe, Mein eigner Spruch sei dann mein Todesurteil. Was aber weiß er jetzt zu erwidern? Er sagt: Ich bitt’ Euch, geht nun, sagt es dumpf, als handle es sich um etwas für ihn Persönliches, was er fast nicht mehr aushalten könne. Sie aber wird davon, von diesem Hauch des Verstehens, der von ihm zu ihr geht, nur kühner, sie ist jetzt mit Feuereifer, mit Hingegebenheit, mit Größe bei ihrer Sache. Erst zeigt sie ihm, was sie für ein ganz andrer Richter an seiner Statt wäre, wenn er als Isabella vor ihr stände; sie kann nicht ahnen, was sie mit dieser Vertauschung in dem wüsten Manne anrichtet, der bei dieser Vorstellung fast zurückweicht; Lucio, der mit dem Kerkermeister dabei steht, merkt es wohl. Sie aber ist eine so reine himmlische Seele und lebt so in den innigsten Vorstellungen ihrer Religion, daß sie von diesem Gedanken, sie wäre Richter, sofort wieder zur Gnade übergeht, die seinen mechanisch stereotypen Einwand, das Gesetz habe gesprochen, fortweist. Und wieder, von noch höher oben, erinnert sie ihn: Bist nicht auch du ein Sünder? Ähnlich ihrer Schwester Porzia, aber christlicher getönt, wie es der Novizin natürlich ist, ruft sie ihm in die Seele hinein: Wie? Was an Seelen war, das war verfallen, Und er, dem Fug und Grund zur Strafe war, Fand noch Vermittlung. Was wohl würd’ aus Euch, Wollt’ er, der Allerhöchste des Gerichts, Euch richten, wie Ihr seid? Während sie so sprach, dadurch, daß sie so sprach, ist viel, ist Großes, ist fast schon Entscheidendes in ihm vorgegangen. Irgend einer in ihm hat einer Stelle in ihm eine Erlaubnis gegeben; etwas ist losgelassen worden. Er wird aufgeräumt, zutraulich, freundlich, und -- oh über uns seltsame Menschenkinder! über das absonderliche Verhältnis in uns zwischen Trieb und Geist! -- gerade dadurch, daß er da drunten irgendwo den Mann der Erhabenheit, den Mann im Amtskleid verrät und dadurch freier wird, ein Erlöster in ganz anderm Sinn, als die Christin jetzt eben dies Wort an sein Ohr klingen läßt, grade dadurch kann er die Sache seines Amtes jetzt wieder besser, jetzt wieder mit trefflichen Gründen verteidigen. Er ist nicht mehr starr und zugeknöpft; „schönes Kind“ sagt er zu ihr, und wie sie denn wieder, jetzt gar nicht mehr widerstrebend, im Feuereifer ihrer Rolle, der sie so sehnsüchtig Erfolg wünscht, von den „Vielen“ spricht, die dasselbe getan wie ihr Bruder, da doziert er ihr mit offenbarer Freude, wohlgefällig und mit vorzüglicher Beherrschung der Sache seine Theorie des Strafrechts: Nicht tot war das Gesetz, wiewohl es schlief. Die ‚Vielen‘ hätten nicht gewagt den Frevel, Wenn gleich der erste, der die Vorschrift brach, Gebüßt hätt’ seine Tat. Und wie sie ihn von dem starren Recht abbringen will und sein Mitleid anruft, da fährt er gewandt, elegant, beredt und grausam fort, Mitleid erweise er am meisten, wenn er Gerechtigkeit erweise: Denn Mitleid zeig’ ich dem, den ich nicht kenne, Den die erlaßne Schuld einst schäd’gen würde, Und tu’ dem Recht, der, büßt er ein Vergehn, Ein zweites nicht erlebt... Das alles ist für Isabella, an der wir mit immer innigerer Freude die schöne, seelen- und geistvolle Natur entdecken, unbegreiflich unmenschliche Überhebung und Pose; so ein kleiner Mensch will den strafenden Gott spielen, wo Gott selber lieber für unsre Sünden den Martertod erlitt, als daß er strafte! Oh, es ist herrlich, Zu haben Riesenkraft; doch ist’s tyrannisch, Zu brauchen sie als Riese! Sie fühlt sich ihm nun, ohne zu ahnen, wieso der Machthaber einschrumpfte und der Mensch vor ihr wie in Fesseln kam, überlegen; es kommt wie Glück, wie Heiterkeit über sie; und mit der Vorwegnahme des Gefühls, sie könne ihren Bruder retten, fällt von ihr das Christelnde ab; sie wird weltlich, witzig, heidnische Vorstellungen, in denen sie in der gebildeten Sphäre ihres edeln Vaters aufgewachsen ist, werden von Angelos Theorie des gestrengen Rechts, nach dem jeder für seine Taten büßen muß, damit andre sich von ihnen abschrecken lassen, erweckt: Wenn Große donnern könnten, Wie Zeus es selbst kann, Zeus fänd’ nimmer Ruhe, Denn jedes winzige Beamtlein würde Aus seinem Himmel donnern, nichts als donnern! Sie erkennt, sie durchschaut den Mann, der jetzt selbst wie niedergedonnert kläglich vor ihr steht, wäre sie gleich erschrocken, wenn ihr einer von einem Wissen in ihr spräche, von dem sie in der obern, oberflächlichen Region unsres Geistes nichts weiß. Sie redet von dem Hochmut des Menschen; und in dem ~man, proud man~ klingt noch etwas anderes, klingt das spezifisch Männische in dem herrschenden Menschen an; von der armseligen autoritären Gewalt redet sie, von der gläsernen Gebrechlichkeit dieses Herrschaftsmannes, der sich wie ein wütiger Affe aufspielt, -- sie weiß und weiß nicht, was sie dem Manne da vor ihr, da unter ihr sagt. Er wird ganz verwirrt, weiß gar nichts mehr zu sagen, schweigt und stammelt schließlich beinahe die Frage, wozu sie ihn mit all den Worten überhäufe; und sie nimmt herzhaft ihre ganze Kühnheit zusammen und schneidet mit großem Zuruf den Würdenträger vom Menschen ab: Greift in den Busen, Klopft an und fragt Euer Herz, ob nichts drin wohnt, Gleich meines Bruders Fehl. Wenn’s nur bekennt Natur_trieb_, so zu sündigen wie er, So tön’ auf Eurer Zunge auch kein Laut Von meines Bruders Tod. Nönnlein! Nönnlein! Nur allzu gut ist dir geglückt, was du da unternahmst! Isabella hat Herrn Angelo mit diesen Worten, mit all ihrem schönheitsvollen, seelenberauschten Wesen das Amtsgewand heruntergezogen; aber der Arme, der Gepeinigte, der Peiniger seiner selbst! Darunter ist, meint er, nicht die seelenvolle Güte und Gnade, sondern der nackte, pochende, fiebrig gierende Leib. Wir aber, die wir ihn besser kennen, als er sich selbst, dürfen vorwegnehmend sagen: der Mann, der so lange den kalten Juristen sich und der Welt vorgespielt hat, der strenge Mann, der sich selbst vergewaltigt, der seine Triebe unterdrückt hat, der vielleicht von einer Gewissensschuld erdrückt wird, die er weit aus dem Gedächtnis verbannt, der nimmt da etwas für Brunst, für wütende, unwiderstehliche Geilheit, was seelische Innigkeit, was Mitfreude wäre, wenn er seine gute Natur nicht verfälscht und verwandelt hätte. Kaum ist sie weg -- denn sowie er die Sinnlichkeit deutlich in sich hochsteigen fühlt, schickt er sie eilends fort, morgen soll sie wiederkommen, er flieht vor ihr und vor sich selbst, indem er sie für heute entläßt, aber -- wie vielfältig ist der Mensch! -- heute sind auch Zeugen bei der Unterredung, morgen werden sie wohl allein sein -- da bekennt er sich, da fragt er sich staunend: Ist es möglich denn, Daß Sittsamkeit mehr unsre Sinne aufrührt Als Weiberlockung? Es ist nur möglich bei Gewaltsmännern gleich ihm, die so anfällig sind, daß sich in ihnen die wunderzarte Erotik, die bei jeder Seelenfreude, Seelenbewegtheit auch das Geschlecht leise rege macht, in tobende Sucht verwandelt. Er wehrt sich, wehrt sich mit gewaltiger Anstrengung, hält sich ihre Reinheit, ihre Tugend, ihre Himmelsart vor, aber gerade damit, daß er ihre Seelenschönheit und den Ausdruck, den sie im bewegten Leibe findet, vor seine verwahrloste und verderbte Phantasie stellt, wird sein schmerzlich-begehrender Überwältigungstrieb zu diesem Weibe hin immer ärger. Dieses Gespräch zwischen Angelo und Isabella ist von dem zweiten, das, wir fühlen es voraus, entscheidend sein wird, nur durch eine kurze Szene getrennt, die uns in unsrer erwartungsvollen Erregung eine Trosteshoffnung bringt: der hinter alledem steht, der diese Zwischenzeit der Prüfung gewollt und so ähnliche Ereignisse vielleicht gar vorhergesehen hat, der Herzog ist als Mönch in dem Gefängnis eingetroffen, in dem der junge Claudio auf seinen Tod wartet, und versteht sich gut mit dem braven, menschenfreundlichen Kerkermeister. Und dann sind wir wieder bei Herrn Angelo. Er erwartet Isabella; er möchte beten, aber Isabellas Gestalt tritt zwischen ihn und Gott; er will sich an den Staat, dem sonst all seine Gedanken gelten, anklammern, aber mit einem Mal, zum ersten Mal, findet er diese Beschäftigung langweilig und abgedroschen. Sonst streckte er sich stolz in Amt und Würde hinein und stand aufrecht und -- er bekennt es sich -- eitel in dieser Figurine da; jetzt sieht er ein: Rang und Form sind äußre Schale und Gewand, doch Blut bleibt Blut! Isabella, die nun bei dem Gepeinigten eintritt und gleich wieder als „schönes Mädchen“ begrüßt wird, hat am Tag zuvor alles gesagt, was sie irgend weiß; sie ist wieder herb und spröde geworden; und wie sie aus Angelos ersten, gepreßten Reden entnimmt, es müsse beim Todesurteil bleiben, wendet sie sich zum Gehen. Er hält sie aber auf, zunächst mit einem furchtbar heftigen Ausbruch, äußerlich gegen das Laster, das ihren Bruder zur Verdammung gebracht hat; er braucht aber diese leidenschaftlich aufwallende Rede, einmal, um seine eigne Glut irgendwie herauszulassen, dann, um mit dem Inhalt dessen, was er sagt, eben diese seine Wildheit in gewalttätiger Unterdrückung zu zähmen. So schäumt er gegen die unsaubere Lust, die das Standesamtsregister des Staates bastardiert, die Akten fälscht, das Leben der Neugebornen fälscht und in unheilvolle Bahnen lenkt; solche Zeugung ist nichts Bessres als Mord! Für staatsrechtliche und gesellschaftliche Argumente der Art, wie sie sein verzweifelter Kampf gegen sich selbst ihm aus dem bereiten Vorrat seiner Studien und Gesinnungen jetzt über die Lippen bringt, hat sie wenig Sinn; was ihr Bruder getan, ist ihr eine schwere Sünde vor Gott und eine Unordentlichkeit, die ihr widerwärtig ist; kein Verbrechen, das auf Erden, dem Staat gegenüber, mit dem Tode gesühnt werden müßte. Bei diesen ihren Worten jubelt es in ihm; sie wird also zu gewinnen sein, sagt er sich; er gibt den Kampf gegen sich auf und geht zum Kampf gegen sie, zu seiner Art der Werbung über. Ganz erbarmenswürdig, ganz erbärmlich geht er da vor; er denkt nicht daran, sein Begehren nach ihr nun vor allen Dingen loszulösen von dem Fall ihres Bruders; er denkt nicht daran und versteht es nicht, sich bei dieser Frau liebenswert zu machen; seine Gier kann er nicht trennen von der Situation, durch die sie ihm, wähnt er, verfallen ist. Haben, erobern, besitzen will er sie, da in ihm Gewalt des Triebs hämmert, mit Gewalt; die Gewalt des Triebs setzt sich bei diesem Mann, der darin geübt ist, den Trieb durch den Geist zu unterdrücken, jetzt, wo er ihn loslassen will, zur Vermittlung in Logik um. Das ist sein Instrument; raffinierte Manneslogik soll ihm zur Vergewaltigung, zu nicht viel Besserem als zur Notzucht dienen; in ein Dilemma, in diese gespreizte Gabel der Logik will er sie hineintreiben. So legt er ihr zunächst die Frage vor, was ihr lieber wäre: daß ihr Bruder stürbe oder daß sie ihren Leib derselben lustvollen Unsauberkeit hingäbe, wie jenes Weib, das ihr Bruder befleckte? Sie ahnt nicht im entferntesten, was der Mann, den sie nun als starren Theoretiker schon kennen gelernt hat, mit der Abschweifung will, und erwidert zerstreut, aus frommer Gewöhnung heraus, den Leib würde sie gewiß eher geben als die Seele. Er antwortet ungeduldig; mit greulich dummer Brutalität versteht er so, als meine sie, eine beseelte Liebe, die zu solcher Sünde führe, wäre ihr ärger als die Preisgabe des Leibes selbst; und zu ihrer Beruhigung sagt er, die Seele könne ganz aus dem Spiele bleiben; es handle sich um eine pure Zwangslage. Sie versteht nicht, und er will jetzt ganz deutlich werden: Darauf nur gebt Antwort: Ich, jetzt der Mund des gült’gen Rechtes, fälle Ein Urteil über Eures Bruders Leben; Wär’ etwa nicht Barmherzigkeit die Sünde, Die Euren Bruder rettete? Entzückend, wie sie nicht im entferntesten versteht, was er meint, ganz sicher aber ist, recht zu verstehen; ja, er will barmherzig sein! Und eifrig, beglückt versichert sie ihm, das wäre keine Sünde, solche Gnade sei nur Barmherzigkeit. So geht es nun noch eine Weile mit dem Mißverstehen hin und her; der elende Tropf wird ärgerlich und redet grob, wie er wohl in schlechter Laune als Untersuchungsrichter mit einer unlogischen oder schlauen Angeklagten umgegangen wäre; und so legt er ihr denn knappe, ganz klare Fragen vor, um ihr jeden Ausweg zu verrammeln. Der Bruder muß sterben; das Gesetz spricht klar dieses Urteil. Das muß sie zugeben. Nun aber, wo er ihr bedeuten will, wie der Bruder noch zu retten sei, hindert ihn doch die Scham, direkt herauszureden; er setzt einen Fall, wie aus der Moralkasuistik. Gesetzt den Fall, der Bruder wäre vom Tod nur zu retten durch einen Mächtigen oder Einflußreichen; und „dieser Supponierte“ stellte zur Bedingung, daß sie, die Schwester, ihm ihren Leib preisgäbe; was würde sie tun? Die Frage ist nun klar; nur daß sie noch immer keine Ahnung hat, warum er so fragt. Sie zögert keinen Augenblick mit ihrer entschiedenen Antwort. Wo’s um die Tugend geht, die von Seele und Züchtigkeit geboten wird, ist sie so fest bis zur Härte, wie er’s bis vor kurzem war, wenn sich’s um die Tugend handelte, wie sie Staat und Gesetz vorschreiben. Nur daß in der edeln Frau die Tugend keine Idee, sondern zur Natur gewordene seelische Notwendigkeit ist, während im Mann -- selbst wenn ihm, wie Herrn Angelo, Adel nicht fehlt -- die Staatsidee immer eine kahle Sache der Überlegung und des Verstandes bleibt, die sich gegen ursprünglichen Naturtrieb niemals behaupten kann. Was sie tun würde? Qualvoll sterben würde sie lieber -- für ihren Bruder wie um ihrer selbst willen --, ehe sie den Leib der Schmach gäbe. Viel besser, daß ein Bruder einmal sterbe, Als daß, ihn frei zu kaufen, eine Schwester Auf ewig stürbe. Er gibt es noch nicht auf, sie mit Theoretisieren zu fangen. Aber sie ist jetzt, in der Wallung des Zorns bei der bloßen Vorstellung solchen Schimpfs, wieder glühend geworden und repliziert schlagkräftig. Er möchte ihre Härte erweichen und meint grob aufmunternd: Gebrechlich sind wir alle! sagt es aber nicht entschuldigend für Claudio, nicht einmal so recht für sich selber, sondern für die Weiber. Da gibt sie, und wundervoll wirkt in dieser Situation die unschuldige Lebhaftigkeit ihres Geistes, auf dieses sein Wort: Nein, auch die Weiber sind gebrechlich! zur Antwort: Ja, wie der Spiegel, drin sie sich beschaun, Der so leicht bricht, wie er Gestalten formt. Das Weib! -- Weiß Gott, der Mann entwürdigt sich, Nutzt er _den_ Vorteil! Nennt uns zehnmal schwach, Denn wir sind sanft, so sanft wie unser Bau, Und trauen falscher Prägung. Jetzt glaubt der Mann, den die Vermengung des Triebs mit entartetem, willfährigem Verstand zum bösen, verrannten Narren gemacht hat und den dazu noch gerade bei diesem Bilde des schwachen, leicht verführten Weibes eine persönliche Erinnerung ermuntern mag, sie zu haben. Sie redet der Schwäche der Frauen das Wort; nun -- er faßt sich einen gewaltigen Mut -- wir Männer sind auch nicht stärker. Sie soll nur ein Weib sein; mehr tut gar nicht not. Und er wird deutlich genug, daß sie endlich verstehen muß, was er ihr anträgt. Erst will sie immer noch annehmen, er wolle sie prüfen; wie er dann aber „auf Ehre“ erwidert, es sei ihm Ernst, muß sie’s glauben. Kaum einen Augenblick verweilt sie, deren Sittsamkeit so rein wie ihr Denken schnell ist, bei der Schmach, die dieser Antrag ihr antut; ihr liegt bei dem ganzen Gespräch nichts im Sinn wie ihr Bruder. Jetzt, glaubt sie, muß er gerettet sein: sie scheut die Erpressung gegen den elenden Machthaber nicht: Gleich stell’ des Bruders Gnadenbrief mir aus, Sonst künd’ ich aller Welt aus lautem Hals, Was für ein Mann du bist. Ihm aber, der die Schwelle der Schamlosigkeit überschritten hat, ist nun keine Wahl mehr geblieben. Er kann nicht, er will nicht zurück; seine Gier läßt sich so nicht abweisen. Ihre Drohung schreckt ihn nicht; wer wird ihr denn glauben, wenn er’s abschwört? Solche Anklage gegen ihn, den Vertreter des Fürsten, dessen Ruf fleckenlos ist, dessen strenges Leben die Welt kennt? Einen Tag noch gibt er ihr Frist; bis dahin muß sie nachgeben; sonst stirbt ihr Bruder nicht den einfachen jetzt mehr, den martervollen, schweren, langsamen Foltertod. Damit verläßt er sie. Und sofort sieht sie ein: ihr letzter Versuch ist gescheitert; sie kann die Gnade nicht erpressen. Ihr Bruder ist zum Tode verurteilt; jetzt auch von ihr; um ihrer Ehre willen muß er sterben. Sie geht zu ihm, um ihm das zu sagen: er stirbt nicht mehr bloß für sein heißes Blut; er stirbt für die Reinheit seiner Schwester. Wiewohl sich alles um die Rettung dieses Bruders drehte, galt unser Anteil bisher viel mehr Herrn Angelo und Claudios Schwester, die ihn nun beide verurteilt haben. Jetzt, wo Angelo für lange zurücktritt, lernen wir Claudio kennen; durch den Konflikt zwischen Angelo und Isabella, der fürs erste in der Schwebe bleibt, ist, wir sehen es voraus, ein Konflikt zwischen den Geschwistern reif geworden. In dem Moment, wo der dritte Akt beginnt, stehen wir zwischen der physischen Möglichkeit und der psychischen Unmöglichkeit mitten inne: Claudio kann durch Isabella gerettet werden; er kann nicht durch sie gerettet werden. Der Vorhang geht auf; wir sehen den Herzog-Mönch bei dem zum Tod Verurteilten und sagen uns noch stärker als zuvor: Der aber, der wahre Fürst, wird ihn retten! Der Mönch bereitet den Gefangenen indessen zum Tod vor und spendet ihm die Tröstung keineswegs christlicher Verheißung, sondern allerbitterster pessimistischer Philosophie. Der Mann, der sich in den Tod finden soll, erfährt von dem erfahrenen, leidgeprüften Pilger durch sein Reich, was das Leben ist. Claudio, dessen Gemüt rasch bewegt und dem Moment unterworfen ist, ist für den Augenblick ruhig: Auf Leben hoff’ ich, bin gefaßt auf Tod. Da sagt der Mönch, und diese große Rede, die weniger auf den Tod vorbereiten als den Tod im Leben, die Abgeschiedenheit, lehren will, wollen wir ausführlich vernehmen: Seid’s unbedingt auf Tod. Tod oder Leben Wird dadurch süßer. _Redet so zum Leben_: Wenn ich dich lasse, lasse ich ein Ding, Dran nur ein Tor sich hängt. Ein Hauch bist du, Abhängig jeder Änderung der Luft, Wie sie die Wohnung hier, in der du weilst, Stündlich bedroht. Du bist des Todes Narr; Durch deine Flucht strebst du ihm zu entgehn, Und rennst ihm stets doch zu. Du bist nicht edel; Denn alles Angenehme, was du hegst, Stammt aus Gemeinem. Du bist gar nicht tapfer; Denn dir macht Angst das schmale Züngelchen Des armen Wurms. Dein bestes Ruhn ist Schlaf, Den suchst du täglich, doch dich schreckt dein Tod, Der auch nichts mehr ist. Du bist nicht du selbst, Denn du bestehst durch Tausende von Körnern, Aus Staub entsprossen. Glücklich bist du nicht, Denn was du nicht hast, strebst du stets zu fassen Und gibst auf, was du hast. Du bist nicht stetig, Denn deine Farb’ ist launisch wandelbar, So wie der Mond... Nicht Jugend und nicht Alter Hast du, nur gleichsam den Nachmittagsschlaf, Der beides träumt; all deine selige Jugend Tut wie bejahrt und bettelt lahme Greise Um Gaben an. Und bist du alt und reich, So fehlt dir Glut und Trieb, Gelenk und Schönheit, Des Reichtums froh zu sein. Was ist doch dies? Das Leben heißen darf? Birgt doch dies Leben Viel tausend Tode, -- und wir scheun den Tod, Der alles ausgleicht? Erst ist Claudio davon wunderbar besänftigt; dann aber, wie zum Mönch der skeptischen Resignation mit frommem Friedensgruß die Nonne in dieses Gefängnis dazukommt, wie die Lichte aber nicht die Erlösung bringt, sondern den Zweifel, da kommt die Todesangst über ihn. Ihr ist es notwendig, ihm alles zu sagen; keineswegs um ihm die Entscheidung zu überlassen; so lieb sie ihn hat, so sehr wir ihr glauben, daß sie ihr Leben an seine Rettung setzen würde, in dieser Sache gibt es keine Beratung und keine Wahl für sie. Sie will aber, daß er sie stützt, daß er jeden Gedanken an ihr Opfer verwirft; daß sein Tod jetzt einen Sinn bekommt: er soll wissen, daß er für seine Schwester stirbt. Mit dieser Absicht ist sie gekommen; jetzt aber, wo sie seine weichen Züge sieht, bangt sie im voraus vor dem, was nicht ausbleibt. Erst, wie er’s vernimmt, ist er entsetzt, daß sein strenger Richter so dastehn soll; dann sieht er ein, daß sie sich nicht preisgeben darf, und will sich in den Tod, vor dem jetzt keine Rettung mehr ist, finden. Aber es regt sich ein Sinnen in ihm; also dieser erhabene weisheitsvolle Mann ist doch auch dem Trieb unterworfen! Claudio wagt nicht zu sagen, kaum auszudenken, wie ihm von dieser Vorstellung, daß die Lust doch mächtiger sei als alles, die Gedanken von Angelo zur Schwester, von der Schwester, die nun über sein Schicksal verfügt, zu seiner eigenen Lebenslust irren. O Isabella! Mehr vermag er noch nicht als diesen Ausruf; und dann, immer noch wieder gebändigt und bedächtig, sinnt er vor sich hin: Sterben ist schrecklich -- Wie sie aber, schon in streng vestalischer Abwehrstellung, erwidert: Und schmachvoll Leben greulich, da, wo für ihn auf der einen Seite das Leben, sein Leben, steht, auf der andern -- ein Nichts, ein Wort, eine Tugend, von deren Notwendigkeit seine eigne Natur kein Wissen und keine Erfahrung hat, die ihm ein so kaltes Schema ist wie der Staatsgedanke, dem er geopfert werden soll, da wallt die Todesangst zu einem gewaltigen Ausbruch heraus. Vergessen auch alles, was der Mönch -- der, ohne daß die beiden es wissen, alles mit anhört -- Schlimmes an die Adresse des Lebens gesagt hat; nur leben, leben will Claudio, leben um jeden Preis! Er sieht das Grauen des Grabes vor sich, er ist in der Situation des Prinzen von Homburg, und ich zweifle nicht, daß Kleist, dem dieses Stück ja auch sonst so ganz besonders, so unsäglich nah gehn mußte, aus dieser Szene den Mut zur Fassungslosigkeit seines Prinzen geschöpft hat; geht Kleists Szene darin über Shakespeares hinaus, daß sein romantischer Prinz sonst von Natur und Gewöhnung in der Rolle des Helden steht, so ist wiederum Claudios Ausbruch insofern erschütternder, als dieser weiche Genießer nicht bloß die eigne Würde wegwirft, sondern die Schwester anbettelt, sie solle um seinetwillen sich in Schmach und Ekel stürzen: Ja, aber sterben! gehn, wer weiß, wohin, Daliegen kalt und reglos starr und faulen, Aus sinnbegabter, warmer Regsamkeit Verschrumpft zum Kloß; der Geist, noch lebensfroh, Getaucht in Feuerwogen, hingebannt In schaudernde Gefilde ew’gen Eises; Im Kerker unsichtbarer Sturmgewalt Rastlos gejagt rund um die schwebende Weltkugel; ja, noch Schlimmres als das Schlimmste Von dem, was zügellose Phantasie Sich heulend ausmalt -- gräßlich, schauderhaft! Die schwerste Last von Lebensmühsal hier, Was Alter, Armut, Schmerz, Einkerkerung Dem Menschen auferlegt, ist Paradies, Mit dem verglichen, was der Tod uns droht. -- -- -- O Schwester! laß mich leben! Was für des Bruders Leben du auch tust, Oh, die Natur rechtfertigt es so sehr, Daß es zur Tugend wird. Erst war die Schwester bei diesen apokalyptischen Bildern von den unausdenkbaren Schrecknissen, die der Seele im Tode warten, unnennbar erschüttert worden, ins Gewissen hinein; was kann den fühlenden Menschen schwerer treffen, als wenn er aktiv hilflos sein muß: wenn er physisch erretten könnte, aber angesichts bitterster Not in dem moralischen Entschluß steht, stehn muß, nichts zu tun? Wie Claudio dann aber seinen fassungslosen Jammer in diesen Anruf münden läßt, da schlägt all ihre Innigkeit in lodernde Empörung um. Über alle Grenzen setzt ihre Verachtung gegen diesen Wicht vor ihr, der um diesen Preis sein Leben erhandeln möchte. Sie spricht ihm endgültig das Todesurteil; sie kann ihn nicht retten; das wußte sie vorher; er verdient nicht zu leben; das empfindet sie jetzt und sagt es ihm. Da tritt der Herzog dazu. Was hat er gehört! Von all diesen Zusammenhängen, von seinem Statthalter Angelo! Die Probe lehrt, Wie sich im Machtbesitz der Schein bewährt. Er hat’s geahnt, als er das sagte; diese drei, Angelo, Claudio und Isabella, sind geprüft worden und haben ihr Innerstes, ihr Äußerstes gezeigt; über ihre Grenze gegangen sind sie -- alle drei. Nun ist’s höchste Zeit, einzugreifen, nach dem Rechten zu sehn und diese verirrten Menschenkinder zu ihrem Maß zurückzuführen. Angelo zwar -- das muß noch näher untersucht, muß sehr behutsam behandelt werden. Die entfernte Möglichkeit, daß er das Mädchen nur prüfen wollte, liegt immerhin vor; und sehr wahrscheinlich ist es zum mindesten, daß er sich so ausreden würde. Das Drama ist in den drei Gestalten Angelo, Isabella, Claudio und ihren Erlebnissen an einander bis zur Tragik gediehen. Nur das Vorspiel, nur die Gewißheit, daß wir in einer Zwischenzeit der Prüfung sind, und die Gestalt des Herzogs haben uns immer getröstet. Wie er jetzt mitten in den exzentrischen Überschwang der todesbangen Lebenslust und der lustverächterischen Tugend dazwischentritt, wie in die zum Höchsten gesteigerte Verssprache seine kluge, sichere Prosa hineinredet, da werden wir ganz ruhig, da biegt der Konflikt der von der Leidenschaft Fortgerissenen in das überlegene Spiel eines Weisen, die Tragik in die Komik um. Wir wissen, der Herzog hat Angelo schon lange beobachtet und hat Mißtrauen gegen seine Tugend gehegt; aber wir wußten nicht, daß er mehr von ihm weiß, als wir bisher erfahren haben. Jetzt, so spät in diesem Stück, dessen ganze Technik von allem Anfang an darauf angelegt ist, Herrn Angelo sehr allmählich und immer mehr die Hüllen zu nehmen, erfahren wir aus dem Gespräch des Herzog-Mönchs mit Isabella, was Angelo noch auf dem Gewissen hat. Wir haben gesehen, wie dieser Jurist, dieser Staatsheilige es seinem Intellekt erlaubt hat, seit langem die Triebe und die Seele zu vergewaltigen; jetzt hören wir das Schlimmste, was er sich und vor allem einem andern Menschen angetan hat. Er hat eine Braut gehabt; hat es elenden Verstandesgründen erlaubt, die Liebe zu diesem Mädchen, die er hegte, in ihm zu ersticken; hat diese Mariana um einer verloren gegangenen Mitgift willen sitzen lassen. Jetzt vereint der kluge Herzog, der Philisterbedenken nicht kennt, vielmehr seiner herrlichen Losung folgt: Tugend ist kühn und Güte niemals furchtsam, der Mönch flicht Claudios Todesnot, Angelos Brunst, Isabellas tapfere Tugend, Marianas Liebessehnsucht in eines: Isabella soll Angelo ein kurzes nächtliches Liebesbeisammensein bewilligen; Angelo soll, ohne es zu ahnen, statt ihrer Mariana umarmen: Damit ist Euer Bruder gerettet, Eure Ehre unbefleckt, die arme Mariana versorgt und der arge Statthalter entlarvt. Wären wir von vornherein in einem lustigen Spiel gewesen, wo dann aber von Anfang an Mariana dabei gewesen wäre, so wäre diese Lösung nichts weiter als ein höchst übermütiges Motiv. Nun aber, wo wir so zu teilnehmender Not hochgeführt worden sind, wo sich uns allmählich erst das Rätsel Angelo erschlossen hat, das für uns immer noch nicht ganz erklärt ist, von dem wir jetzt eben wieder Neues erfahren haben und auf dessen noch tiefere Ergründung wir gefaßt sind, nun ist uns diese plötzliche Wendung eine wahrhafte Erlösung. Der Dichter und sein fürstlicher Mönch schalten mit uns, als ob die strafende Rede, die dieser ans arge Leben gehalten hat, Wirkung getan hätte: das Leben ist in sich gegangen; seine bebende Not und Gefahr war nur Schein und Prüfung; alles, was wir da als Grauen erlebt zu haben glaubten, ist, wenn wir näher zusehen, gar keine Wirklichkeit, ist nur Spiel, sinnvolles Spiel, in dem sich die Bilder des Wesens tummeln. Und mit einem Sinnspruch in dem Bänkelsängerton, den Shakespeare liebt, wenn er die Naturgewalt der Tragik in das freie Spiel überleitet, faßt darum der Herzog-Mönch die vergangene und künftige Handlung zusammen und beschließt damit den dritten Akt. Und doch wäre es -- mit Goethe zu reden -- ein klattriges Motiv, welche Aushilfsrolle diese Mariana spielen soll, wenn der Dichter, der so meisterhaft von innen heraus komponiert, Mariana nicht bei ihrem ersten, späten Auftreten zu Beginn des vierten Aktes wie umlodert zeigte vom Feuermantel der Liebesglut, die, verschmäht, in sie zurückgeschlagen ist. Da verliert sich sofort der Eindruck, ein Menschenkind solle als Mittel dienen, dazu noch mit seinem Geschlecht; wir erleben, wie die Liebesvereinigung dieser Süchtigen eigenes, äußerstes Bedürfnis ist. Sie sitzt da, passiv, lechzend, wartend auf nichts; sie hört schmachtend zu, wie ein Knabe ihr ein Lied, ihr Lied, das Lied ihres brünstigen Verlangens und ihrer Verlassenheit vorsingt; eines der wunderbarsten Liebeslieder, in dem die ganze Wonne des Schmerzes, der ganze Schmerz der Brunst liegt; keine Übersetzung kann ihm Genüge tun: Weg, o weg die Lippen dein, Die so süßen Meineid schworen; Weg dies Auge, Funkelschein, Licht, das mir die Nacht geboren. Nur die Küsse bring zurück, bring zurück, Liebessiegel, falsche Siegel falschem Glück, falschem Glück! Es geschieht nun alles nach dem Plan des Herzogs. Aber der weise Dichter, der die Sensation, das bloße Sinnenbild, auch wenn es von zentraler Bedeutung ist, gerne im Hintergrund läßt, wenn es die innere Entwicklung nicht fördert und bloß die Erfüllung dessen zeigt, was wir in der Anlage miterlebt haben; und der die Sensation im gröberen Sinn des Wortes gewiß nicht auf die Bühne zieht, läßt nun alles, was wir im Entwurf schon kennen, im Hintergrund vor sich gehn: wir sind nicht bei Isabellas Gespräch mit Angelo, in dem sie ihm zusagt, sich ihm preiszugeben; nicht einmal bei der Einweihung Marianas in den Plan, und gewiß nicht bei Mariana-Isabellas nächtlicher Begegnung mit Herrn Angelo. Shakespeare mit seinem zarten Takt hat Bühne und Sichtbarkeit aufs feinste unterschieden: nichts, was geeignet war, das Menschenwesen zu ergründen, hat er, der freie Geist, der er war, von der Bühne verbannt; aber er hat auch gewußt, daß keusche Ohren in der Form der Sprache, welche durch die Verwandlung des Sinnlichen in Geist alles rein zu machen imstande ist, alles hören können, daß aber nicht alles in sinnlicher Erscheinung gezeigt werden kann. So ist es unsäglich weise, frei und witzig von ihm, daß er auf der Stufe der Handlung, wo unzüchtige Seelen, deren es unter seinem Publikum genau so gut gab wie unter seinen Kommentatoren späterer Jahrhunderte, Sinnenkitzel und angenehmes Ärgernis von den Vorgängen erwarteten, die Bühne statt dessen mit Szenen aus der niederen Welt der Kuppler und Verbrecher füllte, wo eben die Gemeinheit nicht vor Augen, sondern zu Sprache und robustem Spaß gebracht wird. Die Zusammenhänge von Brunst und Machtgier, wie sie von Shakespeare auch in andern Stücken aufgezeigt werden, stehen in der besondern Art in der Mitte dieses Dramas, daß der Machthaber ein rigoristischer Staatstyrann ist, solange er den Trieb zurückdrängt und ein Diener am Wort ist, daß er dann ganz schlecht, in jedem Sinn wortbrüchig, verräterisch und nur mehr auf seine Stellung und Sicherheit bedacht werden muß, sowie die Lust ihn überwunden hat. Wollust wie Tyrannei aber hat der Dichter diesmal noch in andre Verbindungen gebracht: wir wandern vom Palast des Tyrannen zum Gefängnis, zu den Verbrechern, zu den Henkern; von der Sinnengier des Mächtigen zu den Lieferanten der Genußbefriedigung und den leichtlebigen Genießern; und durch das alles geht noch das Verhältnis des Menschen zu der Instanz hindurch, die, sollte man meinen, ihm die Lebenslust am gründlichsten austreiben könnte: zum Tod. Wir sehen den prachtvollen Kerl, den Zigeunermörder Bernardin, den sein langjähriger Aufenthalt im Gefängnis so wenig wie der Gedanke an die seit vielen Jahren immer mal wieder bevorstehende Hinrichtung oder ans Jenseits vom lustigen Leben abbringen kann, den vollendeten Gegensatz in seiner zynisch robusten Gesundheit zu dem weich genießerischen Claudio und seiner Todesangst; und wir gewahren: nicht der Staat und nicht einmal der Tod mit ihrer Drohung von außen vermögen es, die Triebe im Zaum zu halten und die Menschen entscheidend auf neuen Weg zu bringen; nur zwei Menschen in diesem Drama, die vom innern Sinn bedeutungsvoll zusammengedrängt werden, haben vermocht, die Lust des Lebens, die übergreift und ausbricht, zu beschränken, mit dem Tod einzuschränken, den sie in ihr Leben aufgenommen haben, mit der Ordnung und Zucht, die nicht von außen auferlegt wird, sondern die das Bedürfnis ihrer Seelen ist: Isabella und der Herzog, die Nonne und der Mönch. Das ist die Sphäre dieses Stückes: von der liederlichen Gemeinheit und denen, die mit dem Geschlechtstrieb Handel treiben, zu dem Männerpaar Claudio und Angelo zunächst; der eine umgeht die Ehe und scheut sich nicht vor allerlei dunklem Schmutz für sich, seine Liebste und ihr Kind, weil er auf eine Mitgift wartet; der andre bricht das Ehegelöbnis, weil die Mitgift verloren ist; sitzt über seinen unsittlichen Bruder zu Gericht und schickt ihn in den Tod; drängt den Trieb zurück, bis er alle Schranken durchbricht und Geist und Macht als Werkzeuge der Vergewaltigung benutzt. Und eine Stufe höher Mariana, der die Sinnlichkeit des Leibes in die Seeleninnigkeit flammt; deren Sehnsucht und Wollust duftet, und tönt und von der sich Angelo, der ehrlich seinen Geist nüchtern und frei vom Trieb halten möchte -- es wird genügend angedeutet --, vielleicht doch nicht bloß aus schnöden Besitzgründen getrennt hatte. Und hoch hinauf endlich zu den beiden, die uns lange vor dem schönen Schlusse, der sie zusammenfügt, als Paar zu einander gehören: zu dem Herzog und Isabella. Der Herzog, ein gereifter Mann, dem zwar um seiner Milde und der geheimnisvollen Geborgenheit willen, die dem ernsten Manne unter Menschen notwendig ist, die lästernde Liederlichkeit geheime Sünden nachredet, der aber in der Reinheit steht, bis er seine weibliche Ergänzung gefunden hat; Isabella, Marianas Gegenbild, die nicht wie der Herzog das Klosterkleid zu sinnvoller Vermummung bloß gewählt hatte, die einen Widerwillen gegen alle Sinnenlust im Herzen trug und voll verdammender Härte war; welche Wirren und Nöte erst, welche Kühnheit und Überschreitung der Grenzen mußten kommen, um ihren Geist zur Natur zu bringen, um ihre Seele zu vermögen, beruhigt, ohne Aufruhr und einverstanden im Leibe zu wohnen. Von unten nach oben, die Skala der Sinnlichkeit immer wieder berührend und kreuzend, geht’s auch im Bezirk der Macht. Ganz draußen bleiben die Wiener Lüstlinge, in deren Gesellschaft sich auch Claudio gefällt, Genießende, die im Schutz der Macht Bevorzugte sind, bis die Macht daran geht, sie als geile Schmarotzer auszurotten; ganz drunten steht Bernardin, der brutale Mörder; es folgen die Berufsoffiziere, die den Krieg um des Kriegs willen treiben und sich selbst mit Piraten vergleichen; der Konstabel Ellbogen, ein Duplikat Holzapfels aus Viel Lärm um nichts, eine der aus Dummheit, Brutalität, Gutmütigkeit und Aufgeblasenheit zusammengesetzten Volksgestalten, die es den studierten Beamten gleichtun möchten; der Henker Abhorson oder Grauserich, der mit gefühlloser Lust aus dem gesetzlichen Morden nicht bloß ein Gewerbe, sondern eine Technik und ein System gemacht hat; der Staatsmann und Jurist Angelo, der auf derselben Stufe stünde, wenn er nicht die weiten Gesichtspunkte, den Ernst und den Geist und die Bildung dazu brächte; und oben in reiner Höhe der gütige Kerkermeister und der nach milder Gerechtigkeit trachtende Herzog, der doch hart, stetig, ausdauernd, abwartend bis zur Peinigung sein kann, wenn er mit Menschen zu tun hat, denen es not tut und die es wert sind, erzogen zu werden. Ein solcher Mensch ist für ihn der junge Herr Angelo; ein solcher Mensch auch Isabella. Um sie beide zu ihrer guten, echten Natur zu bringen, scheut sich der Herzog nicht, Angelo die Gelegenheit zu schaffen, wo das Verkehrte in ihm sein Bösestes tun kann, wie ihn kein Mitleid hindert, Isabella, die in furchtbarer Tugendhärte ihrem Bruder den Tod gewünscht, seinen Tod als gerecht und verdient bezeichnet hat, diesen Tod, diese Hinrichtung des Bruders ganz erleben, den Bruder als tot betrauern zu lassen. Denn es geht nun keineswegs alles nach dem Plane des Herzog-Mönchs. Wohl hat Angelo -- wie er meint -- sein Gelüste an Isabella befriedigt, rauh, heimlich, nachts, seelenlos, brutal; wie er dann aber die Brunst gelöscht hat und von der ganzen Glut nichts mehr da ist als brennende, unauslöschliche Scham, erwägt er, daß gefährlicher als die Anzeige des geschändeten Mädchens Isabella, von der überdies kaum zu erwarten ist, daß sie ihre Entehrung kundgeben wird, die Rache des gepeinigten und um solchen Preis freigegebenen Bruders wäre; er muß den Weg der bösen Tat bis zu Ende gehen und verfügt die schleunige Hinrichtung Claudios. Die geschieht, für Angelo und alle Welt; auch Isabella wird nicht in das Geheimnis eingeweiht; Claudio wird in verborgener Haft gehalten; ohne sich ganz zu offenbaren, bringt der Mönch den guten Kerkermeister dazu, Angelo anzuführen und seinen Befehl zu mißachten: der Wackere weiß, der wahre Fürst wird nun zurückkommen. Wie die Verwirrung am größten ist, sagt der Herzog zu diesem Wächter der Gefangenen ein Wort, das in all seiner Leichtigkeit, mit der es uns nahe an traumhaft spielerische Märchenstimmung trägt, tief erhellend für das Ineinander äußerer und innerer Wirrnis in diesem tragischen Lustspiel ist: Staunt und grübelt nicht darüber, wie dies alles zugeht. Alle schweren Dinge sind ganz leicht, wenn sie nur erst erkannt sind. Sie zur Erkenntnis zu bringen, in ihrer innern Beschaffenheit und ihrem Zusammenhang, ist die Bestimmung des fünften Akts. Innerlich ist für uns schon beruhigte Entspannung da; wir sehen in dieser einen Szene, in der Shakespeare, wie öfter, nach den verwandlungsreichen früheren Akten alle Verwirrungen zur vollen Höhe häuft, ehe er sie löst, guten Muts zu, wie die Personen des Stücks, zumal Angelo und Isabella, vom Herzog noch gehörig auf die Folter gespannt und dann mit Enthüllungen überrascht werden, mit denen allen wir vom weisen Dichter dieses Lustspiels schon lange bekannt gemacht worden sind. Angelo und Isabella! In ganz anderm Sinn, als der junge Wüterich meint, bilden auch sie denn doch ein Paar. In beiden ist die Tugendstrenge seltsam nach Art und Grad verschiedene Irrwege gegangen; die Nonne, die es bis zum wildesten Ausbruch der Unbarmherzigkeit bringt, ist eine adlige Seele trotzdem; der vom Herzog zur Probe zum Fürsten erhöhte, dadurch zum Tyrannen gewordene, zwischen Idealismus, Abstraktionshärte und ichsüchtiger Schnödigkeit hin und her irrende unfertige junge Mann ist, wir sollen’s nun erleben, nicht minder in seinem besten Wesen ein adliger Mensch. Der Herzog hat, ehe er in Wien wieder einzog, verkünden lassen, wer irgend sich über erlittene Unbill zu beschweren habe, solle es sofort bei seinem Einzug tun; unverzüglich, wenn der echte Herr das Regiment wieder antritt, soll reiner Tisch gemacht werden. Kaum hat er denn den Statthalter mit Worten höchster Achtung über seine gerechte Verwaltung des obersten Amtes beglückt, so tritt die trauernde Isabella auf und fordert, immer das eine Wort wiederholend, mit lauter Stimme, was in diesem Staat durch Angelo so streng durchgeführt worden sein sollte: Recht, ja Recht, Recht, Recht! Mariana, hat der Mönch ihr geraten, soll außer Spiel bleiben; so beschuldigt Isabella Herrn Angelo genau dessen, was er selbst glaubt, an ihr begangen zu haben. Was tut er, der hochgeehrt neben dem Herzog sitzt, auf diese entsetzliche, gegen einen Mann wie ihn jedoch höchst unglaubwürdige Anklage hin? Was wir alle täten, wenn wir erst Schritt für Schritt uns so mit dem Bösen eingelassen hätten: er leugnet alles, mit frecher Stirn, und erklärt, Isabellas Verstand habe seit dem Prozeß gegen ihren Bruder gelitten. Merken wir hier nur darauf: vor dem Buchstaben des Rechts hat Angelo kein andres Verbrechen begangen als das gegen Isabella, und das hat er, wir wissen es, nicht begangen; Claudio war dem Gesetz verfallen, und er hat’s dabei gelassen; es ist kein Recht gebeugt worden. Und da kommt nun eine und schreit hinaus, um ihren Bruder, wie es der Statthalter selbst bedungen hätte, zu retten, hätte sie dem ihre Ehre preisgegeben; aber der Bruder ist ja hingerichtet worden; wer wird solches wirre Zeug glauben? So scheint es ganz in Ordnung, daß der Herzog die Anklägerin bis zur weitern Prüfung der Sache ins Gefängnis abführen läßt; um wahnsinnig zu sein, redet sie wieder zu klar; es scheint eine Verschwörung gegen Herrn Angelo vorzuliegen, der von dem heillosen Schmutz, wie er da gegen ihn geworfen wird, so wenig berührt werden kann, daß der Herzog ihn auffordert, in dieser seiner eigenen Sache selbst Richter zu sein. Was für eine Verwirrung tritt aber nun ein, als von einem Vertrauten des Herzogs, dem Mönch Peter, geleitet, eine Zeugin auftritt, die Herrn Angelos Alibi auf die seltsamste Art beweisen soll: da stellt sich eine hin, die sich für weder verehlicht noch Mädchen noch Witwe und dann gar für des Statthalters Gattin erklärt und bezeugt: just zu der Stunde, wo Herr Angelo Isabella fleischlich beigewohnt haben solle, sei er in ihren Armen gelegen. Gegen diese Behauptung, gegen diese Anklage, die als Verteidigung auftritt, kann sich Angelo nun mit bestem Gewissen verwahren; und das hilft ihm, viel freier als zuvor, fast mit Lächeln über so viel Tollheit, alles zu leugnen, auf die Vermutung des Herzogs einzugehn und dies schamlose Auftreten zweier Weiber gegen ihn, der jetzt eben das Land von der Unzucht gereinigt, auf ein niederträchtiges Komplott zurückzuführen. Er ist auch klug genug, den Vorschlag des Herzogs, Richter in eigner Sache zu sein, in diesem Augenblick, wo die Sache für ihn so günstig steht, anzunehmen. So kann der Herzog, um seinem bisherigen Statthalter sein ganz besonderes Vertrauen zu bezeigen, sich von der Gerichtsstelle, zu der dieser freie Platz vor dem Tor geworden ist, entfernen, ohne daß es jemand auffällig finden darf. Welch köstliche Motivierungskunst in einer auch für den Dichter fast unmöglich scheinenden Situation; was für eine leichte, spielende Hand; wie ist das, womit motiviert wird, das Auskunftsmittel des Dichters, daß der Statthalter seinen Fall selbst zu richten bekommt, für den Gang der Handlung entscheidend wichtiger, als was zu motivieren notwendig ist: daß der Herzog fortgeht, damit er in Gestalt des geheimnisvollen Mönchs wieder erscheinen kann. Der Mönch erscheint und braucht stärkste Worte, erst gegen den Herzog -- sich selbst --, der einen Schurken in eigner Sache richten läßt, dann gegen diesen Elenden nicht nur, der immer noch als oberster Richter auf dem Thron sitzen darf, sondern im allgemeinen gegen die Widersprüche zwischen dem Moral- und Gesetzsystem, das im Reich herrscht, und den wirklichen Zuständen. Er mußte sehen, wie hier Entartung kocht und brodelt, Ja überschäumt; für jeden Fehl Gesetze, Doch Frevel so beschützt, daß die Verbote, Wie Sittensprüche in den Baderstuben, Indem sie Schmach verpönen, sich verhöhnen. Das starke Auftreten dieses Mönchs gegen die Sitten der Wiener goldenen Jugend bringt den Vertreter dieser Gesellschaft, Herrn Lucio, der mit seiner dreist anmaßenden Geschwätzigkeit auch schon vorher dem Herzog lästig gefallen war, zum kecken Eingreifen: er will das Gesicht dieses Sittenpredigers sehen und reißt dem Mönch die Kapuze herunter: alle erkennen den Herzog. Sofort, noch ehe irgend ein Weiteres enthüllt ist, gesteht Angelo seine Schuld: er ist, sowie er vor Augen sieht, daß der Herzog schon lange mit dieser furchtbaren Sache zu tun hat und sein Tun beobachtet, wie von einem Strahl göttlicher Rache vernichtet: auf geheimnisvollste Weise, die er nicht begreift, ist einem Zusammenhang, den er selbst und dazu noch Vorfälle, die ihm rätselhaft sind, aufs verwirrteste versträhnt haben, die schlichte Klarheit, der wirkliche Kausalzusammenhang wiedergegeben. Wie eine Erleichterung überkommt es ihn, daß der Bau des Bösen und der Lüge, den er hat türmen müssen, weil in seinem Bau der starren Moral der Grundstein ins Rutschen gekommen war, auf einen Schlag eingestürzt ist: höchst würdig legt er sein Bekenntnis ab und erbittet sofortiges Gericht, sofortigen Tod. Gewiß hat der Herzog, der den Mann von allem Anfange an gekannt hat, nichts andres erwartet. „Alle schweren Dinge sind ganz leicht, wenn sie nur erst erkannt sind.“ Der Spruch bewährt sich bei der unglaublichen Verwirrung aller äußern Geschehnisse; er bewährt sich auch für Angelo. Eine schwere Last ist von ihm genommen, ein Druck, der seit langem sein Leben auf schiefe Bahn geschoben hat; mit der Reue, die überraschend wie der Blitzstrahl über ihn gekommen ist, ist ihm so ganz leicht geworden. Der Herzog aber macht keine Miene, ihn zu richten; erst tut andres not. Kurz stellt er fest, daß Angelo und Mariana rechtmäßig verlobt waren; stracks schickt er beide weg zu schleuniger Vermählung. Aus diesem Verfahren und dem entsprechenden, das er dann gegen den heillosen Liederjahn und Verleumder Lucio einschlägt, ergibt sich, daß in seiner Methode zur Verbesserung der Sitten die Ehe ungefähr die Rolle spielt, die in Herrn Angelos System Auspeitschung, Einkerkerung und Hinrichtung eingenommen haben. Dann erst, wie dies erste und vielleicht innerlich häßlichste Vergehen Angelos gut gemacht ist, soll zwischen ihm und Isabella gerichtet werden. Nun soll Angelo lernen, wie es mit seinem Grundsatz des starren, strengen, vorbeugenden Rechts bestellt ist: Gleiches mit Gleichem, Maß für Maß: mit welcherlei Maß ihr messet, so soll euch wieder gemessen werden! Gut denn; er hat sich das Urteil schon lange selbst gesprochen: sein Verbrechen ist das Claudios; was er noch viel Schlimmeres als dieser getan, kann ganz außer Betracht bleiben: wie Claudio hingerichtet wurde, so soll auch er dem Henker verfallen sein. Was für ein wahrhaft wonnevoller Gegensatz zwischen dem, was die Menschen auf der Bühne in diesem Augenblick empfinden und erleben, und dem, was wir beglückt, heiter, frei wissen: Claudio lebt, Angelo wird leben! So kommt es noch zu einem letzten Gipfel; Isabella, die Tugendstrenge, die nur mit äußerster Selbstüberwindung für ihren Bruder, dessen Fall so ganz milde zu betrachten war, eingetreten war, die ihn zum Tod verurteilte, als Lebensdurst und Todesangst ihn zum winselnden Tier erniedrigt hatten, Isabella, die diesen Bruder tot glauben muß, tot durch Schuld dieses Angelo, der ihn als Meineidiger in dem Augenblick wie ein unsträflicher, erhabener Richter dem Gesetz geopfert und auf den Richtblock geschickt hat, wo er selbst auf dem selben Gebiet nach seinem Willen weit Schlimmeres verbrochen hat, Isabella bittet um das Leben dieses Mannes, der Notzucht abscheulichster Art, Notzucht auf dem indirekten Weg des Seelenzwangs hat gegen sie begehen wollen; sie wirft sich vor dem Herzog auf die Knie und spricht: Huldreichster Fürst, Betrachtet, fleh’ ich, diesen schuld’gen Mann, Als lebte noch mein Bruder. Fast ist mir, Als habe Ehrlichkeit sein Tun gelenkt, Bis er sein Aug’ auf mich warf. Ist dem so, Laßt ihn nicht sterben. Claudio starb nach Recht, Sofern er wirklich tat, wofür er starb. Doch Angelo -- -- Sein Tun kam nach ja nicht der bösen Absicht Und soll begraben sein als bloße Absicht, Die nicht ans Ziel gelangt. Denken ist frei, Und Absicht bloßes Denken. Wie sieht man da voller Lust, Lust des Herzens wie auch des unbeschwert spielenden, rasch sich bewegenden, Ernstes bedenkenden Geistes: auch die Milde hat ihren scharfen Juristenverstand, -- und wer weiß, ob diese Porzia-ähnliche Gestalt, diese Isabella, die vor unsern Augen so gewachsen und gereift und aus klösterlicher Enge zu Menschenweite und freiem Sinn sich erhoben hat, ob sie, die der reifsten Stufe des Dichters zugehört, nicht auch Shylock, dessen Untat ja auch beim Versuch geblieben ist, Gnade, volle erlösende Gnade erwiesen hätte? Angelo aber, der jetzt zum ersten Mal ganz und fest in seinem Adel steht -- wie vielfältig ist der Mensch! und wie groß der Dichter, der uns die wahrhaft wundervolle Geräumigkeit im Schacht des Menscheninnern, die Wirklichkeit der Niedertracht wie der Seelengröße in diesem nämlichen Menschen erleben läßt -- Angelo will den Tod erdulden: Mich schmerzt’s, daß solche Schmerzen ich bereitet, Und Scham durchdringt so tief mein reuig Herz, Daß Tod mir lieber als die Gnade ist. Verdient so hab’ ich’s, laßt’s dabei bewenden. In diesem Augenblick kommt des Herzogs Ebenbild und Gehilfe aus dem einfachen Volk, der Kerkermeister, und bringt den vielfachen Mörder Bernardin und eine verhüllte Gestalt. Dem Mörder, der seit neun Jahren in unverwüstlicher Lebenslust im Gefängnis sitzt, wird von diesem Herzog, der immer noch in der Tracht des Mönchs seines Amtes waltet, Leben und Freiheit geschenkt, weil er keine Todesangst und keine Höllenangst kennt: He, Kerl, man sagt, du trägst ein störrisch Herz, Das Furcht vor nichts hat jenseits dieser Welt, Und lebest demgemäß. Du bist verurteilt, Doch deine Schuld auf Erden sei verziehn. Wend’ aber so die Gnad’ an, daß du denkst Auf bessre Zukunft. ~For better times to come~: der Fürst, der Harun al Raschid, der Geheimnis und Vermummung liebt, der Dichter, der sich in seinen Gestalten und in der schwebenden Rede hold vielsagender, duftig auf alles weisender Allgemeinheit verbirgt, sie überlassen es jedem, was er dabei empfinden und denken will: ein besseres Leben, das dieser der Freiheit wiedergegebene Mordskerl jetzt beginnen soll; bessere Zustände und Einrichtungen zwischen den Menschen; das dunkle Reich jenseits des Todes. Da steht noch ein Vermummter; er darf nun in die Klarheit treten: Claudio lebt! Und er, der genießende Phantasiemensch, der alle Gräßlichkeiten des Nichtmehrseins und des Jenseits voraus gekostet hat, hat wahrlich genug ausgestanden, um ferner Leben und Gesellschaft ernster zu nehmen als vordem: er bedarf keiner Strafe mehr. Was für ein Recht übt dieser Herzog, der vom Thron gestiegen war, damit der Statthalter Angelo die Gesetze wieder wirksam machen sollte! Ein Mörder wird völlig begnadigt; ein zu Unrecht dem Henker Gestohlener in die Freiheit geschickt! Und doch atmen wir alle, seit in diesem Reich er wieder die Lenkung hat, frei und beruhigt die Luft der Reinheit und spüren die Zucht und eine Ordnung, die nicht vom auferlegten Zwang, die von innen kommt und ein Band um geprüfte Menschen schlingt. Angelo ist nun mit dieser Erscheinung das milde Urteil gesprochen: da er kein Mann der Gnade ist und auch gegen sich selbst schließlich keine Gnade noch Barmherzigkeit geübt hat, da er hart und streng auch gegen sich gewesen ist, soll ihm sein Recht, nichts als sein Recht werden: Gleiches mit Gleichem, Maß für Maß: Claudios Schicksal, so war der Rechtsspruch ergangen, solle sein eigenes werden. So darf er leben und mit dem leidenschaftlichen Weib, das beglückt an ihm hängt, so glücklich sein, wie er nach dieser Prüfung, nach diesem Fall, nach dieser Erziehung vermag. Ein Wilder war er in dieser Welt, und seine angeborene Vornehmheit hatte die Verwilderung mit Starrheit und Strenge bändigen wollen; die Wildheit brach eruptiv durch und riß alle Dämme ein; wie wird er nun werden? wie leben? wie wirken? was wird aus seinem System? aus dem Wortgebäude, das er über der dunklen Schlucht des Triebs errichtet hatte? Er spricht von dem Augenblick an, wo in Claudios Gestalt die Gnade erschienen ist, kein Wort mehr. Der alte Angelo ist vernichtet; die Hoffnung meint zu schauen, er stehe in seiner Wiedergeburt. Und noch ein Menschenkind schweigt: Isabella. Ein wunderbar zarter Zug, von dem man nur ehrfürchtig reden kann, wie Shakespeare Angelo bei der Rettung und Isabella bei dem Anblick des wiedergeschenkten Bruders und bei der Werbung des Herzogs in wortloser Stille verharren läßt. Der Herzog selbst deutet in verehrender Scheu vor ihrer Menschennatur wie dem Schicksal, das er selber gelenkt, nur leise an, daß er sie bittet, die Seine zu werden; wir haben schon lange gefunden, daß die beiden, der Mehralsmönch und die zum Leben des Menschlichen herangereifte Nonne, ein edles Paar bilden und in ihrer Zusammengehörigkeit und Ergänzung, in Klugheit, Innigkeit, Entsagung und Ironie zu Herrschern in einem Reich milder Weltfrömmigkeit berufen sind. [1] Auf noch eine Verbindung dieses Stückes mit Bacon hinzuweisen will ich nicht unterlassen. Das juridische Grundmotiv sowohl unsres Dramas wie Einzelzüge erinnern in der Tat -- man darf sagen, auffallend -- an eine Ausführung in Bacons vorzüglichem Essay „Über Rechtsprechung“: „Wenn Strafgesetze lange in Schlaf gelegen haben oder wenn sie für die Gegenwart nicht mehr passen, sollten sie von klugen Richtern in der Anwendung eingeschränkt werden: ~Judicis officium est, ut res, ita tempora rerum~ usw. [Des Richters Amt erstreckt sich auf Dinge wie Zeiten der Dinge.] In Fällen, wo es um Leben und Tod geht, sollten die Richter in der Rechtspflege der Gnade gedenken und ein strenges Auge auf das Beispiel werfen, ein gnädiges aber auf die Person.“ Das sind in der Tat Gesichtspunkte, denen wir genau so beim Herzog und bei Isabella begegnen. -- Ich für mein Teil erlaube mir daraus gar nichts zu folgern, -- so wenig wie aus der Tatsache, daß der Staatsbeamte Lord Bacon von Verulam, Viscount von St. Albans in seiner Person (~persona~ heißt Maske) etliche Ähnlichkeit mit Lord Angelo aufweist. Solche Indizien sind mir noch kein Beweis dafür, daß der gelehrte Whetstone Bacons Schriften verfaßt hat. Macbeth Der Macbeth ist erst aus dem Nachlaß im Jahr 1623 in der Folioausgabe veröffentlicht worden; verfaßt wird er wohl in der Zeit zwischen 1606 und 1608 sein; sicher ist, daß ~Dr.~ Forman ihn 1610 im Globetheater hat aufführen sehen. Den Stoff fand Shakespeare wie den des Hamlet, des Lear und manchen andern in Holinsheds Chronik. In diesem Geschichtswerk findet sich auch die Begegnung Macbeths mit den drei Zauberfrauen, die man, wie es an einer Stelle heißt, im Volk für die drei Göttinnen des Schicksals oder doch für Nymphen oder Feen hielt. Die Begegnung schildert Holinshed so, daß man schon einen großen, schaurigen Eindruck von der Szene gewinnen kann: „Macbeth und Banquo ritten zusammen ohne weitere Begleitung nach Fores, wo der König damals sein Lager hielt, und kamen durch Wälder und Felder, als ihnen plötzlich in der Mitte einer großen Heide drei Weiber von fremdem und seltsamem Aussehen begegneten, die Geschöpfen einer früheren Welt glichen.“ Im übrigen ist uns an dem Bericht der Chronik besonders das interessant, was Shakespeare nicht brauchen konnte oder irgendwie verwandeln mußte. Denn der Macbeth der Sagengeschichte, der siebzehn Jahre lang, von 1040 bis 1057 regierte und Banquo erst im zehnten Jahr seiner Regierung ermorden ließ, war trotz der Untat, durch die er auf den Thron kam, bis zu Banquos Ermordung ein guter Fürst: „Macbeth suchte nach der Abreise der beiden Prinzen sich die Gunst der schottischen Edlen und Ritter durch große Freigebigkeit zu gewinnen, und als er sich im friedlichen Besitze des Thrones sah, begann er die Gesetze zu reformieren und alle Unregelmäßigkeiten und Mißstände, die sich unter dem schwachen und trägen König Duncan in die Verwaltung eingeschlichen hatten, auszurotten. Er befreite das Land auf viele Jahre von allen Räubern und verfuhr hierbei so ohne Ansehen der Person, daß er selbst viele Thane, wie die von Cathnes, Sutherland, Stranaverne und Ros, und den Beherrscher von Galloway hinrichten ließ. Dagegen beschützte er die Kirche und die Geistlichen auf das sorgsamste und wurde, um kurz zu sein, wie der Verteidiger und Schild jedes Unschuldigen angesehn.“ Freilich, fügt Holinshed naiv genug hinzu, war das alles nur erheuchelt. Nach Banquos Ermordung trat dann seine Grausamkeit und Tyrannei klar zu Tage. Shakespeare, der auch hier verfährt wie immer und die Regierungszeit König Macbeths nicht nach irgend einer astronomischen Zeit, sondern nach dem inneren Verlauf seines Schicksals, nach dem Tempo seiner Lebenskraft und Intensität bemißt, und der nicht die Wirklichkeit, die Relativität und Gemischtheit der politischen Gesellschaft, sondern die Wahrheit der Grundtriebe im Individuum ~sub specie aeternitatis~ darstellt, kann diese lange Zwischenzeit zwischen Duncans und Banquos Ermordung und diese ganze zehnjährige Heuchelei oder Normalität nicht brauchen. Dagegen bleibt Banquo bei Holinshed ruhig in seinem Grabe; die Erscheinung des Toten ist Shakespeares Erfindung, und ebenso auch der Anteil der Lady an Macbeths Schicksal und Taten; bei Holinshed wird ihr Einfluß nur nebenbei einmal erwähnt. Sonst hat Shakespeare manche Einzelzüge und Szenen in treuem Anschluß übernommen; die drei Begrüßungen und die späteren drei Prophezeiungen der Hexen sind da, wenn auch freilich nicht in ihrem großartigen Zusammenhang; die Ermordung der Frau und der Kinder Macduffs und vor allem die Szene seiner Prüfung durch Prinz Malcolm, der sich verstellt, sind dieser Quelle entnommen. Soviel zur Herkunft der äußern Handlung. Welcher Quelle die innere entstammte, soll uns ein junger Dichtersmann sagen, Grillparzer, der im Jahr 1817 die folgende merkenswerte Niederschrift machte: „Vielleicht ist Macbeth das größte Werk Shakespeares, das wahrste ist es jedenfalls... Ich glaube, daß das Genie nichts geben kann, als was es in sich selbst gefunden, und daß es nie eine Leidenschaft oder Gesinnung schildern wird, als die es selbst als Mensch in seinem eigenen Busen trägt. Daher kommen die richtigen Blicke, die oft ein junger Mensch in das menschliche Herz tut, indes ein in der Welt Abgearbeiteter, selbst mit scharfem Beobachtungsgeist Ausgerüsteter nichts als hundertmal gesagte Dinge zusammenstoppelt. Also sollte Shakespeare ein Mörder, Dieb, Lügner, Verräter, Undankbarer, Wahnsinniger gewesen sein, weil er sie so meisterlich geschildert? Ja! Das heißt, er mußte zu dem allem Anlage in sich haben, obschon die vorherrschende Vernunft, das moralische Gefühl nichts davon zum Ausbruch kommen ließ. Nur ein Mensch mit ungeheuren Leidenschaften kann meiner Meinung nach dramatischer Dichter sein, ob sie gleich unter dem Zügel der Vernunft stehen müssen und daher im gemeinen Leben nicht zum Vorschein kommen.“ Von dieser Einsicht, die uns wichtig nicht nur für die Psychologie des Genies, sondern vor allem auch für die Beurteilung des Dramatikers Grillparzer sein muß und die überdies, wir erfahren es noch, in Shakespeares Selbstbekenntnissen, in seinen Sonetten ihre Bestätigung findet, war der junge Mann, der sie aufschrieb, so ergriffen, daß er den Ausruf hinzufügte: „Ich wollte, irgend ein Dichter läse das!“ Darin jedenfalls haben inzwischen viele Grillparzer zugestimmt, daß auch sie den Macbeth für Shakespeares größtes Werk erklärt haben. Und darin sind fast alle Beurteiler einhellig, daß Macbeth seine klassischste, seine formvollendetste, seine der Antike geistig am nächsten kommende Tragödie ist. Und in der Tat, kann man vor den und jenen andern Werken Shakespeares wenigstens verstehen, wie der ganz falsche Eindruck, der so lange gespukt hat, entstehen konnte, als wäre er so eine Art Naturdichter, ein Volksdichter, der nachlässig und unbekümmert wie ein trunkener Wilder seine Einfälle vor uns ausschüttete, ein unbewußtes Genie, das sich um Überlegung, Berechnung, Komposition nicht viel kümmerte, so kann bei Macbeth keinem, der irgendwie aufzumerken imstande ist, im geringsten zweifelhaft sein, daß hier alles geplant, gebaut, gewußt, gewollt ist, alles, Aufbau, Szenenfolge, jede Rede und jedes Wort, was getan und gesagt und ebenso, was geschwiegen wird. Mit dieser straffen Komposition, die an nichts so sehr erinnert wie an die gespannten Muskeln in Macbeths Gesicht, wenn er von Dunsinans Turm Ausschau hält nach dem Schicksal, das ihm nichts anhaben soll; mit dieser festen Geschlossenheit, die ihres gleichen nur hat in Macbeths finsterer Entschlossenheit, sich zu behaupten, damit steht auch in Zusammenhang, daß das Stück die kürzeste aller Tragödien Shakespeares ist, wie Hamlet die längste; Hamlet hat 4000 und Macbeth nur 2100 Verse. Dämonische, sagen wir getrost teuflische Triebe im Innern des Menschen und reale, äußere dämonische Mächte, Abgesandte der Hölle begegnen einander: daß dieses Hereinragen der Geistersphäre diese Tragödie von andern abhebt, sehen wir sofort. Auch haben wir eben gehört, daß es so überliefert ist. Es liegt uns aber trotzdem die Frage ob: Wie ist das? Wie steht es hier um das Verhältnis von Glauben, Aberglauben und Wissen? Wie zumal ist das Verhältnis zu unsrer naturwissenschaftlichen Weltanschauung? Vor allem ist da zu beachten: Shakespeare der Weite und Vielfältige ist darum aus Notwendigkeit ein Dramatiker, weil er sein Geheimnis zu wahren hat, weil er die Einheit der Person, die eine _Frage_ ans Schicksal und ein Ringen mehr ist als eine Sicherheit, hinter der gespaltenen Vielheit der Gestalten versteckt. So entsprechen bei ihm Weltanschauung und geistige Stimmung, die in einem Stück walten, durchaus der Gesinnung und Charakterhaltung der Hauptperson oder den Tönungen und Bedingungen der Handlung, und es ist nicht zu viel gesagt, wenn geradeswegs ausgesprochen wird, daß bei einem Dichter wie Shakespeare die Weltanschauung viel mehr, als gewöhnlich beachtet wird, ein je nach Bedarf wechselndes formales Element ist. Was daher für ein besonderes Stück gilt, darf nie auf den ganzen Dichter und seine Gesamthaltung übertragen werden: so passen sich auch die Elementargeister, die Erscheinungen, die Gespenster immer der Stimmung der Dichtung, der Innerlichkeit der Träger der Handlung an: im Sommernachtstraum weht eine Renaissanceluft hell, neckisch, spöttisch wie bei Ariost, eine Romantik also, die der Ausdruck mehr des Rationalismus als irgendwie dumpfer Mystik ist; die Erscheinung von Julius Cäsars Genius hinwiederum in ihrer klaren, würdevollen Sprache steht ganz im Einklang mit der stoisch-republikanischen Selbstbestimmung edel-gebildeter römischer Bürger. Man denke sich die Hexen der schottischen Heide in dem Römerdrama, oder einen Kobold wie Puck, einen Geisterfürsten wie Oberon im Macbeth, -- und man wird sofort merken, daß man mit einem souveränen Dichter zu tun hat und daß die Frage nach seiner Befangenheit in Glauben und Aberglauben von Seiten seiner Dramen kaum eine bündige Antwort finden wird. Für das Zeitalter Shakespeares und die Anschauungen, in denen die besten Geister dieser Zeit standen, ist zu sagen, daß das, was wir geneigt sind Aberglauben zu nennen, viel weniger Rückstände alter Zeit, als gerade Anfänge natürlicher Betrachtung sind. Die Wissenschaft hat sich nicht allmählich aus geringem und bescheidenem Keime zu uns herauf entwickelt; wenn sich etwas auf diesem Gebiete aus kleinsten Anfängen zu achtbarer Größe hinaufgesteigert hat, so ist es vielmehr gerade die Bescheidenheit und Resignation. Im Anfang, im Zeitalter Fausts, hat das Wissen im Glauben der Menschen die Gabe, Riesenkräfte zur theoretischen wie praktischen Bezwingung der Natur zu verleihen; und diese Natur wird nicht für harmlos und lediglich sachlichen Prinzipien oder gar nur mathematischen Formeln unterworfen angesehen, sondern als strotzender Kraftspeicher betrachtet. Man sieht die Natur ungeheuerlich, wozu eben auch gehört, daß es in ihr nicht geheuer ist; alles Ungeheuerliche aber wird als durchaus natürlich und unsrer bezwingenden Menschenkraft erkennbar und zugänglich aufgefaßt. In alledem, was wir heute überwunden haben und dem Aberglauben zuzuweisen geneigt sind, in der Alchemie und Astrologie, in dem Glauben an Vorbedeutungen und Offenbarungen durch Naturgeschehnisse, wie Erdbeben, Meteore, Finsternisse und dergleichen, steckt die wissenschaftliche Frage an die von den Banden des Dogmatismus befreite, seltsam, trächtig, gärend, chaotisch gewordene Welt: Ist hier nicht, ist nicht zwischen innen und außen, zwischen Menschenschicksal und Weltbewegung ein kausaler Zusammenhang? Die Frage gehört der Wissenschaft an, so betrüblich paradox im eigentlichen Wortsinn es auch klingen mag, eine Frage ein Wissen zu nennen, die Antwort aber, die jene Zeit fand, entstammt starker, gestaltender dichterischer Phantasie; wohl uns, wenn nach wiederum etlichen Jahrhunderten von unsern Antworten das Selbe gesagt werden kann! So steht’s nun auch um den Hexenglauben, der in dem Glaubenssystem der christlichen Zeit nie recht Platz fand, erst vom 14. Jahrhundert an ins Kraut schoß und im Zeitalter der sprossenden Wissenschaft sich sein System ausbildete, -- woran sich Shakespeares gelehrter König Jakob in eifrig pedantischer Arbeit redlich beteiligte. Überall begegnen wir der Tendenz, der auch dieser Glaube angehört, nicht, das Geheimnis, das Grauen, den dunklen Zusammenhang zwischen Materie und Seele ins Mechanische aufzulösen und die Welt, die man als dämonisch erlebte, durch die Wissenschaft nüchtern zu machen, sondern umgekehrt das Materielle als beseelt, als vom Geiste durchdrungen und durchglüht zu erfassen. Das Göttliche und Teuflische war in die Natur aufgenommen; dem Verständnis und der gebietenden Gewalt, der Magie des Menschen sollte kein Gebiet mehr unerreichbar, mehr jenseits verbleiben. Männer wie Giordano Bruno und Jakob Böhme, Shakespeares Zeitgenossen, mit deren erstem er als junger Mensch sogar persönlich in London Verkehr gepflogen haben könnte, machten den Versuch, die symbolischen Heilswahrheiten der Religion naturwissenschaftlich zu deuten, eine Physik und Chemie des Christentums zu begründen. Und immer soll die Naturanschauung, soll die Einheit der Natur Geist und Materie umfassen. Zu der Bescheidung, um der Kausalität willen auf die Frage nach dem Zweck und dem Sinn, um der Wissenschaft willen auf das Suchen der Wahrheit zu verzichten, war man noch nicht gekommen. In dieses Gebiet also, auf diese Stufe der schöpferischen Kraft und Vehemenz des forschenden und ringenden Geistes gehört der Glaube von Shakespeares Zeitalter an den Verkehr zwischen Menschen und dämonischen Elementarwesen, die in die Stoffe und Kräfte der Natur gebannt sein sollten, gleichviel hier, wie weit Shakespeare diesen Glauben teilte, wie weit er als Dichter sich spielend, versuchend, versucherisch, tragisch, dämonisch in ihm erging. Das Gewaltige und Einzige in der Darstellung des Dichters, die uns hier beschäftigt, ist nun, daß Macbeth den Dämonen verfallen ist, ohne -- wie Faust zum Beispiel im Volksbuch und bei Marlowe -- ein ausdrückliches Bündnis mit ihnen einzugehen. Es ist ein Verhältnis wie Sympathie oder Fernwirkung: er ruft die höllischen Mächte nur dadurch, und sie, die uns allezeit unsichtbar umschweben, nehmen nur darum für ihn Sichtbarkeit an, weil seine Gedanken, seine Triebe, seine dunkeln Wünsche und undeutlichen Pläne ihnen verwandt sind. Welch eine Welt! Welch eine prästabilierte Harmonie der Hölle! Was in unserm tiefsten, finstersten Untergrund sich keimend regt und noch farblose, blasse Würzelchen unsicher tastend nach außen schickt, das sind zugleich Lockungen, die von draußen, vom Drunten nicht unsres Innern, sondern der allverbreiteten Unterwelt her uns suchend, Einlaß begehrend, unruhig schwirrend umkreisen und zu uns hinein wollen. Das ist hier auf Erden nicht nur eine Welt des Stoffwechsels, wo der Leib des Individuums in unausgesetztem Austauschverkehr mit der stofflichen Welt steht, sondern eine Welt, wo die Kräfte, die Seelchen, die Dämonen des Innern und Äußern im Wechselverhältnis stehen. Wir Laien, wir Normalen, wir Braven sagen so leichthin: Wo ein Wille ist, ist ein Weg. Man überlegt aber nicht, was für eine Wechselwirkung, was für eine geheimnisvolle Gemeinschaft damit zum Ausdruck gebracht ist. Schon wenn dieses Geistige in uns, das wir Willen nennen, nur den Finger rühren will und siehe da! es geschieht, schon da ist es so, wie wenn dem Gedanken Mächte, die im Elementaren der Materie auf unsern Befehl, auf unsre Bereitschaft warten, gehorchen und entgegenkommen. Das Kindchen will an der Mutterbrust saugen; will aber die Brust nicht auch geleert und befreit sein? Und wissen wir nicht, wenn nicht in der Naturwissenschaft, so doch gewiß in der Welt, die wir die moralische nennen, und das ist die, die den Dichter angeht, daß die Materie, die uns dient, die wir brauchen und begehren und einheimsen und formen, daß sie Herr über uns werden, daß sie uns mit Haut und Haaren verschlingen kann? Nichts an höllischer Einwirkung kommt zu Macbeth bloß von außen, ohne daß es von seiner innern Bereitschaft gerufen wäre; aber auch umgekehrt freilich, und das macht seine besondere Welt aus, das stellt diese der Sphäre der christlich-renaissancehaften Naturmagie zugehörige Tragödie neben die antike: nichts, was sich in seinem Innern gebiert, bleibt ohne dämonische Unterstützung, Weiterführung und Irreführung. Gott, mein Gott, was würde aus uns allen, wenn die Dämonen uns und unsern geheimen Regungen auch nur so hülfen, wie sie Macbeth zur Seite treten: mit Verkündungen, Verheißungen, feierlichen Begrüßungen! Und wenn nun gar wie hier diese Hilfe ein Beinstellen, die Verkündung eine Zweideutigkeit, die Verheißung eine Fopperei, die Begrüßung ein feindlicher Hohn wäre! Damit, daß wir das bedenken, haben wir, wie es für die innige Aufnahme der Tragödie not tut, aus Macbeth, was immer Entsetzliches er tue, den Bruder unsres Herzens gemacht, einen solchen aber, der in leibhafter Wirklichkeit auf gehobener Ebene verkörpert und erlebt, was uns in den Eingeweiden stecken bleibt. Nicht eine zufällig-äußerliche Wirklichkeit fabelhafter Ferne, sondern unsre nächste Gefahr, den Nachbarn all unsrer Emotionen und Begierden, die Wahrheit unsres Innern stellt Macbeth uns vor Augen. Er ist ein tragisch, ein dämonisch Auserwählter, ein übers menschliche Maß hinaus Gesteigerter und über Menschenkraft Gequälter wie unser Vater Prometheus, der zum Tisch der Götter zugelassen wurde, wie unser Bruder Ödipus, über den die Götter in dem Spiel, das sie da droben üben, schon vor der Geburt das Los warfen. Nun sollten wir bereitet sein, zu hören, was er ist, was er tut, was er leidet, was ihm geschieht. Er ist einer der Großen Schottlands, der Vetter des Königs Duncan. Solange Malcolm, der älteste Sohn des Königs, nicht für volljährig und thronberechtigt erklärt ist, darf Macbeth sich für den rechtmäßigen Thronerben halten. Auch in Schottland geht es so zu, wie damals fast überall: eine richtige Thronfolgeordnung besteht nicht zu Recht; es ist eine Mischung aus Wahlrecht der Stände und Erbkönigtum; keineswegs folgt immer der älteste Sohn, oft ein andres, nah oder fern verwandtes Glied des Königshauses, das sich durch Kraft oder Erfolg hervortut. Macbeth jedenfalls ist seit langem von keinem andern Gedanken erfüllt als diesem: König zu werden. Daran, wie lange das schon in ihm bohrt, erinnert ihn seine Frau in entscheidender Stunde. Und nun ist der Moment zugleich da und vorbei: in schwerem Kampf, wo er Wunder der Tapferkeit und Feldherrnkunst vollbracht hat, während der weiche König zugesehen hat, hat er mit Banquo zusammen den Aufruhr und den äußern Feind, den Norweger, niedergeschlagen. Der Thron hat gewankt, nun ist er befestigt: Macbeth wird reich belohnt, in Rang und Macht erhöht; aber unmittelbar nach der Schlacht, in Anwesenheit Macbeths und der andern vertrautesten Stützen des Throns, wird Malcolm vom König zum Erben des Reichs ernannt. Soll es dabei bleiben? Soll der Retter des Reichs, der so lange den Gedanken genährt, dereinst König zu sein, von Stund ab, von der Stunde seiner größten Leistung und Herrlichkeit an vom Thron ausgeschlossen sein? Jetzt ausgeschlossen, wo seine Berufung, sein geheimer Wunsch gerade eben, im Anschluß an die Schlacht, von den Dämonen bestätigt worden ist? Wir sind dabei gewesen, wie zum ersten Mal in seinem Leben die Welt des Geheimnisses nicht von innen, sondern real von außen zu ihm gesprochen hat; und daß diese drei Schicksalsschwestern, die ihm im Gewitter auf der öden Heide sichtbar wurden, nicht Einbildungen seiner erregten Phantasie, sondern Vertreter der Geisterwelt waren, dafür ist Feldherr Banquo der Zeuge, der dabei gewesen und auch mit ihnen gesprochen hat. „Heil dir, Macbeth, Than von Glamis! Heil dir, Macbeth, Than von Cawdor! Heil dir Macbeth, König demnächst!“ So begrüßen ihn die schrecklichen Weiber. Das erste ist er, aber noch nicht lange; das zweite scheint unmöglich, der Than von Cawdor lebt, und doch erfüllt es sich sofort aufs erstaunlichste; und das dritte? König demnächst? Die Hexen haben einmal gewußt, was noch kein Mensch wissen konnte; und nun? Wie weiter? O, es scheint schnell kommen zu sollen, dieses künftige Große; es scheint auf seine eigne Seele gelegt: der König will die Nacht in Inverneß, auf Macbeths Burg verbringen! Und nun, da unsre innere Bühne noch einen weiteren Schauplatz umfaßt als die Shakespeares, müssen wir, während der Abend sinkt, die Kavalkade über Hügel, Täler und Heiden reiten sehen, dahinsprengen hören. Der König und sein Gefolge in schnellem, fröhlichem Ritt, Macbeth aber weit voraus, um Quartier zu machen! Das muß Schickung sein; muß mit den Geistermächten zusammenhängen; welch eine Gelegenheit, die so nie wiederkehrt! Auf einmal der anerkannte Held des Landes geworden, geehrt und gefürchtet von allen, -- und der König heut zur Nacht in Inverneß! Es muß alles vorbereitet werden; jetzt, jetzt muß es geschehen, muß ins Werk gesetzt werden, was kommen soll, was verkündigt ist -- -- der Gedanke läßt ihn keinen Augenblick. Und zu Hause sitzt ihm eine, die all sein Planen in ergebenster, mitreißender, befeuernder Gattenliebe teilt: sie muß vorbereitet werden, sie muß vorbereiten: und noch schneller als er sprengt ein Bote voraus, der die Nachricht bringt: der König kommt, kommt heute zur Nacht, trifft sofort ein! Fast zu Tod erschöpft steigt der Bote vom Pferd, außer Atem; er selbst kann in dem Zustand nicht vor die Herrin treten; ein Diener bringt ihr die Meldung. Das ist „große Zeitung“. Selbst der Rab’ ist heiser, Der krächzt den Schicksalseintritt König Duncans In meine Mauern. Wie wunderbar schnell das alles sich fügt! Jetzt eben erst -- die beiden halten sich in steter Verbindung mit einander -- hat sie den Brief gelesen, den ein früherer Bote gebracht hat, der ihr die Nachricht von Macbeths Sieg, von der Begegnung mit den Hexen und ihrer übermenschlichen Kunde und der sofortigen Erfüllung der ersten Prophezeiung gebracht hat. Schon war die Stimmung in ihr: es muß geschehen, es muß getan werden. Und nun, wo ihr die Gelegenheit ins Haus rennen soll, ist sie ganz gerüstet, ganz reif. Hier werfen wir erstmals einen Blick auf die seltsame Gleichheit und Ungleichheit dieses liebenden Ehepaars. Ihn belauschen wir in seinen innersten Gedanken, seinen dialektischen, die Vorfälle hin und her werfenden Erwägungen. Eine überirdische, eine metaphysische Verkündung und Lockung ist zu ihm gekommen; schlimm kann sie nicht sein, denn, sagt er sich, ein Pfand des Erfolgs ist ihm sofort in die Hand gegeben worden. Schlimm wäre also für ihn das Wesenlose, das Unwirkliche, das Lügenhafte. Aber gut? Gut kann diese Prophezeiung auch nicht sein; denn er vermag es nicht, ruhig, geduldig, vertrauend abzuwarten, bis sie eintrifft; Mord liegt ihm im Sinne; er bekennt sich’s sofort. Dann aber ruft ihm wieder eine Stimme zu, es müsse alles gut und in Ordnung sein; er solle sich doch nur beruhigen und still halten; diese Geister sagten ja die Wahrheit: Will Glück mich König, möge Glück mich krönen Ohne mein Zutun. Das aber ändert sich, sowie er vor den König getreten ist; da wird schon klar, wie’s gemeint war; da bietet sich die dringende Aufforderung: Prinz Malcolm ist nun zum Thronfolger ausersehen; ihm soll genommen werden, was ihm zukommt, was er will, was er braucht; aber es bietet sich auch die Gelegenheit: der König wird sein Gast. So also ist’s gemeint; auf ihn ist die Tat gelegt; hält er sich still, wird er nie König, er soll’s aber demnächst werden, er soll also mithelfen, jetzt oder nie ist die Gelegenheit. So deutet er sich den Zusammenhang aller innern und äußern Momente. Und doch schwankt er noch und will gerne schwanken; er ahnt: die Entscheidung findet sich, zu Hause, bei der Frau. Darum der Eilbote; darum sprengt er selber dem König voraus; er muß ihren Rat, ihre Stimme vorher hören. Sie ist die teuerste Gefährtin seiner Größe, wie er sie nennt; die Liebe dieses Paares, dem die Kinder weggestorben sind, ist ganz auf den großen Plan, auf das Kind seines Ehrgeizes gesammelt. Er denkt, noch schwankend, unbestimmt; was er aber brütend sinnt, das hält sie, nachdem er ihr’s gesagt hat, mit eifernder Hingebung fest. Sie ist weder ein Mannweib noch eine Furie, auch in der äußern Erscheinung ganz weiblich; wir wissen, wie klein ihre Hand ist, wie ihr Mann in der Mannigfaltigkeit kosender Anreden, die er im Brauche hat, „zarte Frau“, wohl auch einmal „liebes Täubchen“ zu ihr sagt. Der Unterschied zwischen den beiden ist der: der Abstand zwischen Unterbewußtsein und Oberbewußtsein funktioniert in ihnen verschieden; es sind in ihnen andre Pendelschwingungen zwischen Vorsatz, Vorstellung, Phantasie und Gefühl. Der Plan, die Idee: ich muß König werden, stammt sicher von ihm; es wird uns ausdrücklich gesagt. Sie nimmt ihn auf, folgt und geht dann voraus, da sich, was sie erst einmal eingesehen hat, hemmungslos mit ihrem Willen verbindet und da es Hindernisse für sie nicht geben darf; andre Gedanken können gegen seinen Königsgedanken nicht aufkommen; und das Gefühl bleibt tief drunten. „Du willst; also tu’s auch.“ Es gibt nichts Klareres. Er aber hat Hemmungen, die in seinem Oberbewußtsein, in seiner vernünftigen Sphäre, das Wort in umfassendem Sinn genommen, vor sich gehen; er hat die Moral, das Religiöse, das Bangen und Schwanken in Verbindung mit der vernünftigen Überlegung. Er hat von Haus aus Weite in seinem Kopf; sie ist darin ganz eng und darum unheimlich klar, scharf und bestimmt. Denken, Planen heißt für sie nichts andres als die Mittel für das Gewollte suchen. Da begreift sie kein Schwanken, kein Zögern; sie rüttelt an ihm und ist imstande, fast verächtlich von ihm und zu ihm zu reden. Sehr wahr ist etwas, worauf Grillparzer hinweist: „Shakespeare hat hier nicht bloß Macbeth und seine Gattin, er hat Mann und Weib überhaupt geschildert.“ Besser wäre zu sagen, daß der Dichter den ganz besonderen Mann Macbeth in seiner einmalig individuellen Situation nie aus dem Umkreis der Mannesart, das individuelle Weib, seine Frau, nie aus der Sphäre des Weiblichen entfernt. Und wenn Grillparzer dann weiter sagt, in Lady Macbeths Seele sei der Entschluß im ersten Augenblick reif, so ist das nur wahr, wenn man dazu sagt, daß es der Gedanke ihres Mannes ist, der in ihr sofort zum Entschluß erwächst und gesteifter Tatwille wird. Richtig ist jedenfalls, sie bestimmt ihn zu seiner Tat, feuert ihn an, hält ihn wie mit Klammern darin fest. Aber nun das sehr Richtige und Wichtige, was Grillparzer beobachtet hat: „Aber jetzt, da gehandelt werden soll, kehrt sich auf einmal das Verhältnis um. Macbeth schaudert, aber handelt; sein Weib, die Entmenschte, die Verlockerin, war vor ihm in Duncans Zimmer, sie hatte die Dolche in der Hand, -- ‚hätt’ er nicht im Schlaf meinem Vater ähnlich gesehn, ich hätt’s getan!‘“ Und Grillparzer, der von Anfang an gewußt hat, wie das Genie nicht blind hinwirft, sondern sein Handwerk verstehn muß, fügt ganz begeistert hinzu: „Ich ärgere mich oft über mich selbst, daß ich die Idee, etwas zu schreiben, nicht aufgebe, wenn ich so was gelesen habe.“ Sie also kann weder ursprünglich denken, noch letztgiltig handeln; da stellt sich ihr der Schauder in den Weg; aus dem Gebiet, das sie oben nicht kennt und nicht duldet, aus dem Gebiet der Erinnerungen, Assoziationen, Verwandtschaften und Träume, aus dem zu Gefühl gewordenen Leben der Vergangenheit herauf tritt etwas dazwischen und lähmt ihre Hand. Zunächst aber tritt viel mehr die Einigkeit des Paars als seine Getrenntheit zu Tage; das ist schauerlich wie das Eingreifen der Unterirdischen in das Werk der Menschen, wie diese zwei zu schnödestem Mordplan in ganz inniger Liebe verbunden sind. So stellen wir uns bewundernd und ohne Schauder einen Löwen und seine Löwin vor; nur daß wir hier doch von Anfang an wissen und fühlend miterleben: das Bluthandwerk ist nicht ihr Beruf; es sind trotz allem empfindende, phantasiebegabte, leidende und mitleidige Menschen! Zunächst aber spüren wir nur den frevlen Gegensatz zwischen ihrer Liebe zu einander und ihrer Unmenschlichkeit, und dazu den Gegensatz zwischen dem Vertrauen des Königs und ihrem Plan. Macbeth ist rasch vom Pferd gesprungen, ahnt die Königskavalkade dicht hinter sich, es ist nur Zeit für ein paar hastige Worte, aber sie verstehen sich sofort: Geliebtes Weib, Der König ist heut’ Nacht bei uns. So tritt er in die Tür, und damit ist für sie in beschwörender Zärtlichkeit alles gesagt. Sie wendet sich sofort, in fest zusammengenommener, schneidender Kürze zum Praktischen: Und geht? Eine unwahrhaft zögernde, schwankende und doch vielsagende Antwort kommt von ihm: Schon morgen, hat er vor. Da, so sehr die Minute drängt, läßt sie sich Zeit zum Ausbruch, aber rasch, heiser, zwischen Flüstern und Schreien: O nimmer soll Die Sonne dieses Morgen sehn! Der König kommt und fühlt sich ganz wohl: es ist der Abend nach der siegreichen Schlacht; ihm scheint eine Stimmung des Friedens und der Behaglichkeit in der Luft zu schweben. Und Banquo, dem allerlei Gedanken fürs Nächste und Entfernte durch den Kopf gehen mögen -- er war dabei, wie dem Macbeth die Königskrone verheißen wurde, und hat ihn dabei gut im Auge gehabt, und ihm, Banquo, ist von den wissenden Schwestern verkündet worden, seine eigenen Nachkommen sollten einst Könige sein --, Banquo bestärkt den König in seinem harmlosen Vertrauen. So geht man zur Tafel. Macbeth ist noch keineswegs mit sich im reinen. Er nimmt keine Rücksicht darauf, daß es auffallen muß, wenn der Wirt seine Gäste allein läßt; er kann nicht still sitzen; er geht hinaus und erwägt. Es sollte schnell geschehen -- aber die Folgen müssen bedacht werden. Wie wird’s die Welt ansehen? welches Mitleid wird aufsteigen? die Tat ist unerhört: der Untertan ermordet den König; der Vetter den Nahverwandten; der Wirt den Gast; bei Nacht den Vertrauenden; blutige Taten gegen ihn selbst können folgen. Die Frau kommt dazu; sie begreift von alledem nichts. Wozu jetzt dies auffällige Benehmen? Er hat’s doch schon lange beschlossen; jetzt ist die Gelegenheit, das kann er nicht leugnen; wie kann er schwanken? Er hat sich’s zugeschworen, hat’s ihr geschworen: König zu werden; was er geschworen hat, muß er tun. Nicht der entfernteste Gedanke kommt ihr, an welches Heilige und Unverbrüchliche gerade der Schwur des Menschen gebunden ist; sie versteht nichts andres in ihrem Hirn als dieses Festhalten am Wort; sie formalisiert ihn und nagelt ihn fest; eigensinnig, beschränkt wiederholt sie ihm, was er doch immer selbst gesagt; und um ihm vorzuhalten, was Konsequenz und was Mannhaftigkeit ist, zeigt sie ihm, und es verbindet sich dabei wahrhaft erhabenes Gefühl mit ihrer Vorstellung, was es doch heißen wolle, sich Wort zu halten und seinem Vorsatz treu und fest zu sein, sie zeigt ihm, was sie als Frau Gräßlichstes, Unnennbares zu tun imstande wäre, wenn sie’s nur erst sich vorgesetzt und sich und dem Gemahl geschworen hätte; sie sagt es und sie glaubt es: Ich hab’ gestillt und weiß, Wie süß es ist, ein liebes Kind zu nähren, -- Ich hätt’ ihm, wie es mir ins Auge lachte, Die Brust gerissen aus den weichen Kiefern, Sein Hirn zerschmettert, hätt’ ich’s so geschworen, Wie du geschworen hast! Diese ihre Logik, Konsequenz, Entschlossenheit mit dem eiskalten Pathos des Willensgedankens sticht wie ein blitzender Dolch in das nächtige Dunkel, das wogend um ihn und in ihm braut. Der Mann täte die Tat, so glauben wir in dieser Stunde, niemals, wenn nicht diese dämonischen Mächte, dieses Teuflische wäre, wie es erst von den wüsten Weibern in feierlicher Begrüßung und jetzt von seiner schönen Frau mit seinen eignen Gedanken zu ihm spräche, wenn nicht das Ungeheure ihn wie überirdischer, wie Geist- und Liebeszauber anlockte. So tritt jetzt das Dämonische sichtbar, greifbar aus seinem Innern heraus; jetzt wohnen wir seiner ersten Halluzination bei: den Dolch, gerade so einen paßlichen für diese Tat, sieht er vor sich lockend in den Lüften schweben und den Weg weisen; nun ist er zur Tat entschlossen, wie einer, der unentrinnbarem Joch den Nacken beugt; er fühlt sich in die Geisterwelt aufgenommen, und es ist ihm, als wäre sein Mord so etwas wie das Tun eines Mondsüchtigen oder der Zwang, der einen Sklaven der Wollust auf seine Wege zieht. Er ist in den Zauberkreis getreten; der Bund mit den elementaren Mächten ist geschlossen; er tut, was er muß; ernst, schaudernd, wie ein hoffnungslos Bezeichneter. Derweile besorgt die Frau in umsichtiger Ruhe, was vorbereitet werden muß. Das kann sie gemächlich tun; was sollte sie dabei stören? Dieses Zubereiten des Schlaftrunks, dieses Berauschtmachen der Männer, das sind der äußern Erscheinung nach alles Hausfrauen- und Köchinnenangelegenheiten, und nichts Bildhaftes ist dabei, was aus ihrer Tiefe Unwillkürliches und Unbewußtes emporschnellen und ihr in den Weg wälzen könnte. So geschieht die Tat. Trunkenheit liegt über den Gästen, betäubender Schlaf über den Wächtern, die sie erst wie in Ausübung häuslicher Handwerkskunst mit Blut bemalt, er dann in raschem Entschluß tötet. Über Macbeth aber kommt sofort die Reuequal, das inständige Leiden. Stimmen tönen ihm durch die Nacht: Schlaft nicht mehr! Macbeth mordet den Schlaf! Und er fühlt: von nun an wird er selbst nicht mehr schlafen können. Sie aber ist immer noch, noch lange, ganz besonnen; von Stimmen hört sie nur, was sie auf der Burg von Inverneß zu nächtlicher Stunde gewohnt ist: die Eule mit ihrem Schrei, das Heimchen mit seinem Gezirpe; das macht ihr nichts; sie ist in keine andre Welt eingetreten. Vielmehr redet sie ihm rationalistisch gut zu: über so was darf man nicht grübeln; man darf seine Tat nicht ansehn; ein bißchen Wasser wäscht das Blut von der Hand. Wie anders werden wir’s noch von ihr hören! Gerade das! Zunächst aber gelingt alles; das auffällige, das törichte Benehmen Macbeths sieht wie herausfordernde Verwegenheit des Mächtigen aus. Die Prinzen fliehn und bringen sich dadurch in Verdacht; so ergibt sich von selbst, daß Macbeth, der Erbberechtigte, der Mächtigste, König wird. Die Prophezeiung, die nur er und seine Frau und noch einer kennt, ist erfüllt; kein Verdacht wagt es, laut zu werden. Es schweigt vor allem -- Banquo. Da scheint ein seltsam stillschweigendes Einverständnis zu herrschen; er ist eine Art Mitwisser und Mitschuldiger; er ist mit bei den Hexen gewesen. Er steht da wie einer, der seine Zeit abwartet. Und hat er nicht doppelt Grund dazu? Ist, zwar nicht ihm selbst, aber doch seinem Geschlecht, nicht die Nachfolge verheißen worden? Für ihn also und seine Erben soll Macbeth das Gräßliche getan haben? Nein; diesmal will Macbeth den Kampf mit dem Schicksal, mit der Vorbestimmung selbst aufnehmen; es soll nicht kommen, wie die Sprecherinnen des Schicksals verkündet haben: Banquo und dazu noch sein einziger Sohn, beide müssen sie fort aus der Welt. Er ist es dem Schicksal, seinem Schicksal, schuldig, sich der Verheißung, die einem andern zu Teil wurde, nicht zu fügen, sondern zu tun, was geboten ist. Das ist das Eigentümliche an diesem Macbeth, der sein Alles an Eines, an die Macht, gesetzt, der seine Phantasie nur nach diesem Einen hat fahren und an ihm scheitern lassen, daß er nun seinem Trieb und der Notwendigkeit seines Schicksals folgt wie einer Pflicht. Das hat Goethe gesehen: das Wollen wird in Macbeth zum Sollen. Seine Tat an Duncan hat er geleistet, weil er sie schuldig war, seinem Willen, dem Verhängnis, seiner pochenden Frau, und nun folgt Schuld auf Schuld: alles aber tut er finster, hart, in gepreßter Verzweiflung, wie ein Sklave. Daß er froh lachen oder lächeln könnte, solche Vorstellung ist uns unmöglich; ja später, wenn er noch eine Stufe weiter gekommen ist, wird er höhnisch auflachen können, wenn er an seine Unbesiegbarkeit und an die Hexenoffenbarungen denkt. Es wird immer einsamer um den lustlosen Mann. Noch ist er gut und sanft zur Königin; aber er zieht sie nicht mehr ins Vertrauen; er ist nicht mehr der Mann, der er früher war, wo er so gern und immer wieder ihr all sein Inneres eröffnete und seine Träume und Pläne mit ihr besprach. Er hat genug von den Folgen, die diese Vertraulichkeit gehabt hat; er zieht sich ins Schweigen zurück; damit schont er sie und sich selber. Die Ermordung Banquos, durch gedungene Mörder, die auch eigene Gründe zur Rache haben, entwirft er allein. Die Tat geschieht; ihr phantastisches Element, das dem verheißenen Schicksal entgegentreten sollte, mißlingt; Banquos Erbe entkommt; eine neue Bestätigung für die Wahrheit der Hexensprüche; aber Banquo, die Gefahr für des Königs Wirklichkeit, ist aus dem Wege geräumt. Nun aber tritt das Dämonische ganz gewaltsam aus seinem Innern heraus. Längst ja zwingt sich der unselige Mann zu Dingen, die über seine Kraft, über seine Natur gehen; in dem Augenblick, wo er da droben in der Bewußtseinswelt die Zunge mit seinem Willen zwingt, heuchlerisch zu reden und die Abwesenheit dessen zu bedauern, den er hat morden lassen, stellt ihm das Unterbewußtsein die Gestalt des Ermordeten, so blutig und entstellt, wie seine Phantasie drunten sie sich ausmalt, leibhaft vor Augen. Nur er sieht die Gestalt, keiner der Gäste beim Bankett, und ganz gewiß nicht die Lady, die uns hier noch einmal in ihrem Rationalismus gegenübertritt; sie versteht ganz gut, was geschehen ist; aber sie versteht nicht, wie man so sein kann; wollen und nicht wollen; überlegt tun und bereuen; wie seltsam! Banquos Erscheinung ist eine Halluzination der Angst und des Grauens; keiner hat sie gesehen, aber alle haben gehört, die fürchterlich verräterischen Worte ihres Königs gehört. Das Land weiß nun, daß der König durch greulichen Mord auf den Thron gekommen ist; seine eigne Zunge hat’s ausschwatzen müssen. Und er wiederum weiß, daß die andern ihn jetzt kennen: er fängt seine Schreckensherrschaft an; er muß. „Wir sind noch jung in solchen Taten.“ In furchtbarer Bitterkeit entschuldigt er sich für seine Empfindsamkeit. Er weiß: er muß fortfahren, wie er begonnen. Und nun _sucht_ er die, die einstmals von selbst, wie von selbst seinen Weg gekreuzt. Er weiß, hat es heute Abend durch Banquos Erscheinung wieder neu erfahren: mit ihm ist’s nicht wie mit andern Menschen. Er dient den Dämonen, sie sollen auch ihm dienen. Er will alles wissen, will sein Geschick ganz kennen; will alles tun, was das einmal Begonnene erfordert; und gälte es, weiter und immer weiter durch Blut zu waten. Zurück? Das ist unmöglich. Vorwärts also! Und so geht er streng entschlossen zu den Hexen in ihre Höhle. Aber sie sind nun, wo er selber kommt, nicht mehr die nämlichen. Die Wendung ist da; Hekate selbst, die Herrin und Göttin teuflischen Zaubers, hat eingegriffen; bisher haben die bösen Triebe und Gewalten ihm gedient und ihn hochgebracht; jetzt, wo er die schlimmste Mordtat begangen, wo er letztgiltig sein besseres Ich getötet und sich zum Weg des Unholds entschlossen hat, muß völlige Verblendung über ihn kommen: der Wahn, ein Cäsar, ein Gott, ein Unverletzlicher, ein Erkorener zu sein. So werden ihm in der Hexenküche die drei neuen Verkündigungen offenbart, die so sonderbar in einander greifen und die für ihn doch keinerlei Widerspruch enthalten. Zuerst wird er vor Macduff gewarnt. Nun, das ist gut und sicher ehrlich; dem hat er schon von selber nicht getraut; da soll abgeholfen werden. Und es wird ja auch wohl gelingen, ihn unschädlich zu machen; denn die zweite Verkündigung lautet, daß keiner, den ein Weib gebar, kein Mensch in der Welt also, ihm etwas anhaben kann; und die dritte, daß er unbesiegt bleibt, solange nicht der Wald von Birnam gegen seine Bergfestung Dunsinan anrückt! Ja ja, so schwungvoll in Bildersprache drücken sich diese phantastischen Geister aus, das kennt er schon; er aber, der jetzt genug hat von der Phantasie und nüchtern geworden ist, übersetzt es sich in unsre gemeine Menschensprache. Immer also, immer, sein Leben lang soll er unbesiegt bleiben! Kein Menschenkind soll ihn überwinden können! Jetzt hat er, was ihm einzig noch das Leben erträglich macht, was ihn auf einmal befreit von allen Ängsten; denn bei all seinen Anfällen war es ja immer die trügerische Ungewißheit, was ihn erschreckt hat, waren es ja vor allem die Folgen, die er gefürchtet hat. Aber jetzt hat er, was er braucht, was ihn festigt und feit, was ihn über alle andern Menschen weit erhebt: die Sicherheit! Eben die Sicherheit, die ihm Hekate als Höllenangebinde zugedacht hat. Er hat die Sicherheit, aber er ist nicht der Mann, sich in ihr zu wiegen; er hat nicht vergessen, womit es angehoben hat: daß die Geister den Spruch verkünden, und daß er selber das Amt hat, ihn auszuführen. Kaum einen Augenblick überläßt er sich dem Gefühl der Befriedigung; dann will er noch mehr wissen; sein Wille möchte übers Grab hinaus wirken; wird Banquos Nachkommenschaft je über Schottland herrschen? Und er sieht die ruhmreichen Könige vor Augen, die nicht seine, die Banquos Erben sein sollen. (Das empfanden Shakespeares Zeitgenossen nebenbei als eine Huldigung für König Jakob, der seinen Stammbaum auf Banquo zurückführte; uns geht das nichts an.) Macbeth hat genug von dem Hexenwesen; die Wut bäumt sich auf und weiß doch, daß sie gegen das Schicksal ohnmächtig ist; aber in Ausführung des Schicksals gilt es nun, grimmig im Lande zu wüten, zumal er sofort beim Verlassen der Höhle die bedenkliche Botschaft empfängt, daß Macduff nach England geflohen ist. Jetzt soll ein neues Regiment beginnen; hätte er gegen Macduff sofort so gehandelt, wie es sein Argwohn ihm eingab, so wäre das nicht geschehen. Nun ist er so weit, wie die Frau ihn hatte haben wollen: keine Lücke darf es geben zwischen Gedanken und Tat; ohne Besinnung, ohne Pause soll fürder ausgeführt werden, was er will, was er soll. Das ist von je sein Feind gewesen, das Grübeln, die Besinnung, die Betrachtung der Tat vor ihr und nach ihr. Jetzt hört das auf; er hat Sicherheit; Sicherheit vor allem über seine Aufgabe: wie ein Würgengel um seinen Thron zu mähen, auf daß er ungefährdet, unnahbar und erhaben in der Leere stünde. Macduff ist weg, der einzige, den er noch fürchten soll; da will er helfen, er braucht keine Geister dazu, will nie mehr mit ihnen zu tun haben, die ihm ein höllisches Leben bestimmen, aber keine Kinder und keine genießenden und entsühnenden Erben gewähren. Sofort soll Macduffs Burg überfallen, soll alles zerstört, sollen Weib und Kinder getötet werden. Und immer einsamer wird es um Macbeth. Auch von seinem Weib trennen ihn jetzt Schranken wie Tore der Hölle; da er nun geworden ist, wie sie ihn wollte, braucht er sie nicht mehr. Er braucht kein Gespräch mehr und keine Vertraute; er braucht sich nicht zu äußern und kann sich nicht äußern; die Tat ist seine Äußerung; er hat keine Gemeinschaft, hat keine Liebe, hat kein Geschlecht mehr. Er ist der Tyrann: lebendig an ihm sind nur seine Taten. So tritt er denn im Drama fürs erste in den Hintergrund, wie schon vorher die Lady; wir sehen seine Wirkungen. Persönlich tritt nun Macduff hervor, der Than von Fife, der Mann aus einer andern Welt, deren wir uns nun aufatmend versichern: er will nur den als König anerkennen, der auch die Tugenden des Herrschers hat; wundervoll ist diese Szene, wie Malcolm, der junge Prinz, zu dem er nach England kommt, ihn prüft, ob er kein Verräter, kein mörderischer Abgesandter Macbeths ist; wie der Prinz sich selber alle Laster zuschreibt; wie Macduff auf die Frage, ob so ein habgieriger, grausamer Lüstling zu herrschen verdiene, ausbricht: Zu herrschen wert? Nein, nicht zu leben! -- Unglücksel’ges Volk! Und gleich darauf trifft den edeln Macduff die Nachricht vom gräßlichen Untergang seines Hauses: von der Ermordung der Frau und der Kinder. Eine der innigsten Szenen Shakespeares ist das, wie der vom größten Leid Angesprungene kein Wort spricht, das Gesicht im Hut verbirgt und dann, als Worte kommen, als er im Bilde sieht, wie der Geier auf sein Nest losgestürzt ist, immer wieder fragt: Alle? Alle? All meine lieben Küchlein? samt der Henne? Und wie er sich dann mannhaft faßt, den Schmerz um all seine Lieben zum Schmerz ums Vaterland, um das von einem Tyrannen gequälte Volk werden läßt, da kommt es in aller Ergriffenheit wie Glück über uns: wir haben einen Mann und Menschen gesehn, in dem Liebe, Innigkeit, Güte, Klarheit, Beherrschtheit in Harmonie stehen. Und unmittelbar -- zum Beginn des Schlußakts -- folgt dann die große Szene der Unharmonischen. Nun dürfen wir in Grauen miterleben, was alles in Lady Macbeth gelebt und empfunden hat, ohne daß sie’s hat hochkommen lassen, ohne daß sie’s gewußt hat. Bei dieser Szene, wo ein enger, aber gewaltig starker Verstand endlich, endlich überwältigt wird von der lange niedergedrückten Innerlichkeit, darf uns das entscheidende Wort in den Sinn kommen, das im Kaufmann von Venedig die Lösung gebracht hat, das Wort von dem Menschen, der nicht Musik hat in ihm selbst, -- denn die Musik, die Harmonie war in diesem ärmsten Menschen, diesem bösen Weiblein gestört, und die Seelenkrankheit der Nachtwandlerin rührt uns nun zu Tränen beglückend wie die Auflösung einer Dissonanz. (Kein Wunder drum, daß diese Nachtwandelszene ganze Opern geboren hat.) Nun wäscht sie ohne Unterlaß und immer ohne Erfolg und ohne Ruhe die Flecken ab, von denen ihr Rationalismus so kühl gemeint hatte, ein Händewaschen genüge; nun stören Banquo und Lady Macduff ihren Schlaf, an deren beider Tod sie selbst keine unmittelbare Schuld trägt; nun seufzt und klagt sie aus dem Schlafe und zerstört sich von innen heraus. Was tief drunten in ihr verschüttet lag, hat alles, alles in sich gesammelt, was sie nicht des Aufmerkens für wert hielt; es war immer noch eine andre in ihr als die, die vor sich und der Welt die Rolle der Lady Macbeth spielte, -- und nun ist sie gekommen, die Unterdrückte, und ringt gewaltig mit der bösen, falschen Tyrannin ihrer selbst. Man sagt später, „durch Gewalttat ihrer eignen Hände“ solle sie sich das Leben genommen haben -- und das ist sicher wahr, für ihr Ende und für all die Jahre vorher, gleichviel, wie ihr äußeres Ende schließlich war. Diese Szene geht auf derselben festen Burg Dunsinan vor sich, in der der Tyrann haust, -- aber haben wir nicht dabei immer das Gefühl, die beiden, die einst so nah und zärtlich beisammen waren wie ein Sittichpärchen, seien jetzt längst meilenweit getrennt? So wundert’s uns nicht, daß Macbeth, wie er mitten im letzten Verzweiflungskampf die Nachricht von ihrem Tod erhält, aus seiner versteinerten Öde heraus das Ding erst wie einen unwillkommenen Botenbericht von sich schieben will: Sie hätte später sterben sollen; Es wär’ wohl Zeit für solch ein Wort gekommen. Dann aber kommt es doch, nicht wie Trauer um sein geliebtes Weib, um diesen besonderen Menschen, sondern wie eine Besinnung über die Sinnlosigkeit des ganzen Lebens über ihn. In diesem Augenblick, wo der Verblendete, der eiserne Mann der Sicherheit, sich zu besinnen anfängt, will auch in ihm wieder der alte Macbeth erwachen; auch für ihn ist diese Auferstehung die Ankündigung des Endes. Wie der Zugefrorene sich aber jetzt in der wüsten Welt, in seinem verwüsteten Leben umzusehen beginnt, was gewahrt er? Das Leben ist Kerzenlicht, das Narren ins modrige Grab leuchtet! Das Leben ist nichts als bewegter Schatten! Das Leben ist ein armer Komödiant, Der auf der Bühn’ ein Stündlein lärmt und tobt Und dann nicht mehr gehört wird; ’s ist ein Märchen, Erzählt vom Irrsinn, voller Lärm und Wut, Dessen Bedeutung: nichts. Nichts! -- Der Systematiker des Nihilismus konnte es nicht deutlicher, nicht grimmiger sagen, -- nichts bedeutet ihm mehr das Leben. Auch ist er gar nicht mehr ein Lebendiger, gar nicht mehr er selbst: nur noch der klapperdürre Träger eines Staatsgewandes, nur noch eine hohle Rolle, nur noch der Mann, der spielen muß, was die Dämonen aus ihm gemacht haben. Er selbst der Schauspieler, der den Tyrannen mimt, -- aber er will, er muß ihn weiter spielen, den königlichen Herrn, der unbesiegbar ist. Er hat den erhabnen Wahn, den Cäsarenwahn, hat fast ein Gefühl, als könne er nicht sterben, -- wo doch etwas irgendwo in ihm sich so längst nach Erlösung sehnt! Nach Erlösung aus dem Tode, den er als Leben führt. Jetzt aber kommt, woran er nicht glaubt, wogegen er sich versteinert, das Ende, die Nemesis, die Überwindung. Das Unmögliche richtet sich in seiner Welt der Tatsachenwirklichkeit auf -- der Wald rückt gegen seine Burg heran! Das ist uns, auch wenn wir nichts von ähnlichen Sagen wüßten, wie ein Mythos: das grünende Leben empört sich gegen den Steinturm des Tyrannen, dem das Herz auch von Marmelstein ist. Wir kennen aber, aus einer deutschen Überlieferung, die Sage von dem König auf seiner festen Burg, gegen den am Maientag der König Grünewald angerückt kam, alle Krieger mit grünen Maien geschmückt; da rief die Königstochter: Vater, gebt Euch gefangen, Der Grünewald kommt gegangen! So wird in der Sage der Winter vom Frühling besiegt. So wird auch der längst vereiste Macbeth von dem glühend reinen Prinzen Malcolm, von dem warmherzigen Macduff, von dem ehrenfesten alten Siward, dem weisen und beherrschten, überwunden. Die Orakel erfüllen sich und enthüllen sich in ihrer Zweideutigkeit; und wie um die tragische Ironie zu verdoppeln und den harten Tatsachenmenschen, den die Dämonie erzeugt hat, mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, löst sich alles Dämonische und Zauberhafte ins Natürliche auf, und die Unmöglichkeit ist lange nicht so unmöglich, wie die gefeite Sicherheit und Majestät von Hexen Gnaden, die der besessene König für Wirklichkeit genommen hatte: der Wald kann freilich nie gegangen kommen, -- aber Soldaten der Revolutionsarmee können Zweige tragen, um ihre große, überlegene Zahl dahinter zu bergen; kein vom Weibe Geborener sollte Macbeth je überwinden können, nun denn, Kleingläubiger, Ungläubiger, Wortgläubiger, Macduff hat aus dem Mutterleib geschnitten werden müssen. Und die Führer des Ständeheers, das den Sieg erlangt -- der Jüngling, der Mann, der Greis -- alle drei sind geprüfte Menschen der Harmonie; Trieb und Geist sind ausgeglichen in ihnen; ihr Fühlen, ihr Wollen, ihr Denken streben zur Einheit, ihr Unteres und ihr Oberes halten einander die Wage. Faust -- der Faust jener Zeit -- hat ein Bündnis mit dem Teufel geschlossen und wird am Ende vom Teufel geholt. In Macbeth haben sich die Teufel in der eignen Brust zusammengefunden mit den teuflischen Mächten der Welt; er war ein Besessener, der hoch kam und dem es glückte und der gebietend in der Macht stand wie mancher besessene Unhold; der kein Glück und keine Freude seitdem kannte; der wußte, daß er ein Fluch der Menschen war, und der, ohne zu wissen, wofür, ein Sklave der Pflicht, ein ganz hart und trocken gewordener Pflichtmensch, nur freilich dem Bösen verpflichtet, tapfer bis zum Schluß sein Dasein verteidigt, sein Nichts! Ich fechte, bis das Fleisch mir von den Knochen Gehackt ist. Daß er einst Gewissensbisse, Reue, Grauen, Angst vor Zusammenhängen und Folgen, Furcht vor den Menschen gekannt hat, ist ihm längst nur noch wie ein Märchen: Vergessen hab’ ich fast der Furcht Geschmack. Einst war die Zeit, wo meine Sinn’ erstarrten Beim nächtlichen Geschrei, wo sich mein Haar Bei einem Unglückswort erhob und sträubte, Als lebte es; ich aß mich satt an Grausen; Entsetzen, meinem blut’gen Sinn verwandt, Erstaunt mich nicht mehr. So wenig wie er mehr begreift, wozu man lebt, versteht er, wie man freiwillig dem Leben ein Ende machen, wie man dem Schicksal durch den Freitod entrinnen wollen kann. Nichts faßt er, was mit Freiheit zusammenhängt; es gibt kein vollendeteres Gegenbild des Brutus als diesen Zinspflichtigen des cäsarischen Dämons; wie in der letzten Schlacht die Not schon ans Äußerste geht, ruft er voller Hohn über so eine unmögliche Vorstellung: Soll spielen ich den römischen Narren und Ins eigne Schwert mich stürzen? So ist dieser Tyrann, der dämonischer Ehrsucht gefröhnt hat, der Narr und leibeigene Knecht des Lebenstriebs, eines Lebens aber, das keinen andern Inhalt hat als Macht über andre, leere, ziellose Macht, die sich nur behaupten kann durch unausgesetzte Gewalttat und die einen Sinn, auch nur für ihren Träger selbst, so wenig hat wie einen Erben. Und -- er hat es in einer Stunde, wo ihm mit dem einstmals Liebsten alles hinsinken und schwinden wollte, durchschaut -- solch ein öder Wille zum Dasein und zur Macht ist Wille zum Nichts. Solange er Angst und Reue und Qual hatte, war er noch irgendwie im Reich der Lebenden gewesen; sowie ihm die Hölle ihre unbewegte Ruhe und Sicherheit gegeben hatte, gehörte er dem Reich der Leere, dem Nichts an und war nur noch ein bewegter Schatten, ein Bühnenheld mit allerlei Lärm und Wut, der seine Rolle gut zu Ende führte und tapfer wie ein Held den Schlachtentod fand. Soviel ich weiß, können dem Dichter des Macbeth nur zwei spätere an die Seite gestellt werden. Den einen hat Otto Ludwig genannt: Goethe, den Dichter des Tasso. Für den andern halte ich Dostojewskij, den Dichter des Raskolnikoff und des Iwan Karamasoff. Wenn ich hier bei genialen Menschen, die zeitlich weit auseinander sind, von An-die-Seite-stellen rede, so kann ich damit nur meinen, daß ein Gleiches da ist und ein Trennendes, nenne man’s Fortschritt oder wie man wolle, es wird der Änderung im Geist der Zeit, aus dem oder gegen den der Künstler sich erheben muß, entsprechen. So auch, wenn wir von Shakespeare aus rückwärts gehn und in der Vergangenheit einen suchen, der seinesgleichen, der wie er also und anders war. Wir werden keinen eher nennen als Sophokles und werden erkennen: das Verhältnis des Menschen zu seinem Schicksal, das Verhältnis innerer und äußerer Dämonie ist in aller Gleichheit des Wesentlichen bei den beiden Dichtern ein anderes; die Macht der Vernunftsphäre, die Freiheit, in der der Mensch gegen das Verhängnis steht, die Macht des Individuums, sich zu wandeln und zu entwickeln, ist in Shakespeare größer geworden. Selbst an dem finstern, strengen und streng behandelten, aus der Bahn der Gewöhnlichkeit von den Mächten ins Reich metaphysischer Lockung und Verfolgung gehobenen Macbeth und in andrer Art an seiner Gefährtin erkennen wir die Möglichkeit des μετανοεῖν, der Buße, der Umkehr und Heimkehr ins wahre Wesen, das keinem Lebendigen in seinem Innern ganz und gar fehlen kann. Und dasselbe Verhältnis sehen wir fortschreitend zwischen Shakespeare und den beiden Dichtern, die nach ihm kamen. Das Gleiche in den Werken der drei Dichter, die ich nannte -- Shakespeare, Goethe und Dostojewskij --, ist, daß in vollendeter Art der Charakter sich selber sein Schicksal baut, daß nicht hier die Tat ist und dort, nachher, von außen die Vergeltung kommt, sondern daß Tat und Leiden ein einziger Zusammenhang sind: in der Tat, im ursprünglichen Wesen, das die Tat aus sich entlassen hat, liegt das Leiden, die Strafe. Ödipus straft sich selbst für das, was die Götter dadurch taten, daß sie ihm sein Schicksal gaben. Diese Männer neuerer Zeit indessen sind vom Weltengeist gestraft, nicht mit äußerem Schicksal zunächst, sondern mit ihrem inneren Wesen. Und was von außen als Strafe über sie hereinbricht, ist in Wahrheit der Anfang der Erlösung: auch für Macbeth, der längst kein Lebendiger mehr ist, wenn der Tod ihn von seinem Posten abruft. Hier aber fängt gerade der Unterschied an zwischen den Dichtern unserer näheren Zeit und Shakespeare: Strafe, Sühne, tragischer Ausgang fällt für die modernen Tragiker nicht mehr so unbedingt mit dem Lebensausgang zusammen. Den Knalleffekt des gewaltsam aus dem Leben gerissenen und dann als Leiche daliegenden Menschen braucht unser Empfinden und unser Geist -- denn die hohe Dichtung wendet sich keineswegs bloß an die Empfindung -- nicht mehr. Tasso wie Macbeth, beide leben ihre Tragödie, solange sie leben; aber für Macbeth und seine Welt ist es so notwendig, daß er als einer, der gewaltsam gelebt hat, gewaltsam von hinnen geht, wie für Tasso, daß das Äußere, Plötzliche, Einmalige des Ausgangs ohne Bedeutung ist. Bei dieser Gestalt kommt alles nur darauf an, daß ihr Wesen und Leben nicht in die Umgebung, nicht in die Welt paßt. Und wieder einer andern Tönung des mit der Zeit und dem Volksschlag veränderlichen Teiles der Ausdrucksgestalt des Geistes gehören Dostojewskijs Gestalten an. Raskolnikoff und gewiß auch -- das Werk ist unvollendet geblieben -- Iwan Karamasoff, beides Mörder gleich Macbeth, Iwan ein indirekter, der durch Psychologie die Mordtat zustande bringt, sie beide überleben ihre Tragik, leben über sie hinaus, überwinden ihr So-tun-müssen, So-wollen-müssen, das ihre Qual bedingt hat. Ihre Tragik, ihr Aufruhr, ihr Nicht-in-die-Welt-passen und Zerfall mit sich selbst, mit Gott und der Welt, ist ein Krampf und Übergangszustand der Jugend. Da ist ein Neues, und Goethe der junge Dichter hat nicht gewußt, nicht gestaltet, was Goethe der Mensch langen Lebens würdevoll bewährt hat: daß Werther nämlich sich in Wahrheit nicht hat töten, sondern nur den Krampf der Jugend bei furchtbarem Zusammenprall mit der schnöden Welt hat überwinden müssen. Das aber gibt es bei diesen Gestalten Dostojewskijs: sie haben einen so starken Grad der Erkenntnis in die Zusammenhänge des Innen und Außen, ihres Wesens und der geschichtlich gewordenen Umgebung, daß ihre Leidenschaft, ihr Napoleons- und Mordtrieb und ihr Leiden nur ein Entwicklungsstadium in ihrem Leben bilden, daß sie durch Resignation und Hoffnung, Hoffnung nicht so sehr für sich wie für die Menschheit, gerettet werden. Etwas von dieser Entwicklung fängt gerade mit Shakespeare an: in seinen beiden modernsten Tragödiengestalten Troilus und Hamlet und in der Entwicklung des trotz allem nichttragischen Schauspiels Maß für Maß. Troilus der Jüngling wächst und reift während der Handlung; als Lebender sieht er am Ende des Dramas gefaßt und groß dem Untergang seines Volkes entgegen. Und Hamlet? Wie er leben mußte, in dieser Welt, das ist für uns seine Tragödie; daß er am Schluß gewaltsam stirbt, und die Art, wie dieser Tod herbeigeführt wird, das hat etwas fast Nebensächliches, ja sogar Ungemäßes und Konventionelles an sich. Und vielleicht darf ich hier sogar mit einer persönlichen Erinnerung kommen. Als ich ein junger Student war und mich viel mit Hamlet beschäftigte, konnte ich nicht anders: ich erklärte mir das ganze seltsame Wesen des Dänenprinzen, seine Nähe am Wahnsinn, sein furchtbares Leiden an sich und den Menschen -- wovon allem wir an seinem Ort ausführlich gesprochen haben --, ich erklärte mir das alles mit der Pubertät, mit Jugend und Übergangszustand also. Kein Zweifel ist, daß auch in Hamlet potentiell eine Macht der Vernunft vorhanden ist, deren höchste und reinste Gestalt, die Harmonie zwischen Fühlen und Denken und Handeln, auch die höchste Tragik überwinden kann, weil kein Äußeres, auch der Himmel und sein Verhängnis nicht, mächtiger ist als der Mensch, der überwunden hat. Was da mit der Gesamthaltung des Sinnspiels Der Kaufmann von Venedig, mit dem Schicksal und der Läuterung des Angelo und Troilus beginnt, was im Vernunftwesen Hamlets angelegt ist, das wird auf Shakespeares letztem Gipfel zu weihevoller Höhe gehoben im Wintermärchen und zumal im Sturm, der, wie wir sehen wollen, von nichts anderm handelt als von dem Sieg des Geistes über den Trieb. Tragik aber bleibt immer das Teil derer, deren Wesen nicht nur im Triebhaften wurzelt -- so sind wir alle beschaffen --, sondern aus denen der Trieb wie Blattwerk und Blüte und Flamme zehrend, zündend und verderbend nach oben schlägt. Auch sie haben Erkenntnis, manchmal hohe und starke; aber nur eine solche, die ihr Licht auf den Trieb wirft und dies Nächtige sichtbar macht, auch für sie selbst; nicht aber die Erkenntnis, die Macht über den Trieb ist und beherrschend mit ihm fertig wird. Ein solcher Triebmensch, ein Getriebener also, ein Bewirkter, Passiver, von Dämonen Gepackter, so sehr er sich zumal später, nach seiner Krise, einbildet, eine aktive Natur zu sein, ist Macbeth der König, ganz anders denn doch von seiner innern Bestimmtheit seinem Schicksal zugetrieben als König Ödipus, bei dem die Hybris und der Herrscherwahn nur eine Begleiterscheinung, eine Folge und Widerspiegelung des unbegreiflichen Beschlusses der Götter ist. Und als ein Triebmensch, diesmal aber einer, der zum Lernen, zur Entwicklung der Vernunft wie der Innigkeit noch im höchsten Greisenalter nicht zu alt ist, der vom Schicksal in die Schule genommen wird und bei der Natur, beim Volk, bei Narren und nicht zuletzt beim Unglück in die Lehre geht, wird sich uns auch ein ganz anderer König enthüllen -- jeder Zoll ein König! -- das nächste Mal --, König Lear. König Lear Im Jahre 1603 erschien ein Buch eines gewissen Harsnet „Entdeckung und Erklärung hervorragender papistischer Betrügereien“; darin findet sich ein großer Teil der seltsamen Teufelsnamen, die Edgar Gloster in seinem vorgegebenen Wahnsinn im Munde führt. Es ist also wahrscheinlich, daß Shakespeare das Werk für diese Einzelheit benutzt hat, woraus sich ergibt, daß der König Lear, wofür auch gar nichts spräche, nicht vor 1603 verfaßt sein wird. Im Jahre 1605 erschien ein Schauspiel, „Die echte Chronikenhistorie von König Leir und seinen drei Töchtern“. Dieses Stück hat, vom Rohen der Handlung abgesehen, so gut wie keine Ähnlichkeit mit Shakespeares Stück und weist von seinem Geist so wenig wie von seiner Komposition und Sprache etwas auf. Da nichts sicherer ist, als daß dieses Stück nichts mit Shakespeare zu tun hat -- außer Tieck, der bei all seinem beinahe tiefen Verstand eine wahre Sucht nach dem Verkehrten hatte, hat es, glaube ich, nur Simrock für möglich gehalten, der vom Volkstümlichen im allgemeinen wie von Shakespeares Volksart im besondern einen falschen Begriff hatte --, so kann man annehmen, daß hier ein älteres Stück rasch gedruckt und als das echte bezeichnet wurde, weil damals gerade Shakespeares Stück neu, noch nicht gedruckt, aber begehrt war. Sicher wissen wir, daß Shakespeares König Lear 1607 mit der Bemerkung ins Buchhändlerregister eingetragen wurde, das Stück sei Weihnachten 1606 aufgeführt worden; diese Aufführung, die vor dem König in Whitehall stattfand, braucht aber nicht die erste gewesen zu sein. 1608 erschienen dann tatsächlich zwei von einander abweichende Quartausgaben des Stückes. Der Text, den die Gesamtausgabe von 1623 bringt, ist in vielem einzelnen bedeutend besser; dafür fehlen ihm aber wichtigste Szenen, so vor allem die, wo Lear in Wahnsinnswut seine Töchter aus der Luft zusammenballt und vor die Richter stellt. Da diese Nachlaßausgabe trotz allem redlichen Willen der Herausgeber Liederlichkeiten genug begeht, da ihr Text nicht im entferntesten kanonische Geltung hat, da er so wenig von Shakespeare endgültig festgesetzt worden ist wie der, den die bei seinen Lebzeiten erschienenen Raubausgaben bringen, da man auf alle möglichen Gründe zur Erklärung der Auslassung raten kann, haben wir dem Schicksal lediglich dankbar zu sein, daß wir diese prachtvolle Hauptszene haben; sie aus dem Text wegzulassen und in den kritischen Apparat zu verbannen, blieb dem Tieck ~redivivus~ unserer Tage Gundolf vorbehalten. Die Geschichte vom König Lear war offenbar sehr bekannt und beliebt; ich nenne hier, ohne auf einzelnes einzugehen, die Quellen, die Shakespeare sicher bekannt waren: Mitte des 12. Jahrhunderts verfaßte der Bischof Galfried von Monmouth nach Überlieferungen in seiner Heimat Wales die „Geschichte der britischen Könige“, die 1508 in Paris lateinisch gedruckt erschien; darin berichtet er auch von Lear und seinen drei Töchtern. In allem Wesentlichen stützte sich Shakespeare aber wieder auf Holinsheds Chronik, deren zweite Ausgabe aus dem Jahr 1587 stammt. Dichterische Bearbeitungen fand er in dem Lehrgedicht „Spiegel der Obrigkeiten“ von 1575 und in Spensers „Feenkönigin“ von 1590. Das erwähnte Chronikendrama wird er doch wohl gekannt haben; eine der hölzernen Gestalten, die sich in Shakespeare zu seinem wundervollen Kent verwandelt haben kann, der in der sonstigen Überlieferung kein Vorbild hat, unterstützt die allgemeinen Erwägungen, die dafür sprechen. In allem übrigen aber hat er das biedere Ding, das so ungefähr auf dem Niveau von Hans Sachs steht, so gar nicht benutzt, daß keinerlei wirklicher Beweis dafür da ist, daß er es gekannt hat. Nun ist aber in der ganzen Überlieferung von den Vorfällen im Haus Gloster mit keinem Wort die Rede. Shakespeare flocht diese Tragödie kunstvoll in die Lear-Tragödie ein, indem er eine ganz andere Fabel, die Geschichte vom paphlagonischen König, die er in Sidneys „Arcadia“ vom Jahr 1590 fand, benutzte. All diese Texte, die Shakespeare vorlagen, sind im Original und in guter deutscher Übersetzung in einem sehr hübschen und lehrreichen Büchlein zu finden, dem ersten Band einer Sammlung von „Shakespeares Quellen“, die Alois Brandl im Auftrag der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft herausgibt. Seien nun zunächst die Grundelemente der überlieferten äußern Handlung und Shakespeares Abweichungen von den groben Zügen dieser Fabel zusammengestellt. Die Regierung des Britenkönigs Lear, der in noch älterer Gestalt der Sage ein keltischer Gott gewesen zu sein scheint, wird in eine fabelhafte Vorzeit verlegt; wir haben die Wahl, ob wir das Jahr 600 oder gar 800 vor Christus nennen wollen. Immer ist er bei Beginn der merkwürdigen Geschehnisse sehr alt. Er hat drei Töchter, deren jüngste sich durch Schönheit und Klugheit auszeichnet und von ihm besonders geliebt wird; die beiden andern sind, wie wir im Märchen so häufig hören, böse und neidisch. Nun will er das Reich teilen und zugleich die Töchter verheiraten. Damit in Verbindung stellt er ihnen die Frage, welche von ihnen ihn am liebsten habe. Die bösen Töchter antworten schwülstig schmeichlerisch; Cordelia -- die Überlieferung ist in der Deutung dieses schwierigen Charakters nicht ganz einig -- spricht sich bald trocken, bald trotzig, bald keusch zurückhaltend aus; immer aber für ihn sehr unbefriedigend und überraschend. Sie wird enterbt; aber der König von Frankreich nimmt sie auch so, als armes Mädchen, zur Frau. Lear wird dann durch Goneril und Regan schlecht behandelt, sein Rittergefolge, das er sich ausbedungen hatte, immer mehr verkleinert. Zuletzt geht es ihm bei diesen vorgezogenen Töchtern so schlecht, daß er nach Frankreich flieht. Dort findet er am Hof die liebevollste Aufnahme. Es kommt zum Krieg; Frankreich siegt; Lear wird wieder König und lebt noch ein paar Jahre. Nach seinem Tod besteigt Cordelia den Thron. Etliche Jahre später aber erheben sich die Söhne ihrer Schwestern gegen die Herrschaft der Tante und erlangen den Sieg; sie wird gefangen gesetzt und erhängt sich im Gefängnis. Hier nun können wir Shakespeare sehr schön bei der Arbeit beobachten; wir sehen, wie er aus kompositorischen und inneren Gründen zusammengezogen und geändert hat, wie er aber dabei von den Elementen der Tradition in irgend einer Umgestaltung noch nimmt, was er irgend brauchen kann. Frankreich und Cordelia siegen in der Überlieferung; Lear wird wieder König; etliche Jahre später wird Cordelia in einem neuen Krieg besiegt. Diese Dehnung am Schluß konnte der Dichter nicht brauchen; ein Sieg Frankreichs über die Briten paßte also nicht zu seinem Schluß; er wird auch sonst keine Lust gehabt haben, ihn ohne Not auf die Bühne zu bringen. Aber daß Lear wieder König wird, entsteht, wenngleich nicht für Jahre, so doch für Augenblicke irgendwie vor unsrer Vorstellung: er wird wieder groß, königlich, gebieterisch, ehe er stirbt. Cordelia in der Überlieferung erhängt sich im Gefängnis nach ihrer Niederlage; bei Shakespeare wird sie gleich das erste Mal besiegt und von Edmund verräterisch ermordet; aber die Tat geschieht ebenfalls im Gefängnis und durch den Strick. Aber was hat Shakespeare sonst noch der dürren Fabel gegeben! Seine wichtigste Zutat ist Lears Wahnsinn, von dem die Überlieferung nichts weiß, und alles, was damit zusammenhängt; die Nachtszenen im Gewitter auf der Heide, in der Hütte, auf dem Pachtgut. Kents Widerspruch bei Lears Verstoßung Cordelias, seine Verbannung und Treue sind neu; wie gesagt, eine Spur davon bot das ältere Drama. Wie Cordelia zum König von Frankreich kommt, ist völlig verändert; da hat Shakespeare vor allem viel Liebesromantik, die ihm in dieses Stück nicht paßte, weggelassen; dafür hat er die Doppelwerbung Burgunds und Frankreichs erfunden, um Frankreichs edle Gesinnung in Kürze zu zeichnen. Wiederum Shakespeares Erfindung ist, daß die beiden Ehemänner der bösen Schwestern sich wesentlich unterscheiden; bei ihm ist Gonerils Gemahl Albanien ein edler, rechtschaffener Mann; das brauchte er im Zusammenhang der Glosterhandlung, brauchte es wohl auch zum Ersatz des Königs von Frankreich, der ganz in den Hintergrund trat. Der Narr ist völlig Shakespeares Erfindung. Und dann die ganze Glosterhandlung: Glosters Erlebnisse mit den beiden Söhnen, mit Regan und Cornwall; des Bastards Edmund Beziehungen zu Goneril und Regan; Edgars verstellter Wahnsinn und Zusammenhang mit Lear; Glosters Blendung und Erlebnisse mit dem Sohn und Lear; Edmunds entscheidendes Eingreifen in den Krieg und gegen Cordelia: all diese aufs engste verflochtenen Beziehungen der drei Gloster zu Lear und seinen Töchtern stammen ganz von Shakespeare, können natürlich auch in der Geschichte des paphlagonischen Königs nicht vorgebildet sein. Zwei sinnvoll nebeneinander laufende und aufs natürlichste ineinander verflochtene Handlungen, reichlich Stoff für ein großes Drama hätte Shakespeare in der ursprünglichen Überlieferung gehabt: Lears Erlebnisse mit den Töchtern; Cordelias und des Königs von Frankreich Liebesabenteuer. Das hätte ein Stück werden können, mit seinem Ineinander des triebhaft Wilden, Willkürlichen in der alten Generation und des freien Liebesspiels in der jungen, ganz anders als das hölzerne Chronikenspiel es machte, ganz shakespearisch, so wie Shakespeare eine ähnliche Doppelfabel in der Tat später im Wintermärchen behandelt hat. Aber daß es ihm diesmal auf ganz anderes ankam, zeigt eben die Tatsache, daß er das Liebesspiel unschuldiger Jugend in Wald und freier Natur, dem er sich sonst so oft zugewandt hat, radikal aus dem überlieferten Stoff austilgte und statt dessen mit der Glosterhandlung Ereignisse einfügte, die gegen Lears Geschichte sich nicht abheben, sondern das nämliche Thema verstärkt variieren und die Lears Erlebnis, das er selbst so überraschend in seinen Reden manchmal ins Sexuelle hinüberspielt, auch in der Handlung, die wir vor Augen haben, in den Vorgängen zwischen dem Bastard Edmund und Lears Töchtern, in Verbindung bringen nicht mit unschuldiger Liebe, sondern mit arger und frevelhafter Verkuppelung von Geschlechtstrieb und Machtgier. König Lear, wir sehen es mit seinem ersten Auftreten und blicken immer tiefer in seinen innern Zustand hinein, ist ein Mann des Triebs, der Willkür, gutartig dabei, aber jäh, ungezügelt. Ungeheuer stark prägt sich sein Königsbewußtsein aus; er ist eigensüchtig und eigensinnig, ist es von je gewesen und in seinem hohen Alter noch viel mehr geworden. Aber eine ganz besondere Spielart in Shakespeares Sammlung gebietender Triebmenschen stellt er vor. Ohne Frage hat Lear mit Macbeth, mit König Claudius, mit Richard III. Züge genug, entscheidende Züge gemeinsam; am ehesten aber wirkt er, wie ein in langer Regierungszeit von keiner Rebellion gestörter, alt gewordener Richard II.; eine unverwüstlich gute Anlage ist in ihm, und sein Schöpfer, so scharf er ihn ansieht, entzieht ihm niemals seine Sympathie. Auch insofern darf er mit König Leontes aus dem Wintermärchen verglichen werden. Der wird von der Raserei seines eingewurzelten Triebs, seiner Willkür und Tyrannei im Gang der Handlung, vor allem durch das Eingreifen einer resoluten Frau, die ihn in die Kur nimmt, geheilt. Die Gattin, der Gegenstand seiner Wut, wird ihm weggenommen; er glaubt, durch sein Gericht in den Tod; in Wahrheit durch Intrige vor ihm verborgen. So ist das Wintermärchen, obwohl es in einem Punkt bis ins Allerletzte der Seelenergründung geht, doch keine Tragödie und kein Lebensdrama geworden, sondern ein Spiel; darum auch hat in ihm die heitere Liebesepisode und so manche andre Erholung Platz, und die Heilung und Befreiung des Königs ist der Zeit anvertraut, die übersprungen wird. Wie anders im Lear! Da sind wir dabei, wie allmählich, Stufe um Stufe, auf seltsamstem Weg die neuen Umstände, die furchtbarsten Erfahrungen eine Wandlung und Läuterung von innen hervorbringen. Lear der König, der alte Mann, der Vater legt großen Wert auf die Liebe; aber -- Strindberg hat gut darauf hingewiesen -- der Eigenwillige, Heftige, Launische versteht unter Liebe vor allem: sich lieben lassen. Mildernd ist da allerdings zu sagen: er ist alt, fühlt sich hinfällig, hat, ohne daß er’s in seinem starken Verlangen nach majestätischem Auftreten zeigen will, das Bedürfnis, sich anzulehnen; sein starkes Reden, Pochen und Kopf-in-den-Nacken-werfen täuscht nicht darüber, er ist schon ein wenig weinerlich geworden; er blickt sich, nur soll man’s nicht merken, nach Liebe und Pflege um. Wie mag er früher gewesen sein, als er noch rüstig war, in der Manneszeit, in der Jugend? Auch da hat Strindberg etwas Interessantes, auch für ihn selbst Bezeichnendes gefragt: was hat König Lear eigentlich für eine Frau gehabt? Jetzt ist sie tot. Wie hat er mit ihr gelebt? Die Kinder dieser Ehe sind jedenfalls sehr ungleich ausgefallen, und ungleich werden wohl auch ihrer beider Naturen, untereinander und jede in sich, gewesen sein; ungleich etwa auch Art und Grad ihres Zusammenlebens. Erwähnt wird die Frau nur einmal. Wie Regan den Vater, der sich unzeitig bei ihr einquartieren will, mit kaum unterdrücktem Zorn begrüßt: Ich freu’ mich, Euer Majestät zu sehn, da erwidert er mißtrauisch: Regan, ich denk’, du tust’s, und weiß den Grund, Warum ich’s denke: wärst du nicht erfreut, Ich schiede mich von deiner Mutter Grab, Weil’s eine Ehebrecherin verschlösse. Schließlich heißt das nur in einer etwas blühenden Gleichnissprache: Du bist mein echtes Kind nicht, wenn du dich nicht freust, deinen Vater zu sehen! Aber dies Stück stammt aus der Periode, wo Shakespeare schon lange nicht mehr die üppige Sprache mit sich, sondern höchstens mit den Personen davonlaufen läßt, für deren Charakter und Erleben sie kennzeichnend ist; und überdies dürfen wir glauben, daß dem reifen Dichter, als er Lear gerade so und nicht anders reden ließ, die Frage nach Lears Weib schon auch selber einfiel, und vor allem: wir werden noch hören, wie Lear später, wo mit der Tollheit die Erinnerungen farbig und brennend heraufgekommen sind, sich über den Zusammenhang von Machtwillkür und Weibsgemeinheit äußern wird. Ein gewisser Einblick in das frühere Leben und die Beschaffenheit der Ehe eröffnet sich da schon, und mehr als diese allgemeine Stimmung brauchen wir nicht; mehr hat auch der Dichter selbst nicht gewußt. Was die beiden ältesten Töchter über ihren Vater äußern, soll wohl vor allem ihre Lieblosigkeit kennzeichnen; der böse Blick aber sieht scharf, und was sie von den Schwächen, den Altersschwächen ihres Vaters sagen, finden wir im Sachlichen selbst bestätigt und glauben den Töchtern gern, daß das im Alter sich nur verstärkt hat, aber schon immer seine Manier war. Und wenn nun Goneril, das junge Weib, klagt, „die besten rüstigsten Jahre seines Lebens“ seien auch schon voll Übereilung gewesen, so finden wir das recht glaubhaft; sie wird sich aus ihrer Kinderzeit, etwa auch aus Erzählungen, an genug solche Auftritte erinnern. Er ist ein Mann, von dem ungestüme Launen, jähe Machtsprüche zu erwarten sind. Vielleicht ist aber doch die Szene, mit der die Handlung einsetzt, das tollste Stück, das er je geleistet hat. Die beiden ältesten Töchter sind schon verheiratet; um Cordelia, die jüngste, bewerben sich zwei hochansehnliche Freier. Das wurmt ihn innerlich schon, ohne daß er sich’s eingesteht, daß das jüngste und liebste Kind ihn nun auch noch verlassen, einem andern in Liebe folgen soll: Sie war mein liebstes Kind; des Alters Trost Hofft’ ich von ihrer Pflege. Sie hätte ganz bei ihm bleiben sollen; er ist nicht der Mann zu begreifen, wie man einen andern lieb haben kann; und nun soll sie gar so weit weg; zwei Ausländer, man könnte fast Schlimmeres sagen, Landesfeinde bewerben sich um sie; die beiden älteren Töchter haben wenigstens Herzöge Britanniens zu Männern genommen. Nun wird sie wohl gar, wenn er ihr schon ein Drittel des Landes gibt, die meiste Zeit fort, drüben in Frankreich oder Burgund sein. Auf jeden Fall will er sich’s jetzt bequem machen, will die Last der Regierung auf seine alten Tage los sein, aber ein reiches, üppiges, königlich gebieterisches Leben mit Jagden und Festen und Ritterfahrten weiter führen. Diesen seinen Entschluß betrachtet er als einen edelmütig liebevollen Verzicht, als Großmut; er hält es für selbstverständlich, daß die Töchter und der Hof ihn so nehmen müssen; und da ist es, meint er, das wenigste, daß sie ihm dafür jetzt, in feierlicher Staatssitzung versichern, wie lieb sie ihn haben, das heißt, wie gut er ist. Und gerade das kann Cordelia nicht! Ihre beiden Schwestern nehmen die Sache politisch; wenn Paris eine Messe wert ist, sind sie ja wohl keine Teufelinnen aus der Hölle, sondern bloß Fürstinnen durchschnittlicher Art, wenn sie für ein Drittel Britanniens ihrem despotischen Vater mit schönen Redensarten um den Bart gehen. Wie man Shakespearephilologie von seiner übrigen Gesinnung trennen kann, verstehe ich nicht, aufrichtig gesagt; ich habe in der Tat gar nichts dagegen und sehr viel dafür, wenn man sich auf den wunderschönen Standpunkt Cordelias stellt; aber damit, daß man ihre Haltung bewundert und die der andern Schwestern als etwas abgründlich Schlechtes, als schnöde Heuchelei verdammt, ist es nicht getan. Unser ganzes öffentliches, gesellschaftliches und Familienleben wird radikal umgestaltet, wenn man auf Cordelias Boden tritt. Goneril und Regan benehmen sich höchst abscheulich und ganz nach der Regel. In Cordelia, die bisher ein Kind war und nun vielleicht zum ersten Mal berufen ist, vorzutreten und ihr Inneres zu offenbaren, tritt diesem herrischen, eigensüchtigen, an Liebedienerei gewöhnten König zum ersten Mal ein Ausnahmemensch, zum ersten Mal jemand entgegen, dem das Gebot des Herzens wichtiger ist als alles andre in der Welt. Und das ist sein eignes, sein liebstes Kind! Keine Frage, er weiß es bloß nicht, darum liebt er sie vor allen, weil ihre Innigkeit, ihre Menschlichkeit, ihre Echtheit ihm wohltut; weil sich die Übereinstimmung von Fühlen und Handeln, die ihr notwendig ist, in ihren Bewegungen, ihrem Antlitz, dem Blick ihrer Augen und hundert täglichen Kleinigkeiten äußert. Keineswegs kann man sagen, daß sie eine Fanatikerin der Wahrheit wäre; dann müßte das Denken in ihr besonders entwickelt sein, und sie könnte dann ihrer echten Liebe zum Vater wahrscheinlich einen recht starken Ausdruck geben. Sie ist aber in keiner Weise unter wahrhaften Menschen eine Ausnahmeerscheinung; sie ist es nur in der knechtisch-lügnerischen Umgebung, wie man sie allenthalben, ganz besonders aber am Hofe trifft. Ein sprödes Mädchen ist sie; sie kann ihr Herz nicht auf dem Präsentierteller herumreichen, kann nicht in einer Staatssitzung, kann vor allem nicht zu einem Zwecke von ihren Gefühlen sprechen. Von den Gefühlen zu sprechen geht gegen das Gefühl; Gefühle äußern sich im stillen, fortwährenden Tun und in plötzlichen Erhebungen und Aufwallungen. Der König zwar erwartet, wenn er verkündet, er wolle zurücktreten und das Reich seinen Töchtern und Tochtermännern schenken, müsse eine solche Aufwallung, die ihm echt und von innen aufschießend vielleicht noch nie im Leben, gemacht aber gewiß immerzu begegnet ist, sich sofort einstellen; und die gezierten Äußerungen der beiden andern Töchter, derengleichen er für ungewöhnliche Dankbarkeit, zu der er so oft Veranlassung gegeben hat, gewohnt ist, nimmt er für solche Ausbrüche. Cordelia aber horcht in sich hinein und findet in diesem Augenblick nur Leere. Den Äußerungen ihrer Schwestern hört sie die Berechnung an, und so wird aus ihrem Unvermögen, sich jetzt zu äußern, Verstocktheit. Es kommt aber noch etwas dazu. Der Kindheit entwachsen, eine Jungfrau geworden ist sie durch die ersten Regungen der Liebe, einer Liebe so ganz andrer Art als die Kindesliebe. Wir dürfen annehmen, daß ihr Herz sich Frankreich zuneigt; aber selbst, wenn sie davon gar nichts wüßte, wäre doch Liebigkeit, diese Bereitschaft in ihr, bald ein eheliches Weib zu werden, die ja auch von außen gefördert wird. Höheres gibt es für dieses Mädchen nichts in der Welt als diese Erwartung, sich liebend hinzugeben und hemmungslos, wie es das Gebot der Liebe ist, einem Manne zu gehören. Und in diesem Augenblick -- die Freier stehn vor der Tür, werden eben geholt, die Stunde grenzenlosen Aufgebens, wonnig bangen Umfassens ist da -- verlangt der alte Mann für sich, was bis aufs letzte Tröpfchen gesammelt in ihr eines andern wartet. Und sie muß mitanhören, wie ihren Schwestern glatt wie Öl etwas von der Zunge geht, was ihr nur wie Verrat an der Gattenliebe klingen kann. So vermag sie ihrem Vater nicht nur das Gehäufte nicht zu geben, worauf er Anspruch macht; sie kann ihm jetzt gar nichts geben; und was sie schließlich äußert, kommt gezwungen und hart heraus. König Lears Seelenkenntnis können wir uns aber nicht verwahrlost, verbogen und verkehrt, man nennt das naiv, genug vorstellen. Er hat verlangt, mit Recht verlangt, das war doch das wenigste, daß man ihm bei diesem feierlichen Akt seines ungemeinen Edelmuts ein paar schöne Worte sagt; ist das denn zu viel? Nun, die älteren Töchter tun’s; und schon ist er zufrieden und gibt ihnen ihr überreichlich Teil. Jetzt ist an seinem liebsten, seinem Schmerzenskind die Reihe; und wie? hört er recht? hart, fast böse antwortet sie, sagt wohl so etwas von pflichtschuldiger Liebe; aber merkt man nicht, wie sie sich dazu selbst zwingen muß? Für ihn ist sie in diesem Moment nicht bloß verstockt und lieblos; sie ist eine arge Heuchlerin; sie preßt sich Äußerungen ab, die ihr nicht von Herzen kommen. Was steckt da dahinter? Es muß doch einen Grund haben! Was offenbart sich da? Wie sieht es in ihrem Herzen aus? In dem Augenblick, wo sie ihrem Vater, der den Kindern sein ganzes Reich gibt, wie die Schwestern, überströmend dankbar sein sollte, zeigt sie sich so und redet mehr von ihrem künftigen Mann als von ihrem guten Vater? Alles dreht sich um ihn, innen kocht’s auf, und der Ausbruch ist da. Vergebens ruft der Graf von Kent, ein Mann, der schon lange an diesem Hof gelebt und zu Lear voller Verehrung wie zu einem Vater aufgeblickt hat, dessen kerniger Biedersinn Cordelias verwandte Frauenseele erkennt, dem König zu, er sei ja toll: Was tust du, alter Mann? In dieser Verfassung läßt Lear sich von keinem Menschen hemmen: Kent wird verbannt, Cordelia verstoßen, enterbt, ohne Mitgift dem überlassen, der sie nimmt. Burgund tritt zurück; Frankreich liebt Cordelia um ihrer selbst willen; sie wird seine Frau. Cordelias knospenhaftem Wesen, das überlegener Klugheit fern ist, können wir nicht zutrauen, daß sie daran gedacht hat; aber ein besseres Mittel, ihre Freier zu prüfen, als auf jede Würde und Mitgift zu verzichten und nur noch sie selbst zu sein, konnte es nicht geben. Hundert Ritter, mit ihrem stattlichen Gefolge von Edelknappen, Knechten aller Art, hat der alte Mann sich vorbehalten; mit diesem Hofstaat will er abwechselnd bei den Töchtern hausen; und hochbeglückt und erfreut sollen sie sein, wenn ihr Vater kommt. Goneril hat in der Sache keineswegs unrecht, wenn sie meint, er habe seine Macht verschenkt, wolle aber nichts davon entbehren. Er tritt herrisch, brutal auf; die Ritter ahmen das Beispiel nach; was er um seiner Machtfülle, seines Selbstbewußtseins willen tut, setzen sie in Willkür, Roheit und Liederlichkeit fort; es ist ein zügelloses Treiben; sein erstes Wort, das wir bei Goneril von ihm hören, wie er mit seinem wilden Gefolge von der Jagd kommt, ist: „Laßt mich keinen Augenblick auf das Essen warten!“ Und noch mehr Proben eines Auftretens erhalten wir, das übermütig zu nennen wäre, wenn er nicht ein überalter Mann wäre, der in einem langen, langen Leben niemals vom Leben in die Schule genommen worden ist. Er ist derart ungezügelt wie kleine Kinder, die man ungezogen nennt; die Sinneseindrücke scheinen fast ohne jede geistige Vermittlung Handlungen bei ihm auszulösen; er verstößt, verbannt, schimpft und schlägt so unmittelbar, nachdem man sich seiner Willkür entgegengestellt hat, wie das kleine Kind nach dem glänzenden Gegenstand greift, den es sieht. Hat man das Kindchen ein paarmal aufs Händchen geschlagen, so wird sich, wenn es die Bewegung noch macht, schon so etwas wie Zögern, wie böses Gewissen darin äußern; Lear aber scheint nie im Leben etwas entgegengetreten zu sein, was er als ernsthaften Widerstand achtete; er hat das beste Gewissen von der Welt; er meint es wirklich gut zu meinen; er hält sich für gut. Er hat doch seine Macht abgegeben; bloß auf die Eitelkeiten dieser Welt will er nicht verzichten; das ist für ihn fast nichts, was er behalten hat; daß er damit andern sehr lästig fallen kann, daß das -- gleichviel, wie die Töchter sind -- ein ganz unleidliches Verhältnis ist, -- wer soll es ihm sagen? So daß er es erkennt? Wer will den alten Mann jetzt noch erziehen? Kein einzelner Mensch könnte das mehr unternehmen wollen; man kann ihn nur dulden und liebevoll klug, unmerklich lenken. Die Töchter aber haben von ihrem Vater die Herrschsucht ohne die Würde, ohne die Liebenswürdigkeit, ohne den Charme geerbt; dafür handeln sie nicht bloß in Hitze, sondern planmäßig, kalt. Lears Bedürfnis, geliebt zu werden, ist immer noch ein Grad der Liebe; die Töchter sind in ihrem Verhältnis zu ihm ganz lieblos und kennen auch die Hemmung nicht, die man Pietät nennt. Er hat seine Macht weggeschenkt; sie haben, was sie von ihm wollten; nun soll er ihnen abwechselnd täglich und stündlich mit anspruchsvollen Narrheiten lästig fallen? Erziehen wollen sie ihn gewiß nicht, aber los werden und rücksichtslos seines Spielzeugs, seiner Machtfülle, seines Scheins berauben. Für ihn ist das gerade so, als wollten sie ihn zum Gerümpel werfen, obwohl die Rumpelkammer, die sie ihm anweisen würden, wenn alles ginge, wie sie in kalter Ruhe planen, wahrscheinlich ein ganz stattliches Haus wäre. Davon, daß sie ihn hungern lassen, in Nacht und Elend, in Obdachlosigkeit hinausstoßen wollten, ist gar keine Rede: die Vereinfachung der Märchenpsychologie ist Shakespeares Sache nicht. Für Lears Subsistenz wollen die Töchter schon sorgen; ihre Lieblosigkeit übersieht nur, daß die Substanz, von der das Gemüt des alten Mannes sich nährt, eben die Akzidenzien sind, die sie ihm wegnehmen wollen. Um ihn steht es nun so: er war in der Macht, und man war vor ihm gekrochen, und was sich dabei ergab, hatte er für die wirkliche Welt genommen. War ihm einmal im Ernst Widerspruch entgegengetreten, so hatte er ihn unter dem Beifall seiner Umgebung sofort zermalmt. Niemals war äußerer Widerstand begleitet gewesen von einer inneren Unruhe in ihm selbst; seine Umgebung hatte immer den Glauben in ihm befestigt, daß er es um seiner angeborenen Majestät willen verdiene, zu befehlen. Diesmal ist es anders. An ihm nagt etwas, immerzu, etwas Doppeltes, etwas Dreifaches: daß er seine Macht weggegeben hat, daß er sie diesen Töchtern gegeben hat, daß er Cordelia verstoßen hat. Falschheit kann täuschend wie Wahrheit aussehen, aber die Wahrheit hat etwas ganz Untrügliches in sich. Hat man einen Menschen, den man gut kennt, im Vorübergehen zu sehen geglaubt, so kann man sicher sein, daß er es nicht war; wäre er es gewesen, so wüßte man es. So ähnlich geht es diesem kurzsichtigen Vater: er glaubt, daß Cordelia ein liebloses Geschöpf, daß Goneril und Regan liebende Töchter sind; aber etwas in ihm weiß, daß es nicht so, daß es umgekehrt ist. Der Klang der Stimme Kents, der so tapfer zu Cordelia stand, liegt ihm noch im Ohr; und da ist nun noch einer, der auf seine Art ausspricht, was Lear selber nicht hochkommen läßt, der ein Privileg hat, den er nicht so ohne weiteres des Landes verweisen kann: das ist sein Narr, sein scharfer, sein bitterer, sein armer, sein liebender Narr. Der hängt treu und liebevoll an ihm, ganz gleich, wie er vom Herrn behandelt wird, der kennt die Liebe so, wie Goneril und Regan sie nicht kennen und wie auch Lear sie keineswegs kennt und übt, und in immer neuen Gleichnissen, Verdrehungen und Liedchen gibt der ihm nun zu verstehen, was für ein Narr er gewesen, das gute Kind zu verstoßen und sich und sein Reich den harten, scharfen, lieblosen Töchtern anzuvertrauen. Er kann sich’s nicht verhehlen, denn er merkt’s durch bittre Erfahrung: an den mitleidig verdammenden Sprüchen des Narren, die immer schärfer ausfallen, ist etwas, ist viel dran. Und doch glaubte er, so klug und, da er sich so recht mollig lieben und hegen lassen wollte, ein so guter Vater zu sein! Das erkennen wir nun aber auch deutlicher, als wir’s zu Beginn wußten: er kann tun, was er will, selbst Brutales: Böses ist doch nicht in ihm. In seinem Verkehr mit dem Narren gewahren wir gleich echte Liebenswürdigkeit und eine Neigung zu Kameradschaft, in der sich seltsam eine Kindlichkeit angeborener, zurückgedrängter Natur mit Kindischwerden vor Alter mengt. Die Welt sieht doch nun, wo er der Macht entkleidet ist, so ganz anders aus, als er gemeint hatte! Was sich der Haushofmeister seiner Tochter gegen ihn herausnimmt, wie scharf und ausfallend die Tochter selbst zu ihm spricht, wie es der Narr mit seinen Sprüchen kommentiert, -- aber der arme alte Mann! In dem Augenblick, wo allererst die Erkenntnis der Wirklichkeit kommen, wo der Wahn sinken will, bricht in dem schwachen Gefäß, das Druck von außen nie gekannt hat, der Wahnsinn aus. Sein erstes Zeichen bemerken wir sofort nach der ersten unerbittlich scharfen Rede Gonerils, wie Lear die Hand über die Augen hält, die Tochter prüfend, als sehe er nicht gut, ansieht und fragt: Ist das meine Tochter? Sowie wir diese erste Spur merken, können wir nun zurückgreifen, können uns der Worte Kents erinnern, der es gewagt hatte, seinen König verrückt zu nennen und dabei an sein Alter zu erinnern, können dazu nehmen, daß jetzt eben der Narr seinen Herrn den wahren Narren gescholten hat, und können fragen: war denn nicht wahrscheinlich sein Benehmen bei der Teilung des Reichs und bei Cordelias Verstoßung auch schon Geisteskrankheit? Fragen können wir so; ich antworte: Nein. Und vergesse dabei keinen Augenblick die Regel, die Gestalten des Dichters nicht als Naturgeschöpfe zu nehmen, sondern als Geistgeburten Shakespeares. Ich untersuche nicht einen Britenkönig Lear, sondern was Shakespeare uns gegeben hat. Dabei kommen irgendwelche medizinische Ausdrucksweisen, die der Dichter gehabt hat oder nicht gehabt hat, nicht in Betracht, sondern lediglich die Züge, die er seinen Gestalten gegeben hat. Die haben wir, ganz in unsrer eigenen Sprache, zu deuten. Das Problem, was Krankheit und was gar geistige Krankheit sei, will ich bei dieser Gelegenheit nicht aufrollen; sicher ist, daß es Namen für Veränderungen sind, deren wahres Wesen uns unbekannt ist, und daß diese Namen nur gewisse Komplexe von Symptomen einordnen. Sicher ist aber auch, daß Begriffe dieser Art haarscharf begrenzt sind, und daß unsre Menschenwelt untergehen und das Chaos beginnen würde, wenn diese Grenzen verwischt würden. Wie König Lear bei der Teilung des Reichs gehandelt hat, war, wie Kent in derber Volkssprache sagt -- nicht umsonst kann der herzhafte, getreue Landedelmann nachher so gut den Knecht spielen --, verrückt, war verrückt, was das Volk so verrückt nennt. Der König hat so tun müssen, sonst hätte er’s ja nicht getan, aber die Notwendigkeit, die ihn zu seinem Verhalten brachte, war ein sozialer Komplex, bestehend aus den Beziehungen seiner Erziehung, Stellung, Umgebung; man kann sich darum auch denken, daß diese Notwendigkeit durch eine gleichfalls soziale Einwirkung, z. B. das ruhige und vernünftige Auftreten mehrerer im Staatsrat oder einen plötzlichen Überschwang kindlicher Verzweiflung in Cordelia aufgehoben worden wäre. Was aber jetzt in Lear allererst sich ankündigt, ist ein individueller, organischer Zwang unsäglich viel stärkerer und anderer Art in ihm; irgend etwas funktioniert jetzt anders in ihm; und wenn Heilung kommen soll -- wie sie denn in der Tat kommt, das Stück, in dessem erstem Akt wir noch stehen, handelt von ihr --, wird sie ganz andere Wege gehen müssen, als gutes Zureden oder soziale Einwirkung der üblichen Art. Seid Ihr Unsre Tochter? Mit dieser Frage sind wir genau an der Grenze zwischen Vernunft und Wahnsinn. Man kann völlig vernünftig sein und sein schmerzliches Staunen über das eigene Kind so ausdrücken, daß man fragt, ob man so einen Menschen, wie er da vor einem steht, wirklich selbst gezeugt und aufgezogen habe. Es kann auch tatsächliche Gründe geben, warum man bei einer starken Enttäuschung, die eine völlige Unähnlichkeit zwischen Vater und Kind an den Tag stellt, sich ernsthaft fragt, ob nicht Ehebruch im Spiel sei. Auch ist der Mensch, jeder, da er gottlob einen Dichter in sich hat, durchaus befugt, in irgend einer ekstatischen Stimmung mit dem Wahnsinn zu spielen. So hebt es denn auch bei Lear an: er schwankt zwischen ganz leise einsetzendem echtem Wahnsinn und dem Spiel damit. Noch spielt er, daß er nicht er selbst sei, daß er die Dame, die vor ihm steht, nicht kenne, aber schon ist es einen verschwindenden Moment lang innerer, organisch-funktioneller Zwang, so zu spielen, der dann aber sofort wieder abgelöst wird von dem gewaltig ausbrechenden, schmerzlichsten, wütendsten Zorn des in seiner Königswürde, in seiner Vaterschaft, in seiner Menschheit gekränkten Mannes. Seid Ihr Unsre Tochter? Hier an der Grenze haben wir schon die Form, in der sein Wahnsinn sich äußern wird. Eines hat er sein Leben lang nicht gekannt, ein Allerwichtigstes freilich: denken. Es hat für ihn keine Wirklichkeit gegeben, sondern nur Schein und Trug, von Schmeichelei und botmäßigem Eifer erzeugt; und so war in ihm kein Denken, sondern Trieb, Raschheit, Laune; und auf diese Weise entstand eine Welt, eine Beziehung von innen und außen, wo alles glatt funktionierte: seine Umgebung und er paßten ihre Lücken und Auswüchse an einander an, und was er befahl, geschah. In diese Welt der Täuschung, und andre kannte er keine, war er nun in langen Jahrzehnten, bis in sein höchstes Greisenalter, ganz eingelebt. Nun aber ist er allererst nicht oben in seiner, sondern irgendwo unten in der wirklichen Welt, und da sieht alles so ganz, so schmerzlich anders aus. Er sollte also umlernen, nachdenken, sich einordnen, sich zurechtfinden, und das kann er nicht mehr; er ist zu alt dazu. Zu alt wenigstens, um noch in der üblichen Art zu lernen, zu wachsen. Denn er lernt, der arme, alte Mann, lernt sogar erstaunlich, wie in Glut und Fieber; aber er begreift nicht in Begriffen; in seiner Altersschwäche, wo ihn immer hilfloses Weinen ankommt, nimmt ihn das Leben in die Schule, und sein Lernen sieht so aus: Gegen meine Töchter bin ich immer gut gewesen -- sie müssen also auch gut gegen mich sein -- diese Damen sind ja so hart gegen mich -- -- ~ergo~ sind es nicht meine Töchter. Die neue Wirklichkeit, die sich ihm jetzt objiziert, lernt er nur in der Weise kennen, daß er das Neue, das er nun von der innern Beschaffenheit und Wahrheit der Menschen entdeckt, als äußere Halluzinationen, als Zwangsvorstellungen schaut und hört; der Sinn geht ihm auf in Gestalt von Sinnestäuschungen. Und so wie er daran ist, die Töchter nicht mehr als seine Töchter zu erkennen, so verliert er den Glauben, das Wissen, das Selbstbewußtsein, daß er Lear ist; er verliert sich selbst. Aber er versinkt nicht völlig in diesen Wahnsinn; er ergeht sich nur gefährlich am Rande der Tollheit; ganz wahnsinnig, bloß wahnsinnig sehen wir ihn nie; wir erleben an ihm einen entstehenden und auch wieder vergehenden Wahnsinn; wir sind dabei, wie in und mit dem Wahnsinn sich ihm der Sinn öffnet für den Wahn seines bisherigen Lebens; wie er jetzt allererst einen Blick ins Leben tut; wie er mit dem Schmerz, der ihm von außen angetan wird, wütenden Schmerz über sich selbst, Reue, von daher Einsicht und mit der Einsicht Liebe, echte Liebe, Liebe zu andern lernt. Der Schein, der Machtkitzel, der Dünkel, die Hohlheit, die Ichsucht, all das schmilzt weg; indem er ins Elend hinuntersinkt, vermag er nun auch, die Welt und das Leben vom Standpunkt des Elends aus zu erblicken. Daß er das aber noch vermag, daß er auf diesem einzigen furchtbaren Weg, den seine Altersschwäche ihm läßt, auf dem schwindelnden Grate zwischen Verzweiflung und Aberwitz noch lernt, noch wächst, Erneuerung und Wiedergeburt findet, das zeigt uns, was wir in dem Vater Cordelias, in dem Freund des Narren, in dem von Kent verehrten König, in der Gewalt seiner Leidenschaft und der Hoheit seines Auftretens schon geahnt hatten: daß eine große Natur in ihm von sozialen Narrheiten und Wüstheiten überklebt war; daß seine brutale Willkür sowohl wie seine ungeheuerliche Dummheit nur Manier war und nicht Wesen, daß ein guter, ein allerbester Kern in ihm ist, der nun, wo die gräßliche Not ihn zeitigt, sich zugleich als Geist und als Güte offenbart. Jetzt sehen wir: die Welt seines pompösen Scheins war ihm notwendig gewesen, weil seine echte Natur eine Welt der Niedrigkeit nicht ertrug, weil er Größe, Adel, Übereinstimmung braucht. Die Lebensmöglichkeit entsinkt ihm, sowie er gewahrt, wie es wirklich in der Welt zugeht. Dieses sein Lernen, seine neue, seine erste Erkenntnis kommt ganz allmählich, und er kann nur dazu gelangen durch furchtbarste Not und Schrecknisse. Zum weit überwiegenden Teil aber tut er sich all dieses Fürchterliche selber an; sein Adel, sein Mißverhältnis zur Welt äußert sich in dem, was die Welt seine unerhört übertriebene Natur nennen müßte; durch Erschütterung allerschrecklichster Art, durch Wut und Leidenschaft, elementar wie eine Naturkatastrophe, arbeitet er sich aus der Verschüttung zum schmerzlichen Licht empor, ein überalter Mann, der nach dieser letzten gewaltigen Anstrengung gerade noch Zeit hat, still und milde für einen Augenblick sein wahres Wesen zu sein, sein Leben zu führen, wie es ihm zukommt, und dann zu sterben. Noch genauer müssen wir zusehen, was ihn zuerst in diese Verfassung bringt; nur dadurch lernen wir seine wahre Natur und seine Stellung in der Welt kennen. Gonerils Hausverwalter behandelt ihn nicht mehr als König, sondern als Myladys Vater: der von Lear selbst geschaffenen Tatsache entspricht es, aber es ist schonungslos. Dann beklagt sich Goneril über seinen zügellosen Troß, den er nicht in Zucht hält; diese hundert Ritter mit ihrem wüsten Treiben machen ihr Schloß zur Kneipe, zum Bordell gar; sie ersucht kategorisch -- widrigenfalls will sie selbst einschreiten --, sein Gefolge etwas zu verringern; er solle nur gesetzte, ältere Männer in seinem Dienst behalten. In der Sache hätte sie ganz einfach recht; weder ihre Darstellung noch ihre Forderungen könnten als unmäßig bezeichnet werden. Aber der Ton, in dem sie redet, ist von schneidender Schärfe, von einer unheimlich unpersönlichen Sachlichkeit; sie spricht als Regentin zum abgedankten König; sie denkt nicht daran, sie fühlt nicht, daß alles, worin sie nun in einem einzigen Punkt empfindlich gestört wird, ihr freiwillig von ihrem lebenden Vater geschenkt worden ist, ohne daß es einen andern Grund zu seinem Verzicht gab, als seinen Willen, der für sie ein guter Wille war; sie offenbart völlige Gefühllosigkeit, Lieblosigkeit, Undankbarkeit. Er wird nun an der Welt und an sich organisch irre, irgend etwas in ihm bekommt einen Riß; nur einen Augenblick lang erliegt er dieser Pathologie; sowie er wieder zu sich kommt, sowie seine erste gräßliche Wut über diese Undankbarkeit herausgeströmt ist und fast automatisch der Entschluß da ist, sofort zur zweiten Tochter, zu Regan zu reisen, sowie er merkt: ja, so spricht, so handelt wahr und wirklich seine Tochter, kommt sofort, offen eingestanden, die Reue über sein Verfahren gegen Cordelia. Die, so argumentiert er noch verderbt, dumm und lieblos genug, hätte ein Recht zu solcher Lieblosigkeit gegen ihn. So klammert er sich denn blind, vertrauensvoll, im geheimsten aber schon angstvoll an die einzige Tochter, die noch übrig ist, an Regan; gegen Goneril aber bricht er in den grauenvollsten, leidenschaftlichen Fluch aus. Welche Ansprüche stellt dieses Menschenkind, dieser wahrhaft königliche Tor an die Weltordnung! Ein undankbares Kind muß mit Unfruchtbarkeit geschlagen werden; ganz einfach, ganz logisch, ganz unbedingt ist für ihn der Zusammenhang zwischen Menschenlos und göttlicher Gerechtigkeit: er ist König, ist Vater; die Götter, die Göttin Natur voran, müssen die undankbare Tochter strafen. Er ist ganz überzeugt, daß dieser Fluch in Erfüllung gehen muß; darum auch kann er ihn mit dieser ungeheuren Gewalt ihr zuschleudern. Es wird von einer jung verheirateten Schauspielerin berichtet, daß sie nie mehr als Goneril auftreten wollte, nachdem der große Schröder ihr diesen Fluch ins Gesicht und ins Innerste hinein gedonnert hatte. Auf dem Weg zur andern Tochter, zu der letzten, die ihm geblieben, sagt ihm der Narr das Stichwort seiner Rolle: Du hättest nicht alt werden sollen, ehe du zu Verstand kamst! Was für eine Reise! Der Narr spricht immer nur aus in seinen Gleichnissen und Rätselfragen, was in ihm selber auch bohrt. Ist Regan denn wirklich, wie er hoffen muß, so ganz anders als ihre Schwester, die jetzt ihr wahres Gesicht gezeigt hat? Und der Gedanke, daß er Cordelia Unrecht getan hat, die Furcht, um den Verstand zu kommen, verläßt ihn keinen Augenblick. Und erst sind wir am Schluß des ersten Akts -- was werden wir noch erleben, was wird der ärmste Abcschütze im weißen Haar, der, indem er seine äußere Würde freiwillig und großmütig aufgegeben hat, nun in seiner natürlichen Hoheit angetastet wird, noch durchmachen! Der alte Mann muß eine weite Reise machen. Einen Boten mit einem Schreiben, in dem er der Tochter Mitteilung von dem Geschehenen macht, schickt er voraus. Das ist sein neuer Knecht Cajus, in Wahrheit der treue Kent, der vorhergesehen hat, was kommen muß, und den Herrn, der ihn verbannt hat, nicht verlassen will. Wie Lear dann ankommt, ist das Haus leer: Cornwall und seine Frau sind weg. Auch die Schwester hat sofort Botschaft geschickt; und in dieser Sache sind sie einig, so weit sonst die Gegensätze zwischen Albanien und Cornwall schon gediehen sind. Lear muß ihnen nach dem Schlosse des Grafen Gloster nachreisen; und wie er nun zu später Stunde ankommt, sieht es ganz böse aus: sein Diener Cajus ist schimpflich mißhandelt worden; Regan und ihr Mann scheinen ihn gar nicht empfangen zu wollen; sie lassen sich erst verleugnen; und ihr Wirt, der alte Gloster, muß seinen Einfluß, der zur Zeit groß ist, aufbieten, damit Tochter und Tochtermann herbeikommen. Aus Lear will inzwischen die mühsam zurückgestaute Wut losbrechen; der Zweifel an der Wirklichkeit, die Krankheit zeigt sich wieder an; aber -- wir erleben’s zum ersten Mal -- er nimmt sich zusammen, versucht, was er nie gekonnt, sich zu beherrschen, will Vernunft und Gründe annehmen; und, wenn er nun endlich vor der Tochter steht, ist es rührend, wie er ihr kindlich sein Leid über ihre schlechte Schwester klagen will. Die Tränen steigen ihm auf, er kann nicht weiter reden. Sie weiß ja auch, er hat ja geschrieben; und jetzt eben hat er erfahren, daß Goneril auch einen Brief geschickt hat. Regan erwidert zunächst mit kalter Zurückhaltung: höflich, trocken, fast mild, wie etwa eine kalte, geübte Pflegeschwester einem Kindischen zureden würde, sagt sie ihm, sie, die Töchter, wüßten besser als er, was ihm not täte; er möchte zur ältesten Tochter zurückkehren und zugestehen, daß er unrecht gehabt. Er war nun schon auf so etwas gefaßt, so entsetzlich es ist; es hatte sich vorbereitet; noch bleibt er dem Grad nach mäßig; aber was sie da sagt, ist ihm sofort wieder eine suggestive Anschaulichkeit; er probiert’s gleich, wie sich’s ausnimmt, wenn er, der König, der Vater, hinkniet und seine Tochter um Verzeihung, um Schutz und Obdach bittet. Das ahnt er noch nicht, wie seine Entwicklung bald so vollendet sein wird, daß er das, was ihn jetzt die äußerste, die tollste Zumutung dünkt, gerade in der Form, die niemand von ihm verlangt hat, die nur seine im Stolz getroffene Phantasie sich ausgemalt hat, aus innigem Ernst tun wird, er der König, der Gebieter, der Vater: in Reue und Demut vor einem Kind, das der Vater gekränkt, hinknien und um Vergebung flehn. So wird er am Ende sein. Jetzt klammert er sich noch an Einbildungen, die er gewaltsam festhalten will, klammert sich an Regan, sein einziges Kind. In vernünftiger Auseinandersetzung will er ihr dartun, daß ihr Vorschlag unmöglich sei, will ihr beweisen, sie sei so milde, wie Goneril grausam. Aber es ist, als sprächen nur seine Lippen, während unten in ihm ganz anderes arbeitete; und mit einem Mal, gerade während der Mund ihr vorhält, daß er ihr das halbe Reich geschenkt, wirft er den Kopf zurück und fragt zornig, wer es gewagt, seinen Diener in den Block zu setzen? Er nimmt das ganz, wie wenn an fremdem Hof sein Botschafter verletzt worden wäre; es ist eine Antastung seiner Majestät. Aber Trompetengeschmetter reißt ihm die Worte vom Mund: Goneril trifft zur eiligen Beratung mit der Schwester ein und findet den Vater. So muß denn die Entscheidung sofort erfolgen; ganz großartig hat der Dichter alles so aufgebaut, daß nach der Gonerilszene, die in dem gewaltigen Fluch gipfelte, nun diese ungeheure Steigerung sich noch ergab. Die beiden Schwestern hatten politisch beraten und dann ihre Entschlüsse bekannt geben wollen, und nun muß es gegen ihren Willen doch wieder zu einer dramatischen Szene kommen, wie ihr Vater sie zu brauchen scheint. Sie fassen sich schnell und sind durchaus nicht aus der kühlen Ruhe gebracht. Regan wiederholt, er solle zur Schwester zurück, fügt aber nun hinzu, wenn er dann zu dem vereinbarten Zeitpunkt zu ihr komme, solle er vorher sein halbes Gefolge entlassen. Immer noch hält Lear an sich; als einen Vorschlag nimmt er das, der ganz falsch ist, und gegen den er nun, freilich wieder in erregter Bildersprache, Gründe ins Feld führt. Ja, noch mehr: Goneril läßt vier kalt abweisende Worte fallen, ohne ihn weiter zu beachten, und er redet nun noch einmal zu ihr, der er den Fluch entgegengeschleudert hat: mit sanfter, fast brechender Stimme, wirr, aber der Sinn ist, daß er ihr gütig, bittend zureden will, in sich zu gehn; schelten und fluchen will er nicht mehr; Gott soll ihr Richter sein, er will sie nicht verklagen. Er redet ihr zu, sich zu bessern, er spricht als Vater; er will nichts von ihr. In höchster Not tut er so, als habe er nichts Entscheidendes gehört; er bleibt an Regan, die letzte Hoffnung, angeklammert: Ich kann geduldig sein, sagt er und fühlt vielleicht, daß ihm die Tugend bisher vor allem gefehlt hat; im Zusammenhang heißt es, Goneril solle sich bessern, auch wenn sie lange dazu brauche, er wolle es abwarten und einstweilen bei Regan bleiben Mit meinen hundert Rittern. Aber die Töchter sind von dieser rührenden Wandlung nicht im mindesten ergriffen; Regan beharrt darauf, ihn jetzt nicht zu sich zu nehmen; im übrigen erklärt sie nun fünfundzwanzig Ritter für genug. Er winselt beinahe, er flüstert: Ich gab euch alles, und wie nun Regan auf ihrer Entscheidung beharrt, tut der alte Mann, dem mit seinen Rittern sein Selbstbewußtsein genommen werden soll, das ganz überraschende: um dies äußere Zeichen seiner Würde behalten zu dürfen, gibt er in kindischer Gesunkenheit die innere preis und erklärt, er wolle nun zu Goneril gehen; die läßt ihm doch fünfzig! Aber nun haben die Töchter genug: sie werden schon für seine Bedienung sorgen, er braucht keine zehn, keine fünf, keinen einzigen! Wozu ist einer not? Not? Dabei stutzt er. In der Tat, in Not ist er nicht und braucht es auch künftig nicht zu sein. Aber seine Würde, seinen Luxus, seine Hoheit wollen sie ihm nehmen, demütigen wollen sie ihn. Eindringlich, aber immer noch still hebt er an: Beklügelt nicht die Not! Der ärmste Bettler Hat bei der größten Not noch Überfluß... Und nun wechselt es in ihm zwischen Bitten und Zorn; zwischen Nichtweinenwollen, Weinen, Seufzen und Drohen; die Hitze steigt auf, es zerbricht etwas; er erträgt’s nicht; er will vor diesen Töchtern hier nicht mehr, nicht noch einmal ausbrechen; er stürzt hinaus; eben zieht das Unwetter am Himmel auf. Noch einen Blick hat er in die Runde geworfen, wie auf der Suche nach einem Menschen, nach einer Stütze, nach einem Freund; er fand ihn auch: den Narren. O Narr, ich werde wahnsinnig! Das war in diesem Kreis sein letztes Wort. Die bleiben doch etwas bestürzt zurück; und vielleicht würde gar der harte Eigensinn der Töchter erweicht; aber nun tritt eine noch größere Brutalität hervor: Regans Mann Cornwall. Er befiehlt, während der Sturm zu brausen anfängt, die Tore zu schließen. Kleinlaut versichern die Schwestern einander, für den alten Mann wäre hier schon Platz gewesen, aber nicht für sein Gefolge; an Cornwalls Haltung indessen werden sie wieder energisch; der Alte soll nur für seinen Unverstand büßen; schafft er sich selber Kränkungen und Beschwerden, so sollen die seine Schullehrer sein! Die Tore müssen jedenfalls geschlossen werden; wer weiß, wessen man sich sonst von seinem wilden Gefolge, das nun so gut wie entlassen und verzweifelt ist, zu versehen hätte? Um die aber kümmert sich der kranke, tobende Mann nun gar nicht mehr, und sie, mit Ausnahme eines einzigen Getreuen, um ihn auch nicht; sie werden schleunig weiter geritten sein und eine Herberge gefunden haben. Lear, seinen Narren und den Knecht, der Kent ist, treffen wir im tosenden Wettersturm wieder nachts auf der Heide. Er ist, nachdem er sich so lange gewaltsam unterdrückt hat, in einer Leidenschaft, die sich wollüstig mit dem Orkan mißt. Ah! sich auslassen zu dürfen! Welch königliches Herrengefühl, Grund zum Toben zu haben! Recht, recht so, ihr Stürme und Wetterschläge, Undankbarkeit ist auf diesem Erdenball eingesät; zertrümmert ihn! Das ist noch bacchantische Raserei der Leidenschaft; aber zwischendurch zuckt die Logik des Wahnwitzes auf. Auch ihn, den alten, preisgegebenen Mann, dürfen die Elemente treffen, sie haben die Erlaubnis, dürfen ihn zausen und schlagen nach Herzenslust: sie sind ja nicht seine Töchter! Und so apostrophiert er den Regen, den Donner, den Blitz: Ich gab euch nie ein Reich, nannt’ euch nicht Kinder! Und dann besinnt er sich, die Logik ist willfährig, man kann die Sache auch von der andern Seite ansehn: es ist doch unrecht von den Elementen; sie benehmen sich wie die „knechtischen Helfershelfer der verruchten Töchter“, und nun geht ihm eine ganz neue Gedankenreihe auf. Es denkt in ihm: wenn’s nach der Gerechtigkeit zuginge in der Natur, wer dürfte getroffen werden? Er nicht; er gewiß nicht; ganz andern müssen die Götter so begegnen: den verborgenen Verbrechern, den Meineidigen, den Mordlustigen. Und wir gedenken dabei der Greuel, die im Hause Gloster im Gange sind. Er aber, Lear? Ich bin ein Mensch, an dem man mehr Gesündigt, als er sündigte. Und er fängt an, sich noch tiefer zu besinnen, wie’s in der Welt zugeht; er wird liebevoller als je zuvor gegen den armen Narren, der gleich ihm selber, aber nur aus Liebe zu ihm, friert: Mein armer Narr, mir blieb vom Herzen nur Ein Stück, das ist betrübt um dich. „Obdachlose Armut!“ Das bohrt nun immer in ihm weiter, daß es so etwas in der Welt gibt, nicht bloß ein Verzicht auf Eitelkeiten, nein, ganz wirkliche Not, völlige Entbehrung, ein Leben wie das, dem er sich in der Raserei dieser Nacht ausgesetzt hat. In keinem Augenblick denkt er praktisch, was nun von jetzt an aus ihm werden soll; ganz andre Dinge hat er auszumachen; wir sehen, wie sich hinter seiner eiteln, äußerlichen Hoheit letzte Vornehmheit verborgen hat; er muß mit dem Allgemeinen, mit den Zuständen dieser Erde, mit der Weltordnung fertig werden; das ist nun in ihm aufgekeimt, was vorher der eigenwillige Triebmensch ganz beiseite liegen ließ. Sie nähern sich einer armseligen Hütte, die Kent ausfindig gemacht hat; aber vergebens zunächst fordert dieser treue Knecht den Herrn auf, sich darin zu bergen. Solche Sorge dünkt ihn gemein; was tut ihm alles Unwetter da draußen im Vergleich mit dem Sturm in seiner Seele? Doch ist er nicht mehr zu festen Entschlüssen imstande; und sowie er sich hoch aufrichten will und auf die Bestrafung der ruchlosen Töchter sinnt, bricht einer in ihm zusammen, und die Tränen stürzen vor. Ja, er wird schon hineingehn; er wird zu schlafen versuchen; der gute Narr, der nicht von ihm gewichen ist, soll nur vorausgehn; er will erst unter freiem Himmel, für sich allein, sein Gebet verrichten. Was der König aber jetzt betet, ist eben diese Erinnerung an die, zu deren Schicksalsgenossen er sich in dieser Nacht gemacht hat: Ihr armen nackten Elenden, wo ihr seid, Die ihr dies mitleidlose Wetter duldet, Wie soll eu’r bloßes Haupt, eu’r magrer Leib, Durchlöcherte Zerlumptheit euch beschützen Vor solchem Sturm wie der? -- O, nicht genug Bedacht’ ich das! -- Nimm dir’s zur Lehre, Pomp, Nur einmal fühle, was der Arme fühlt, Daß deinen Überfluß auf ihn du schüttest Und zeigst: es gibt Gerechtigkeit im Himmel! Was für eine große neue Erkenntnis diesem König da an der Grenze des Wahnsinns kommt! Das ist die Gerechtigkeit im Himmel, die man selber auf Erden übt! Damit, daß man hier auf Erden reichlich seinen Überfluß auf die Armen schüttet, zeigt man, daß im Himmel gerechte Mächte walten. Weit ist er jetzt davon entfernt, die Extragötter anzurufen, die ihm persönlich helfen sollen; und doch hätte er’s nie nötiger gehabt. Aber er hat schon viel gelernt; hat zu denken gelernt und damit zu fühlen und gut zu sein. Und in diesem Augenblick, wo er von seinem Elend absieht auf die vom Schicksal Verstoßenen auf dem weiten Erdenrund, tritt aus der Hütte, die sie leer geglaubt hatten, das nackte Elend leibhaftig: ein nackter Bettler, toll, besessen, von allen Teufeln verfolgt, wahnsinnig. Wir wissen: es ist Edgar Gloster, der sich vor seinem Vater und seinem Bruder bergen muß, der von Cornwall geächtet ist; das Elend ist echt, der Wahnwitz ist angenommen, wie umgekehrt Lear ganz dicht am Wahnsinn steht, im Elend nur, weil er’s zur Stunde nicht anders will und erträgt. Bei diesem Anblick schließt der Wahnsinn, das tolle Zwangsspiel mit dem Wahnsinn: den müssen undankbare Töchter so weit gebracht haben; was sollte einen sonst um den Verstand bringen? Die beginnende Erkenntnis aber, die im Fieber des Deliriums arbeitet, bohrt weiter. Sie führt ihn über die Wahrnehmung der Entblößtheit aus sozialen Gründen noch tiefer ins Echte hinein, ins Erfassen des Wesens: aller Pomp ist Schein; das, was da vor ihm steht in der Entblößtheit nicht bloß von Mitteln des Unterhalts, in der Entblößtheit des Leibes, das ist der wahre Mensch in seiner Nacktheit! Ist der Mensch nicht mehr als das? Betracht’ ihn wohl! -- Ha, drei von uns sind verfälscht! Du bist das Ding an sich. Der unverzierte Mensch ist nicht mehr als so ein armes, nacktes, gabelförmiges Tier wie du bist! Zum ersten Mal achtet der Mann, der sich bisher abends hat aus den Königsgewändern und in sein Nachtgewand helfen, morgens anziehen lassen, in dieser Sturmnacht beim flackernden Schein eines Kienspans auf den nackten natürlichen Menschen und seine Gestalt. Wieder ein Stück Anschauungsunterricht, aus dem er sofort die Lehre zieht: Fort, fort, erborgter Plunder! Zur Echtheit will er vordringen; er reißt sich die Königsgewänder ab -- und sieht sich dabei in alter Gewohnheit nach den Dienern um, die ihm helfen sollen, sich zu entkleiden! Welch eine Szene! Wo ein Greis im nächtlichen Wettersturm anfängt, Wirklichkeit und Güte zu lernen, aber sein Hirn ist nun so geworden, daß er nur noch in Gestaltensehen und leidenschaftlicher symbolischer Aktion lernen kann. Und der Sturm heult, der Donner tobt, der Regen prasselt, Edgars Vater, der alte Gloster, voller Erbarmen gegen den König, zu mildtätiger Hilfe bereit, die ihm übel bekommen soll, tritt dazu, und Edgar, um sich vor dem Vater, der ihm ein grausamer Verfolger ist, zu verbergen, bricht in tollere Reden aus. Zugleich nimmt Lears immer weiter bohrende Erkenntnis wieder Wahnsinnsform an. Der ihn das gelehrt hat, die Sache zu erkennen, wie sie wirklich ist, bis zur Echtheit des Wesens, bis zur nackten Natur vorzudringen, der ist, nackt und zähneklappernd und irre redend, wie er vor ihm steht, ein edler Philosoph, ein weiser Thebaner, ein hoher Gelehrter. Und kaum sind sie durch Gloster auf einem seiner Pachthöfe unter Dach und Fach gebracht worden, so weiß er genau, wozu ihm dieser Weise, der die Wahrheit mit seinem Leibe kündet und der überdies zwischen Tiefsinn und Unsinn ein Kauderwelsch von sich gibt, aus dem der kranke Sinn des Königs manche Erleuchtung empfängt, zugeführt worden ist: die Töchter sollen vor Gericht gestellt werden! Der nackte Bettler ist ihm, eben weil er nackt ist und keine Falschheit und Verhüllung anhat, „der Mann im Rechtstalar“; der Narr ist der eine Beisitzer, der treue Knecht der zweite. Vors Gericht des Volks und der Wahrheit werden die Königinnen gestellt: der tolle nackte Bettler, der arme Narr, der gute Knecht sind die Richter: alle drei in Wahrheit tief Verkleidete, hinter deren Masken Güte und Ehre wohnt. Und sie, selbst so an die Grenze gerückt, daß das Spiel mit grotesker Phantasie ihnen nahe genug liegt, gehen aus Güte, um ihn zu beruhigen, und aus Tollheit, von der sie sich gern anstecken lassen, darauf ein. Die Töchter sollen vortreten, ein Schemel stellt Goneril vor; wie Lear Regan holt, entwischt sie ihm, seine Gedanken, seine Bilder irren in andre Richtung. Jetzt sieht er eine Hundemeute vor sich, die ihn kläffend verfolgt, die dann wieder die Töchter zu Tode beißt, bis er in Erschöpfung niedersinkt. Und wie der treue Kent ihn bettet, ist er wieder für einen Augenblick der alte König, und nichts von aller Würde und Behaglichkeit ist ihm genommen worden: „Macht keinen Lärm, zieht die Vorhänge zu.“ Er schläft ein. So läßt ihn Gloster auf einer Sänfte fortbringen; er soll nach Dover, zu Cordelia, zu dem Heer der Franzosen, das dort schon gelandet ist. In den Wirren des Reichs, die sofort nach König Lears Abdankung eingetreten sind, in den heimlichen Machenschaften zwischen Cornwall und Albanien und beider Feindseligkeit gegen den alten König, hat sich eine Partei zu Frankreich, zu Cordelia geschlagen, deren Rechte in dem Augenblick erwachen, wo die andern Töchter die Vereinbarungen mit ihrem Vater brechen. Kent und Gloster gehören zu dieser Partei. Gloster ist schon in Verbindung mit dem französischen Heer; für Cornwall ist das ärgste Gefahr, und er hat das Recht, es für Hochverrat zu erklären. Was da vorgeht, erfährt er durch Glosters eignen Sohn, den Bastard Edmund, der erst den echten Sohn verjagt hat und nun Graf an seines Vaters Stelle werden will: grauenhaft ist die Rache, die Cornwall nimmt: die Augen werden Gloster aus den Höhlen getreten, gerissen; in der Ekstase des Zorns hatte der alte Mann gerufen, er werde noch sehen, wie die Strafe des Himmels über die grausamen Kinder komme; das war das Wort, das die Art seiner eignen Bestrafung über ihn brachte. Ein geblendeter Vater war er schon zuvor, wie Lear sein Herr. Und wie Lear im Wahnsinn das Denken lernt, so gehen Gloster nach der Blendung die Augen auf. Bei Dover begegnen die beiden einander wieder: Lear auf der Flucht vor der Tochter, an der er gesündigt hat und deren Anwesenheit er in lichten Momenten ahnt; der andre, Gloster, durch den Tod hindurchgegangen und im äußersten Elend wie zu Ruhe und Frieden auferstanden und wiedergeboren: von der hohen Klippe über Dover hat er sich hinabzustürzen vermeint; aber der echte Sohn Edgar in allerlei fremden Gestalten und mit allerlei Täuschungen hat den blinden Vater gerettet, und wie ein Fluidum der Sanftmut und heilenden Liebe ist es vom verstoßenen Sohn und vom Tod her über den alten Mann gekommen. Und wir empfinden, wie der Elende, der von hoher Herrlichkeit so hinuntergestürzt ist, als blinder Bettler ergeben am Wege sitzt, sein noch unerkannter Sohn bei ihm, von diesem Vater verstoßen und auch im selbstgewählten nackten Bettlerdasein, wir empfinden in tiefster Seele die alte Weisheit: Es ist alles eitel; alles, was zur innersten Verborgenheit des Wesens als Aufputz und Zierat dazu kommt. Und in diesem Augenblick tritt Lear der König auf; wieder ganz herrisch für diesen Augenblick; und da dem Abgerissenen, der durch Wälder und Felder gerannt ist, der Königsornat fehlt, hat er sich mit Blumen ausgeschmückt. Der Wahnsinn hängt nun dicht und schwer über ihm; aber auch in dieser lastenden Wolke verfolgt er sein seltsames Lernen weiter. Zum König hat er sich jetzt wieder gemacht, um lebendig in seinen einstigen Zustand zurückgreifen zu können und mit besserer Einsicht sein Königserlebnis mit den Menschen zu wiederholen. Wie hatten sie ihm die Welt mit Schmeicheleien verhüllt; „Ja“ und „Nein“ zugleich zu allem gesagt, was er vorbrachte! Ja und Nein dazu, das war keine gute Religion! Als der Regen kam, mich zu durchnässen, und der Wind, mich schaudern zu machen; als der Donner nicht einhalten wollte auf meinen Befehl, da fand ich sie, da witterte ich sie aus. Die unerbittlich wahre Natur, die außer der Sprache ihrer Taten nicht noch eine der Bemäntelung und Lüge hat, hat diesen Fürsten, der von Lüge erstickt war, in die Schule genommen. Und nun ist er, der Selbstherrscher, der König von Götter Gnaden, in Not und Wahnwitz zur selben Erkenntnis gekommen wie Richard II. in dem Augenblick, wo man ihn der Macht entkleidete: Sie sagten mir, ich wäre jedes Ding; ’s ist erlogen; das Fieber ist stärker als ich. Nun merkt er die Schranken, die Gleichheit alles dessen, was von Menschenhaut umspannt ist; seine Hand „riecht nach Sterblichkeit“. So hatte es Richard gesehen: Ihr irrtet euch die ganze Zeit in mir: Wie ihr leb’ ich von Brot, ich fühle Mangel, Ich schmecke Kummer und bedarf der Freunde. So unterworfen, -- kann ich König sein? Und jetzt, wo Lear weiß, was der nackte Mensch ist, jetzt weiß er auch, wie in dieser Welt der Kostüme, der Lüge, der Politik von Würdenträgern, Beamten, Richtern Unrecht geübt wird. Hör’ zu, blinder Mensch im Staub, der du dich freiwillig von der höchsten Klippe hinunterwerfen mußtest, um zu dir selbst zu kommen, hör’ zu, wie dein König auf Elends- und Wahnsinnswegen aus dem Lager seiner politischen Töchter hinweg endgültig zu Cordelia, zur Menschheit, zur Echtheit heimgefunden hat! Was hat er denn selber in seinem Königsornat geübt? Willkür! Laune! Und seine Beamten? Ach, du Blinder, das kannst du merken, ohne zu sehen. Hör’ nur hin, wie der Richter sich über den armseligen Dieb erhebt! Wechsle die Plätze, dreh die Hand um, horch hin: wer ist der Richter, wer der Dieb? Er gewahrt alles in bewegten Bildern, er erlebt die Wahrheit in lebendiger Aktion: Hast du wohl einmal gesehn, wie ein Pächterhund einen Bettler angebellt hat? -- Ja? -- Und der Tropf lief vor dem Hund davon? -- Da hast du das große Bild der Autorität: einem _Hund_ im _Amt_ gehorcht man. Alles, was er je gesehen, was in seinem Namen geschah, wird in ihm aufgerührt; und zugleich melden sich die Triebe, die ihm sagen: wir Herren, wir Gebieter, wir strafenden Richter und Henker, wir spielen eine Rolle; wir stellen uns an, als wären wir wie unser unbefleckter Mantel, als wären wir unser Amt; und was sind wir in unsrer Wirklichkeit, in unserm Leib? Die scharfe Erkenntnis, die sich im Ton der zugleich unerbittlich logischen und bildkräftigen Prosa geäußert hat, schwingt sich -- wie so oft in diesen Szenen Lears -- wie zu dichterisch gesteigerter Proklamation auf: Du Schuft von Büttel, weg die blut’ge Hand! Was schlägst du diese Dirne? Peitsch’ dich selbst! Heiß glühst du, das mit ihr zu tun, wofür Du sie zerschlägst. Da haben wir in Lears Erkenntnis das Motiv, das sich in Maß für Maß zum Drama ausgestaltet hat. Der Wuchrer hängt den Gauner. Durch lump’ge Kleider scheint der kleinste Fehl; Ein reich Gewand deckt alles. Die Klarheit, wie’s in der Welt zugeht und was die innere Wahrheit der Dinge ist, kommt jetzt; aber es ist ja zu spät; sein alter Leib hält’s ja nicht mehr aus; sein Geist ist ja dieser fieberhaften Anstrengung nicht mehr gewachsen. Es geht alles wirr und wüst durcheinander; er kann ja schon nicht mehr leben, wo es jetzt in ihm anfängt zu tagen. Manchmal ist er in hoher Erkenntnis und einmal in höchster; da eint sich sein alter Königsstolz mit der erhabnen Einsicht eines Augenblicks; der Ekel hatte ihn übermannen wollen über diese feile, gemeine, verbrecherische Welt der Lüge; aber wenn man erst so nah der Enthüllung ist, braucht’s nur noch einen Schritt; er tut ihn: Der Reiche entgeht dem Speer des Gesetzes; der Arme wird vom Strohhalm eines Zwergs gefällt; schon will er sagen, daß alle, alle Sünder sind; aber königlich hoheitsvoll kommt jetzt die Demut über ihn; wie viel weiter ist er nun in diesem Moment als in der Wetternacht, wo er in der Hütte des armen Toms die Töchter vors Gericht schleppte: Es sündigt keiner; keiner, sag’ ich, keiner. Ich schütze sie; glaub’, Freund, ich habe Macht, Des Klägers Mund zu stopfen. Was für eine Macht ist das, die da mit all seiner Königshoheit auftritt? Seine Erfahrung im Unglück und in der Herrlichkeit; sein Leben in beiden Reichen: er versteht sich jetzt auf das Leben der Enterbten und auf die Innerlichkeit der Obrigkeiten; er ist ein Mensch geworden, der das Bewußtsein seiner selbst und das Bewußtsein seines Gegenübers zugleich hat; aber o Jammer! nur wie Fetzen blauen Himmels, die die Wolkenschicht mal öffnet, mal schließt, sind diese höchsten Momente; schon im nächsten Augenblick tollt ihn die Verrücktheit wieder in seinen alten Königswahn hinein, und der Monarch ruft ungeduldig, herrisch die Diener herbei, die nicht da sind, ihm schnell die Stiefel auszuziehn! So ist er in dem Augenblick, wo die Abgesandten Cordelias ihn auffinden, in völliger Raserei. Dann aber kommt er in Pflege, in die behutsame, liebevolle Pflege Cordelias und ihres guten Arztes. Der heilt ihn mit Ruhe, mit Schlaf und weckt ihn schließlich mit sanfter Musik. Und nun möchte ich Adalbert Stifter das Wort geben, dessen Schilderung einer Lear-Aufführung am Burgtheater mit Anschütz, die er in seinen „Nachsommer“ verflochten hat, das Schönste ist, was je über diese Tragödie geschrieben wurde: „Der König erwacht endlich, blickt die Frau an, hat nicht den Mut, die vor ihm stehende Cordelia als solche zu erkennen, und sagt im Mißtrauen auf seinen Geist mit Verschämtheit, er halte diese fremde Frau für sein Kind Cordelia. Da man ihn sanft von der Wahrheit seiner Vorstellung überzeugt, gleitet er ohne Worte von dem Bette herab und bittet kniend und händefaltend sein eigenes Kind stumm um Vergebung.“ Der Unterricht des alten Mannes ist vollendet: er -- jeder Zoll ein König! -- hat Demut und Selbstüberwindung gelernt. Wie er die Demut, als er noch in Wahnsinnsform den Wahn seiner Königswut durchbrach, verkündet hatte, so kann er sie jetzt in letzter Klarheit und Würde vor dieser reinen, kindguten, herb wahren Frauengestalt üben, die er geliebt hatte, ohne sie zu kennen, sie, die an seinem Hof die Echtheit, die Natur, die Seelenschönheit repräsentiert hatte. Und wie hatte er, gerade noch in seiner letzten Raserei, wo alles Verhohlene in ihm aufgewühlt wurde und er zu den letzten Gründen des tierisch Allzumenschlichen vordrang, in wüsten sexuellen Bildern gegen die Weiber gewütet! Die beiden andern Töchter traf’s -- wir haben ja ihr aus Herrschaftsgier, aus wonnigem Verlangen nach der Gemeinheit und aus edlerer Sehnsucht gemischtes ehebrecherisches Treiben mit dem Bastard miterlebt, das nun noch weitergeht: Vom Gürtel niederwärts sind sie Kentauren, Wenn oben gleich ganz Weib. Nur bis zum Gürtel sind sie Götterwohnung, Doch drunter ganz des Teufels... Es ist eine tiefe Erkenntnis Shakespeares -- fast haben wir ihn doch über dem Erleben dieser Gestalten vergessen, die alle seines Geistes, seiner Natur, seiner Kunst Geschöpfe sind --, daß er den Machtkitzel zu allerletzt auf einen Wahn zurückführt, der mit anderm Namen Wollust heißt. So weit die ichsüchtige Lüsternheit sich von ewiger Liebe entfernt, so weit irrt die Herrschgier von der geordneten Eintracht zwischen den Menschen ab; und beides ist dasselbe, derselbe Fehl unsrer schwachen, gemengten Menschennatur: daß wir erraffen und haben müssen, um unsres Ich und der Nächsten sicher zu sein, daß wir haben müssen, um zu sein. Was in ihm Wutmanier, Herrensinnlichkeit und gebieterisch besitzende, besessene Wollust der Wirklichkeit war, das haben Goneril und Regan, die politischen Schwestern, als Erbe bekommen; Cordelia, ein völlig weiblicher Mensch, hat vom Vater die ursprüngliche gute Anlage, die, da sie aus ihm herauskommen konnte, in ihm von je da war, und die wir an einem Zug gemerkt haben, der dem Vater und seinem Kind gemein ist, von dem wir aber an den Schwestern nicht die kleinste Spur finden: Kindlichkeit. Mit der Kindlichkeit steht alle Reinheit unsrer sexuellen Natur in tiefem Zusammenhang; das mädchenhaft Holde dieser Tochter, die ihrem Vater nicht von ihren Gefühlen zu reden vermochte, ihre Seelenkeuschheit entstammt dieser Unschuld, daß sie als reifer Mensch und liebende Frau geblieben ist, wie sie als Kind war. Und mit diesem seinem Kinde zusammen wird der Mann, der vordem so oft ein kindischer Wüterich gewesen und dessen unerzogene und verzogene Willkür trotz dem Grundguten seiner Natur der Schlechtigkeit so nah gekommen war, nun, wo’s zum Ende geht, sanft und kindlich. Nicht aber bloß so, wie man im gemeinen Leben von einem sanften und kindlichen Menschen spricht; wir haben schon, als die Wut tobte und die Krankheit verzerrte, gemerkt, daß da ein ungemeiner Mann sich herausarbeiten will; jetzt ist er das Urbild dessen, der überwunden hat, und hat ganz den Geist seiner Haltung. Wie die Schlacht für Cordelia und ihr Heer unglücklich ausgeht und Lear samt seiner Tochter in Gefangenschaft gerät, macht er sich aus diesem Schicksalswechsel gar nichts, nicht einmal für sein Kind; er ist, was er nie hat sein können, fröhlich: in gleichmäßiger Ruhe heiter, gelassen über die Wechselfälle der Ereignisse hinweg: Wir wollen ins Gefängnis Und wie zwei Vögel in dem Käfig singen. ... So woll’n wir leben: Man betet, singt, sagt alte Märchen, lacht Der goldnen Falter, hört wohl armer Leute Gered’ vom Hof und schwatzt wohl selber mit... Wir tun so wichtig mit geheimen Dingen, Als sei’n wir Gottes Späher; überleben Im Kerker Sekten und der Großen Streit, Was ebbt und flutet mit dem Mond... Man sieht, aus der Welt jeglicher Gier und Macht ist er völlig ausgeschieden; er, dem nichts galt als die Größe, die Herrlichkeit, das Befehlshabertum und der Pomp, ist ein kleiner Mann geworden, einer von den Stillen im Lande, deren Erhabenheit in Lächeln, in Frieden, in Überwindung besteht; ein Armer in jeglichem Sinn, auch in dem der christlichen Mystik: ein freiwillig Armer, ein Abgeschiedener, der nichts hat und nichts will. Aber dieses stille Versickern seines schwachen Lebensrestes in genügsamer Beschaulichkeit ist ihm nicht beschieden; zu tief hat sein früheres Treiben, zumal sein Handel mit den drei Töchtern ihn und die gute Cordelia mit ihm ins Böse, ins Politische, in Krieg und Mord verstrickt. Die sanfte, unpolitische Cordelia hat um seiner und um Britanniens Rettung willen zur Politik und den Waffen greifen müssen, die politischen Schwestern haben, um die Ziele ihrer privaten und öffentlichen Gier durchzusetzen, den Mann immer weiter nach oben gebracht, in dem das böse Prinzip sich verkörpert, den Glosterbastard Edmund, und nun ist es so weit gekommen, daß der Teufel und der Engel in Menschengestalt, Edmund und Cordelia, einander gegenübertreten; der Teufel bekommt, so weit ist’s in diesem Reich des Wahns gediehen, den Engel in die Hand, steht siegreich über ihm und darf ihn umbringen. Und nun sehen wir noch einmal den rasenden, den brüllenden, den wütenden König Lear; jetzt darf er toben; diesmal geht’s nicht um Eitelkeiten, nicht um ihn selber; sein Jammer tönt um den liebsten Menschen, nicht weil er sie nun nicht mehr haben soll, nein, weil man ihr das Leben, weil man sie der Welt genommen hat. In dem ganzen Stück scheint sich der Kampf des Guten, Menschenfreundlichen, Verträglichen mit dem Bösen, Gierigen, Ränkevollen und grausam Wütenden zu verkörpern, und so wie in Lear selbst eine tragische Bühne aufgeschlagen ist, auf der dieser Widerstreit der Mächte ausgefochten wird, so scheint er der König eines Reichs jenseits Britanniens, jenseits aller Reiche der Erde zu sein, wo dieser metaphysische Kampf der zwei Mächte um das Weltregiment gestritten wird. Auf der einen Seite Goneril und Regan, die wie Zwillingstöchter des Herrschteufels erscheinen; auf der andern Cordelia; hie Edgar, hie Edmund. Und auch der Verlauf der Geschehnisse ist so, daß Bös und Gut sich immerzu messen und abwechselnd siegen; und immer erscheint Bös als Reich dieser Welt, Reichtum, Unersättlichkeit; Gut als Stille, Friedfertigkeit, Armut. Der gute alte Gloster wird von Cornwall geblendet; sofort empört sich ein alter Knecht, einer von den kleinen Leuten der Menge, wir haben vorher nichts von ihm gesehen noch gehört, gegen den Herrn und verwundet ihn zu Tode; und Schlag auf Schlag; unmittelbar darauf ist das Böse wieder Meister: Regan bringt den Knecht um. -- Der Haushofmeister Gonerils, ein dienstergebner Bube, So treu den Lastern der Gebieterin, Als Schlechtigkeit nur wünscht, will den Hochverräter Gloster, blind wie er ist, töten; Edgar der Sohn, in Gestalt eines Bauernlümmels, nimmt dem Herrenknecht vorher das Leben. Edmund der Bastard tötet Cordelia; ihn aber erschlägt in ritterlichem Kampf sein wundervoller Bruder Edgar, der Armut und Tapferkeit, Milde und Heldentum in sich vereint. Und zugleich stirbt das Schwesternpaar, das nach dem Bastard lechzt: Regan von Goneril vergiftet, Goneril von eigner Hand, am meisten aber von der schneidenden Verachtung ihres „milden Gemahls“, wie sie ihn genannt hatte, getötet. Der, Albanien, hatte sich in ruhiger Verachtung, in einer Haltung stiller Größe von ihr geschieden, die ihr bitterer sein mußte als irgendein Wutausbruch eines Brutalen; zu seiner Schwägerin gewandt hatte er in dem Augenblick, wie er den Bastard in Haft nahm, die Worte gesprochen: Und Euren Anspruch auf ihn, schöne Schwester, Muß ich bestreiten namens meiner Frau. Sie ist mit diesem Herrn geheim verlobt, Ich als Gemahl tu’ Einspruch Eurer Ehe. Sucht Ihr ’nen Mann, schenkt Eure Liebe mir; Mein Weib ist schon versagt. Man hat es gewagt, Balzac einen Shakespeare zu nennen; das war weitaus zu viel gesagt; Gonerils und Regans im Kostüm seiner Zeit sind ihm trefflich gelungen; viel höher ist es nicht gegangen; aber an solcher Stelle Shakespeares wie dieser merkt man, woher der Irrtum gekommen sein mag: in Shakespeare dem Unerschöpflichen steckt auch, diese Worte Albaniens zeigen’s, der ganze Balzac, dazu aber noch, auch in schneidender Verachtung, eine Vornehmheit, die Balzac ewig unerreichbar blieb. Sehen wir nun, daß uns die letzten blutigen Entscheidungen, in denen es um Leben und Tod geht, über das Verhältnis von Gut und Böse in dieser Welt keine Sicherheit geben, daß der Kampf unruhig hin und her wogt, so tun wir vielleicht gut, von den Taten, die keine Klarheit bringen, überzugehen zu den Worten, die sie begleiten. Wie steht es mit dem Zusammenhang von Menschenschicksal und Weltordnung? Welche Weltanschauung des Dichters hat im König Lear Gestalt angenommen? Sehen wir zu; leicht möglich, daß wir hier endgültige Aufklärung über Shakespeares Weltanschauung erhalten. Lear hat sein Reich geteilt; Gloster hat von seinem Bastardsohn Edmund -- dessen Bastardsohn Franz Moor heißt -- mit Hilfe eines gefälschten Briefes erfahren, daß sein Sohn Edgar ein Ruchloser ist, der nach des Vaters Besitz und Herrschaft und Leben trachtet. In dieser innern Verfassung des Jammers über sein mißratenes Kind und über die Lösung aller Bande in der Familie des Königs spricht er die Anschauung aus: Diese neulichen Verfinsterungen der Sonne und des Mondes bedeuten uns nichts Gutes. Mag sie die Naturweisheit so oder so deuten, immer findet sich die Natur selbst durch die darauf folgenden Wirkungen gepeinigt: Liebe erkaltet, Freundschaft fällt ab, Brüder entzweien sich: in Städten Aufruhr, auf dem Lande Zwietracht, in Palästen Verrat; und das Band zwischen Sohn und Vater zerrissen. Dieser mein Bube bestätigt die Wahrsagung: da ist Sohn gegen Vater; der König tritt aus dem Geleise der Natur: da ist Vater gegen Kind. -- Wir haben gesehen, wie weit unsre Zeit es bringen kann: Ränke, Gleißnerei, Verrat, und alle verderblichen Zerrüttungen folgen uns quälend bis ans Grab!... Und der edle, biederherzige Kent verbannt -- sein Verbrechen: Ehrlichkeit! -- ’s ist seltsam! Eine Beschreibung der Sphäre dieses Stückes, in der all die verschiedenen Handlungsteile darin sind, haben wir sicher mit diesen Worten; wenn aber darüber hinaus nicht nur Gloster in seiner bestimmten Situation, sondern der Dichter sich hier im allgemeinen über den Zusammenhang der Menschengreuel und der Zeichen der Natur äußern soll, so muß es uns stutzig machen, daß sich diese Weltanschauung des Dichters auf einer falschen Voraussetzung, die er eine seiner Gestalten machen läßt, aufbaut: Glosters echtes Kind Edgar, „dieser Bube“ bestätigt ja die Wahrsagung in der Tat nicht. So erstaunt es uns schon weniger, wenn der Bastard sofort darauf das Wort erhält und mit herzhafter Kraft die entgegengesetzte Auffassung äußert: Das ist die ausbündige Narrheit dieser Welt, daß, wenn unser Glück bei schlechtem Befinden ist -- oft, weil wir selber uns übernommen haben --, wir die Schuld für alles Unheil, das uns trifft, auf Sonne, Mond und Sterne schieben; als ob wir Schurken aus Notwendigkeit, Narren durch himmlische Fügung wären; Schelme, Diebe, Verräter durch Machtspruch der Sphären, Trunkenbolde, Lügner und Ehebrecher durch Abhängigkeit vom Einfluß der Planeten, und alles, worin wir übel daran sind, durch göttliches Verhängnis: eine prächtige Ausrede für den Hurenjäger von Menschen, seine Bocksnatur den Sternen zur Last zu legen!... Pah, ich wäre geworden, was ich bin, hätte auch der jungfräulichste Stern am Firmament meiner Bastardierung zugeblinzt! So spricht der Empörer, der Morallose, der Frevler, der natürliche Sohn, der sich ganz als Kind der Natur betrachtet und nur nach seiner Kraft, nicht nach Gesetz und Sitte und Rücksicht auf andre fragt; „ich wachse, ich gedeihe“; das ist seine einzige Losung. Daß er also diese Worte spricht, die jedes Band zwischen Himmel und Erde zerreißen, entspricht seinem Charakter, seiner Situation genau so kraftvoll, wie das bedenkliche Wiegen des Kopfes, das Grübeln, das Suchen nach einem Zusammenhang, das Erschauern vor einer Ahnung, die Ergebung in die Ratschlüsse des Himmels zu seinem Vater paßt. Aber der Dichter? Was sagt er? Vielleicht -- nichts? Wo ist er? Verschwindet er vielleicht hinter seinen Gestalten, in seinen Gestalten, aber nicht in einer einzigen oder einer Gruppe, sondern in allen? Ist er vielleicht darum mit Notwendigkeit der Dramatiker, weil er einer einzigen Anschauung nicht verschrieben sein kann? Nach seiner Blendung weiß Gloster von dem Verhältnis des Himmels zu unsern irdischen Losen ganz anderes zu sagen als vorher; da hören wir die unerbittliche, unerforschliche Grausamkeit des Schicksals also gedeutet: Was Fliegen losen Buben sind wir Göttern: Sie töten uns zum Spaß. Aber er ist sich seiner Sache jetzt nicht mehr sicher; auch er ist, wie Lear, erschüttert und zum Lernen gekommen: am Ende tragen die Menschen und ihre Einrichtungen größere Schuld als die Götter; vielleicht ist gerade das Unglück eine Art ausgleichende Gerechtigkeit? Wie er zum Freitod entschlossen oben auf der Klippe über Dover in hoher Luft zu stehen vermeint und einem armen, tollen Bettler -- seinem Sohn! -- schenkt, was er bei sich hat, Geld und Schmuck, da meint er: ... Mein Elend Bringt dir Glück. Ganz recht so, ihr Himmelsmächte! Laßt überfluß- und wollusttrunknen Mann, Der eurer Satzung trotzt, der nicht will sehen, Weil er nicht fühlt, schnell fühlen eure Macht: Verteilung tilgte so das Übermaß, Und jeder hätt’ genug. Da ist es nun ganz deutlich, wie der blinde Gloster im Augenblick, wo er vor dem Tod steht, mit hellen Geistes Augen zu derselben Erkenntnis kommt wie noch in der nämlichen Stunde der wahnsinnige Lear. Für beide wird in dem Unterricht, den ihnen der Sturz von der Höhe erteilt, die metaphysische Weltanschauung, der sie beide wohl in der Zeit der Herrlichkeit angehangen haben, ergänzt und zu großem Teil ersetzt durch die soziale Betrachtung, die ja in Wirklichkeit die Erkenntnis birgt: Schiebt nicht den Göttern zu, was euer Menschenwerk ist, was ihr schlecht gemacht habt und gut machen könnt. Und doch kann-will es der Mensch nicht lassen, in den hohen Augenblicken des Menschenschicksals manchmal sichtbar und greifbar die geheime Führung, die Vorsehung, die ewige Gerechtigkeit, den Sinn zu erblicken. Wie der gute Albanien hört, daß nach Glosters scheußlicher Blendung der Täter, sein Schwager Cornwall, sofort vom eignen Knecht, der ihm Jahre gedient und zu Gloster keine Beziehung hatte, aus Aufruhr der Seele heraus erschlagen worden ist, ruft er, tief erschüttert ob dieser Vergeltung: Dies zeigt, ihr waltet droben, Ihr Richter, die der Menschen Übeltat So schleunig rächen! Hier erleben wir aber eine wundervolle Steigerung. Edgar hat seinen Bruder, den Bastard, der über ihn und seinen Vater das Elend gebracht hat, im Zweikampf feierlich-ritterlicher Art, im Gottesgericht besiegt; in dem Augenblick, wo er dann sich, mild verzeihend, dem Sterbenden enthüllt, findet er Worte des Verstehens auch für dies Entsetzliche selbst, für die Blendung seines Vaters; wie Albanien in der Tat, die dieses Gräßliche gerächt hat, so findet der eigene Sohn himmlischen Sinn in dem Gräßlichen selbst: Die Götter sind gerecht, aus unsern Sünden Erschaffen sie das Werkzeug unsrer Strafe. Der dunkle, schnöde Platz, wo er dich zeugte, Raubt ihm das Augenlicht. Geben wir’s nur zu: wir wären keine Menschen, wenn wir in den Momenten der innigsten Erschütterung, die uns so hinnimmt, daß wir nicht wissen, drückt sie uns nieder oder erhebt sie uns, mit dem Ewigen nicht spielen müßten, wie hier Edgar spielt, wie die Guten alle in dieser furchtbaren Welt des Zorns, der Bosheit, der Brunst und Gier, wenn Erkenntnis sie anrührt, spielen, in einem Spiele spielen, das dem Glauben so verwandt ist, wie ihre Art, die Wahrheit zu schauen, dem Wahn. Was Edgar da sagt, heißt ja doch: Du, den der Vater in Sünden, in Wollust, in Unehren, fern von Familie und aller gesellschaftlichen Anerkennung, wie in einem dunklen Loch in die Welt gesetzt hat, du, der als Bastard zum Aufrührer geboren war, du Bruder, in dem Neid und Rachsucht von Geburts und Erziehungs wegen entstehen mußte, du warst von Gottes und Rechts wegen der berufene Rächer seiner Sünde; und daß er durch dich der Finsternis anheimfiel, darin kann man tiefen Sinn und Fügung des Himmels erkennen. Ein solcher Ausruf, eine solche Bewunderung, ein solches Sichbeugen ist ja nicht die Setzung einer Theorie, es ist ein Stück heiligen Willens: so sei die Welt! ist ein Entschluß, ist die Umschaffung der natürlichen Welt in eine Menschenwelt und zugleich die Anerkennung des unverbrüchlichen Zusammenhangs der Notwendigkeitsordnung, die wir Ursache und Wirkung nennen: Denn alle Schuld rächt sich auf Erden. Während dies sich zwischen den Brüdern ereignet, wo der milde Held den bösen Kraftkerl tötet und ihm Verzeihung in sein Sterben ruft, stirbt der alte Vater still und lebenssatt. Er ist noch mitten in den Krieg geraten, hat miterlebt, wie die gute Sache, der er gedient hatte, für die er alles gegeben, unterlag, wie Lear und Cordelia gefangen wurden; der blinde Greis hockt unter einem Baum, will nicht mehr weiter, will sich nicht retten: Nicht weiter, Freund, ein Mensch verwest auch hier. Da ermuntert ihn der immer noch unerkannte Sohn Edgar, mit Worten, in denen zugleich Resignation und Tatkraft liegt: über nichts verzweifeln, alles tragen, nicht aber es stumpf über sich ergehen lassen: Dulden muß der Mensch Sein Scheiden wie sein Kommen in die Welt. Reif sein ist alles. In alledem haben wir je nach Charakter, Stimmung, Situation wechselnde Gefühle, Gedanken, Bereitschaften angesichts großen Unglücks; und immer versucht der Mensch, Himmel und Erde in Verbindung zu bringen oder ohne das auszukommen. Aber auch, wenn große, innige Seligkeit zu einem kommt oder wenn gar die Gleichzeitigkeit und das Ineinander des Bösen und des Guten gewahrt wird, ist der Mensch geneigt, den Himmel zur Erde hinabzuziehen und das Wunderbare als geheimen Zusammenhang zu erfassen. Wie Kent die Güte seines Lieblings Cordelia und die Bosheit ihrer Schwestern betrachtet, ist es ihm, als reichten irdische Gründe zur Erklärung des Warum all der Rätsel hier auf Erden nicht aus. Es muß eine überirdische Lenkung da sein; ein uns unbegreifliches Verhängnis, das in den Sternen geschrieben steht: Die Sterne, Die Sterne droben leiten unser Schicksal. Wie könnte sonst ein Paar wohl Kinder zeugen, So ganz verschieden? Die Szene am Schluß aber, wie Lear, selbst ein Sterbender, schwach, taumelnd, die Leiche der grauenhaft ermordeten Cordelia auf den Armen herein trägt, wie nun sein letztes Leben als Leidenschaft aufschreit, diese Szene hat wahrhaft Weltuntergangsstimmung: Heult, heult, heult, heult! -- O, ihr seid all von Stein! Hätt’ eure Zung’ und Augen ich, des Himmels Gewölbe machte ich zusammenstürzen! Und Kent, Edgar, Albanien, die Guten, die im Untergang einer Welt, wo die Guten mit den Schlechten in unlöslicher Umklammerung hinabgerissen werden, allein noch übrig sind, bilden den Chorus: Ist dies das verheißne Ende? Ist’s jenes Grauens Bild? Sink und vergeh! Und wie Lear sterben will, flüstert Kent der Vielgetreue, der seinem Herrn gleich nachsterben wird -- der zehnte und letzte Tote in diesem Stück --, ängstlich, bange, daß Lear doch ja nicht in dieses Leben hier noch einmal zurückkehre: Quält seinen Geist nicht, laßt ihn ziehn! Der haßt ihn, Der auf die Folter dieser zähen Welt Ihn länger spannen will. Man sagt, dieses Stück entstamme Shakespeares bitterster, pessimistischer Periode; der Untergang des Guten mit dem Bösen, durch das Böse werde darin gezeigt. Das ist wahr und nicht wahr; gezeigt wird, wie die böse Lust sich der Menschen bemächtigt, ihr angeboren Gutes unterdrückt und überwächst; wie dieses Schlechte Zustände und einen Nährboden schafft, wo auch das Gute nicht mehr gedeihen kann; und wie der Versuch der Umkehr, der Rettung, der Heilung zu spät kommen mag. Nirgends mehr als hier führt der Dichter das, was die Menschen einander antun, mit dem, was er zeigt, und mit dem, was er die Gestalten aussprechen läßt, nicht auf den dunklen Ratschluß der Götter, sondern auf die Verkehrtheit der Menschen, das Mythologische auf das Soziale, das Soziale auf die Seele zurück; die Äußerungen der Deutung gerade für die Beziehung zwischen Charakter und Schicksal sind mannigfach abgestuft und untereinander entgegengesetzt; nie äußert sich der Dichter, immer die bestimmte Gestalt nach Maßgabe ihres Charakters und der wechselnden Situation und Stimmung. Jeder, möchte man fast sagen, hat jedesmal recht. Shakespeare geht hier so wenig wie je von einer Idee aus; es ist nicht eine Fabel um der Darstellung eines Gedankens willen erfunden oder umgestaltet, es sind auch nicht die zwei Fabeln um einer Abstraktion willen zusammengefügt worden. Er erfüllt die rohe Skizze der überlieferten äußeren Tatsachen mit Leben, mit Seele, mit innerster Wahrheit. Ein Geschehnis wird berichtet; seht her, ruft der Dichter, ich zeige euch, wie’s dabei im Innern der Menschen zuging; warum sie tun mußten, was sie taten. Wie’s Herder gesagt hat, ein Stück unsäglich reiche, breite, innige Menschenwelt ist „zu einem Vater- und Kinder-, Königs- und Narren- und Bettler- und Elend-Ganzen zusammen geordnet“, eben um dieses Ganzen, um der gegenseitigen Beleuchtung der einzelnen Teile und Vorgänge und Gestalten willen. Shakespeare hat kein Stück geschrieben, wo wir so extensiv und intensiv in der Fülle leben wie im König Lear; Zymbelin freilich geht noch mehr ins Breite und Bunte, aber nicht annähernd so ins Tiefste, und wie mager wird selbst die Fabel des Hamlet gegen dieses Ineinander des Mannigfaltigen: Lears Verhältnis zu den Töchtern -- Cordelia zwischen den zwei Freiern -- Lear und Kent -- Lear und sein Narr, den der Dichter, so innig lieb er ihn hat, im dritten Akt verschwinden läßt, weil nun Edgar an seine Stelle tritt -- Gloster und seine Söhne -- Edgars mannigfaltigste Schicksale und Begegnungen -- das in seiner Körperlichkeit strahlend schöne, morallose, kraftvolle Naturkind Edmund und seine Beziehungen zu Lears Töchtern -- Gloster und Cornwall -- Cornwall und der Knecht -- Albanien und seine Frau -- Edgars und Edmunds Kampf -- und all das und mehr in breiter Entladung und nie als dekorativer Auftritt, immer als Gestalt und Handlung gewordenes Innere; und welche Kühnheit und Sicherheit, die beiden Greise, Lear und Gloster mit ihren wesensgleichen und doch äußerlich so verschiedenen Erlebnissen neben- und miteinander agieren zu lassen! In eine solche Fülle des äußeren und inneren Lebens, der Qual und der inständigen Not und des über Elend und Wahnwitz und tiefsten Hinabsturz sieghaft empordringenden Geistes, in einen so mannigfach variierten und gesteigerten Gegensatz von Affektwut und friedfertig ergebener Demutsabgeschiedenheit, von sklavischem Herrentum und freier Armut, von Reichtum und Entblößtheit kommen wir hinein, daß wir, wenn mit einem Mal das Wort „Shakespeare“ an unser Ohr schlägt, erstaunt uns besinnen, daß all diese ausgedehnte Welt Werk eines einzelnen Menschen, eines der vielen Stücke dieses Dichters ist. Shakespeares Gestalten sind nicht bloß feurig aus produktiver Kraft geflossen; sie haben von ihrem Schöpfer solche Zeugungskraft aufgenommen, als wären sie lebendige Wesen. Kaum ein besseres Beispiel wüßte ich dafür, wie Shakespeares Gestalten sich in der Erinnerung nachträglich lebendig verwandeln können, als die Gestalt Lears. Das Sentenziöse, Sprichwörtliche, das mit dem Bilde dieses alten Mannes sich verbunden und zu neuen Dichtungen geführt hat, ist aus Shakespeares Stück, mehr durch Weglassung als durch Hinzufügung, erwachsen, bezeichnet aber nicht eigentlich seinen Inhalt und Sinn; am schönsten hat Goethe es in seinem Spruchgedicht geformt: Ein alter Mann ist stets ein König Lear! -- Was Hand in Hand mitwirkte, stritt, Ist längst vorbeigegangen; Was mit und an dir liebte, litt, Hat sich wo anders angehangen. Die Jugend ist um ihretwillen hier, Es wäre törig, zu verlangen: Komm, ältele du mit mir! Die weise, gefaßte Heiterkeit dieser Schlußwendung ist ganz goethisch, ein Trieb, der Shakespeares Dichtung erst in Weimar zugewachsen ist. Zwar zeigt uns Shakespeare gleich zu Beginn in Cordelias Verhältnis zu dem alten Vater und zu ihrer jungen Liebe mehr als in Lears Verhältnis zu den andern Töchtern, daß, wer alt wird, sich gar nicht erst zurückzuziehen braucht: mitten unter denen, für die er Sorge trägt, ist er einsam. Aber Lear hat ganz andere, schwerere Dinge zu lernen als dieses, und wenn er es schließlich bis zu der Demut bringt, vor der eignen Tochter hinzuknien, so tut es wahrhaftig nicht der alte Mann, der der Jugend huldigt, sondern der König und Vater, der im Alter hat lernen müssen, was er sein Leben lang versäumt hat. Und so ist zum Ganzen dieser Identifikation Lears mit dem Alter zu sagen: Nachträglich, wenn die Gesamtstimmung Lear sich mit unserm eignen Gemüts- und Erfahrungsleben verbindet, beim Rückblick auf diesen Mann, dem sich die Kinder, alle drei, entziehen, gegen den sich der nicht mehr junge, aber jüngere Freund, der Graf Kent auflehnt, dessen Altersgenosse Gloster nur für ihn eintritt, um gräßliche Strafe zu finden, der fühlt, daß ihn niemand mehr braucht, daß er allen im Wege ist und irgendwohin in die Ecke gefegt werden soll, der schließlich vor den Menschen nicht als seinen Verfolgern, sondern als lieblos Abgewandten und Belästigten in Wettersturm und Wahnsinn flieht, so in der auslassenden und zusammenrückenden Erinnerung empfinden wir wohl, daß Lear das Bild der Altersvereinsamung ist. Aber in dem Stück selbst weist nicht der kleinste Einzelzug und keine einzige Äußerung darauf hin, daß der Dichter auf dieses Typische sein Licht und seine Wärme sammeln will. Die Dichtung sträubt sich nicht dagegen, daß wir diese Stimmung mitbringen oder mitfortnehmen oder später um Lears Bild ranken; was Shakespeare aber darstellt, ist ein sehr besonderer Fall nicht dieses Allgemeingültigen, das vom Alter handelt, sondern eines ganz andern. Shakespeare hat solche Allgemeinheiten und darum Mannigfaltigkeiten wie Alter, Freundschaft, Liebe, Weib nicht auf die Linie einer Regel gebracht, und für ihn ist ein alter Mann so wenig ohne weiteres ein König Lear, wie er ein Shylock oder Siward oder Lafeu oder Bruder Lorenzo ist, oder wie das Weib eine Cleopatra oder Cressida ist. Und viel mehr als mit den alten Männern, die man sonst noch bei Shakespeare findet, gehört König Lear mit dem jungen Richard II. zusammen. Denn wollen wir schließlich doch ein Wort haben, um das Individuum dieses Stückes einer Gattung einzureihen, so sagen wir: auch hier geht es um das Problem der Macht. Macht in ihrer Verbindung mit Willkür, Gier, Affektwut und Brunst bildet für Shakespeare in der Tat eine Kategorie der Zusammengehörigkeit. Wir halten schon lange bei diesem Problem der Macht: wir hatten es in Maß für Maß zwischen Lachen und Weinen; in düster dämonischer Art in Macbeth; in innigster Gestalt hier im König Lear. In großartig geschichtlichem Rahmen, wo denn die Verbindung zwischen Machtgier und Brunst, die wir in Maß für Maß wie im Lear hatten, sich uns noch einmal als ein Prinzip, das eine Welt beherrscht, weit und stark darstellen wird, werden wir’s, in unmittelbarem Anschluß der Handlung an Julius Cäsar, das nächste Mal in Antonius und Cleopatra haben. Antonius und Cleopatra Antonius und Cleopatra aufzuführen ist immer wieder in unsrer Zeit unternommen worden; es muß aber, wie bei mehreren der bedeutendsten Stücke Shakespeares, am rechten Geist der Aufführung, vielleicht auch an der rechten Beschaffenheit des Publikums gefehlt haben; denn wir wissen, Shakespeare gebührt ausnehmend viel Freiheit des Geistes und Ernst der Gesinnung. Wie auch immer, wir stehen hier vor einem Stück, dessen Gestalten noch nicht einmal der äußern Erscheinung nach durch Aufführungstradition feststehen; durch Bühnenanweisungen hilft uns Shakespeare gar nicht und durch Bemerkungen zu direkter Charakteristik selten; mit der Handlung erst und ihren Geschehnissen, mit den Taten der Menschen und der Art, wie sie dulden, bauen sich diese Gestalten im Lauf der Vorgänge für uns Leser auf. Es geht um schwer zu deutende, verworrene, gemischte Naturen; wir werden erst den Grund legen müssen, auf dem wir uns bewegen. Betrachten wir erst den äußeren Aufbau der Tragödie. Sie ist von allen Stücken Shakespeares das szenenreichste: es sind 42 Szenen, von denen viele ganz besonders kurz sind; ein paar Worte werden gewechselt, und schon verwandelt sich der Schauplatz wieder. Die fünf Akte sind so aufgebaut, daß der erste 5, der zweite 7, der dritte 13, der vierte 15, der fünfte aber nur 2 Szenen umfaßt: es ist eine fortwährende Erweiterung in die Breite der Welt, bis -- nach dem Tod des Antonius -- in dem Epilog, den der fünfte Akt bildet -- alles Extensive sich am Intensiven, alle Unruhe der äußern Bewegung an Cleopatras Seelenfülle bricht, die am Ende hervorkommt. ~Bravest at the last~ -- die Kühnste, die Beste am Ende, sagt Octavius von ihr in der unnachahmlich vielsagenden Kürze dieser Sprache und hat recht; und was da nur für Cleopatra gesagt ist, gilt auch fürs Stück. Lassen wir alle Erfahrungen der Unzulänglichkeit, die es auf englischen und deutschen Bühnen bisher gemacht hat, beiseite, so ist zu sagen: dieses seinem besonderen Wesen der Breite und Tiefe entsprechend besonders gebaute Drama bietet der Bühne eine ungeheure, eine prachtvoll lockende Aufgabe; aber es verlangt seinen besonderen Stil; es braucht ein Tempo des Verlaufs, das in gleicher Weise der breiten Mannigfaltigkeit der Schauplätze wie der Fieberhaftigkeit der Seelenstimmung entspricht; keinerlei Dekorationskünste dürfen uns aufhalten; aber auch die Drehbühne mit ihrer Unruhe, Würdelosigkeit und Verengung wäre kein Rat. Helfen kann hier, meine ich, am leichtesten und schönsten das Prinzip der echten, alten Shakespearebühne, dem moderne technische Mittel zu Hilfe kommen: eine bleibende, für alle Szenen würdig gestaltete Bühne also, über der nur ganz selten der Vorhang fallen muß, damit ein paar Requisiten je nach dem Erfordernis der Szenen gewechselt werden; der Schauplatz aber, die Stelle in der Welt, in der wir uns jeweils für ein paar Minuten oder auch nur den Bruchteil einer Minute befinden, ist mit Hilfe des Skioptikons durch Lichtbild auf die Fläche des Hintergrunds zu projizieren; ist die Vorstellung nur sonst vom rechten Ernst erfüllt und vermeidet man jeden Versuch einer parodistischen Erinnerung an Bühnenkindlichkeiten früherer Zeiten, so darf die geographische Lage des Stückes Natur, das dieser Hintergrund unsern Augen zeigt, ruhig in Buchstaben, die sich dem Bilde des Hintergrunds einfügen, mitgeteilt werden; Konzessionen machen darf das Theater dem Kino keine, aber lernen darf es von ihm. So können und sollen die Szenen, die alle an ihrer Stelle stehen und nicht in einander gemengt werden dürfen, gleichviel, ob sie lang oder kurz sind, so auf einander folgen, daß die Verbindung von Ruhe und Bewegtheit, von Seeleneröffnung und großem geschichtlichen Hintergrund entsteht, die das Stück verlangt. -- Antonius und Cleopatra liegt uns in keinem früheren Druck vor als in der Gesamtausgabe aus dem Nachlaß, der Folio von 1623; auch versichern die Herausgeber, das Stück sei bis dahin noch nicht gedruckt worden. Gegen die allgemeine Annahme, die sich auf Verstechnik und geistige Haltung stützt, wonach die Tragödie um 1607 oder 1608 verfaßt sei, ist nichts einzuwenden. Shakespeares Quelle bildet Plutarchs Antoniusbiographie, die er schon bei Julius Cäsar mitbenutzt hatte; sein Verhältnis zu dieser Quelle ist auch diesmal, wie wir es damals gesehen haben; viele Einzelzüge übernimmt er treu; geschichtliche Vorgänge, die in seinen Rahmen nicht passen, läßt er weg oder läßt sie berichten oder tut sie mit einem Wort ab; und zu dem Eigentlichen, worauf es Shakespeare dem Brennenden, Shakespeare dem Ergründer ankam, hat der gute, sacht-pädagogisch mit dem Pendelfinger warnende Plutarch keinerlei Beziehung. Der Schauplatz und mehr, ein Gegenstand des Dramas: das römische Reich, nichts Geringeres: Rom, Misenum am Golf von Neapel, Messina, Athen, Actium an der Westküste Griechenlands, Syrien, Alexandria in Ägypten; und einmal werden wir an Bord eines Schiffes geführt. Und immer die Breite und die Bewegtheit und der Zusammenhang, immer gehen Boten hin und her und verbinden die Teile des Reichs, wenn auch zu Streit, so doch noch zu Einheit. Die politische Situation: das Triumvirat, wie es nach Cäsars Ermordung sich zusammengetan hatte und nach dem Sieg über die Verschworenen geblieben war, das Regiment von Octavius Cäsar, Julius Cäsars Neffen, Adoptivsohn und Erben; Marcus Antonius; Lepidus. Alles drängt der Spitze, dem Kaisertum zu; Lepidus steht als gutmütig-gemeiner Vermittler -- der sich selbst nicht zu kurz kommen läßt, aber nur den Geiz, nicht den Ehrgeiz kennt -- zwischen den beiden adligeren Prätendenten, die ihn ihrerseits nur halten, weil ihr Streit zum Ausbruch noch nicht reif ist. Bei einer Reise in die östlichen Gebiete, die ein Kriegszug war, ist Antonius bei Cleopatra hängen geblieben. Stellen wir hier, wo es erst nur um die äußere Situation geht, gleich das Alter der beiden fest. Historisch verhält es sich damit so, daß sie, als Antonius ihr zuerst begegnete, 24 Jahre alt war; bei ihrer beider Tod hatte sie das neununddreißigste erreicht. Bei Shakespeare bleibt nun, wie fast immer, der zeitliche Verlauf im Unbestimmten, Idealen; wesentlich ist, daß die Königin, wenn wir sie kennen lernen, in dem Gefühl steht, ihre Jugend hinter sich zu haben, daß sie voller Angst vor dem Alter ist; aber es walten die orientalischen Verhältnisse der frühen Reife und des schnellen Welkens; wir brauchen das Alter, das sie erreicht, nicht höher zu schätzen, als eben Ende der dreißiger Jahre. Antonius ist in Wirklichkeit 53 Jahre alt geworden, und als einen Fünfziger haben wir uns die Gestalt Shakespeares in diesem Stück auch vorzustellen. Octavius Cäsar ist viel jünger, und seine Konstitution ist der Art, daß er auf Männer von Antonius’ Schlag wie ein Knabe wirkt und immer wieder leicht wie ein Knabe von ihnen behandelt wird. Das hindert nicht, daß er kühl, ruhig, berechnend ist; das Männliche wird von leidenschaftlichen Naturen gerade darum an ihm vermißt, weil er den Trieben nicht unterworfen, dem Rausch nie preisgegeben ist; er ist gemäßigt, nicht als einer, der seine Renner im Zügel hat, sondern als einer, in dem es kalt und gesetzt hergeht, ohne Genialität, ohne Natur; aber dabei ist er weit ausschauend, kann warten und lauern, hat in kühler Cäsarenart einen vom Verstand geleiteten zähen Willen und hat ohne Traum und ohne Wut Machtbegehr und Majestät. Als einer, der ohne eigene Familie und auch sonst in jedem Betracht nur für sich dasteht, hat er zwischen sich und der Welt, in die seine Hand herrschend eingreifen will, eine kalt isolierende Schicht der Leere. Antonius ist mit Fulvia, einer geprüften Witwe, die schon allerlei hinter sich gebracht hat, verheiratet. Cleopatra ist die Witwe des Ptolemäus; sie hat aus dieser Ehe wie aus ihrem Bund mit Antonius Söhne. Den Stand des römischen Reiches lernen wir aus den Erwähnungen des Stückes folgendermaßen kennen (wie immer, so auch hier brauchen wir bei Shakespeare nur Aufmerksamkeit, keinerlei sonstige Wissenschaft; darum ist er in all seiner erlesenen Reife stets volkstümlich, eine ganze Nation vom Höchsten des Geistes her im Gemüt ergreifend): In Italien wütet Krieg, erst zwischen dem Bruder und der Frau des Antonius gegen einander; dann haben sich beide zusammengetan und gegen Octavius gewandt, was diesem argen Verdacht gegen Antonius erregt, der in Ägypten liegt und sich nicht von der Stelle rührt. In Süditalien, Griechenland, vor allem auf dem Meer durch Seeräuberei macht sich ein außenstehender Prätendent, Sextus Pompejus, der Sohn des großen Nebenbuhlers Julius Cäsars, immer gefährlicher. In Asien ist der Aufruhrkrieg der Parther unter Anführung des rebellierenden Römergenerals Labienus im Gange. -- Und nun, wobei wir aber immer noch im Äußern nur uns bewegen wollen, zur Handlung und zum Aufbau des Stückes. Tolles üppiges Leben in Alexandria am Hof der Cleopatra: Feste, Gelage, Trinken, Schlemmen, Lieben. Derweile ist das Reich also von vielen Seiten in Gefahr; Antonius leistet Octavius keine Hilfe; der Aufruhr seiner Angehörigen muß irgendwie, ohne daß Klarheit über die Zusammenhänge zu schaffen ist, auf ihn zurückgeführt werden; die Boten, die Octavius sendet, hört er nicht an, läßt sie kaum vor. Trotzdem wird Fulvia besiegt, muß fliehen und stirbt eines unversehenen Todes. Und in dem Augenblick, wo er dieses sein Weib tot weiß, erwacht Rom in Antonius: in letzter Stunde, wo arg Versäumtes gerade noch eingeholt werden kann, rafft er sich auf zur Reise nach Italien. Da kommt es in der Tat noch zur Versöhnung der Triumvirn: die Ehe des jung verwitweten, der Cleopatra entflohenen Marc Anton mit Octavia, auch einer Witwe, der Halbschwester des Octavius, wird gestiftet, und er zaudert nicht, darauf einzugehen. Auch mit Pompejus wird ein Ausgleich zustande gebracht: der erhält Sizilien und Sardinien. Und Antonius steht groß da, wie sein Feldherr drüben in Asien gegen die Parther siegt. Aber kaum ist er in seiner besonderen Provinz, in Griechenland, da bricht der Streit mit Octavius neu und nun erst recht aus: der geht nun aufs Ganze; als echter Politiker betrachtet er Friedensverträge lediglich als unerläßliche Stadien des Krieges: der Krieg gegen Pompejus ist im geeigneten Augenblick wieder losgebrochen; Pompejus wird darin ermordet; auch der Mitherrscher Lepidus ist jetzt reif; er wird ins Gefängnis geworfen. So rüstet denn Antonius zum Krieg gegen Octavius; wie schon alles auf des Messers Schneide steht, erlaubt er seiner Frau, nach Rom zu reisen: es bleibt alles im Unbestimmten, wie sich’s für eine so politische Ehe gebührt: halb reist sie zu einem fast aussichtslosen Versuch der Vermittlung, halb weil ihr, wenn’s denn zum Krieg kommen soll, der Bruder näher steht als der Gemahl, der sie nur so für eine Zwischenzeit genommen hat, wie der Vertrag mit Pompejus ad interim geschlossen worden war; in Antonius’ unterirdischen Bezirken wühlen aber, auch sie freilich noch gemischt aus Politik und Brunst, noch ganz andre Motive: kaum ist sie weg, bricht auch er auf -- nach Ägypten. Man blickt bei Shakespeare völlig schon in das wahre geschichtliche Verhältnis hinein; was ein paar Jahrhunderte später kommen mußte, der Zusammenbruch des großen Reiches, die Trennung in Ostrom und Westrom, in die byzantinisch-morgenländischen und die lateinisch-abendländischen Gebiete, das spielt hier vor. Antonius stützt sich ganz, in der äußern Politik wie in der seiner eignen Natur gemäßen seelischen Haltung, auf die östlichen Königreiche: Griechenland, Zypern, Lydien, Medien, das Partherreich, Armenien, Syrien, Kilikien, Phönikien, Libyen, Kappadokien, Judäa usw., die alle in Shakespeares Stück an ihrem Orte mit Namen hervortreten. Das orientalische Leben, dessen Repräsentantin Cleopatra ist, steht ihm an, weil er sich nach Natur wie nach Plan als Herrscher dieses ungeheuren Reiches im Orient fühlt und von da aus, auf dieses sein eignes Gebiet gestützt, den Kampf gegen Octavius ums Weltreich führen will. Wäre durchgedrungen, was sich da regte, so wäre Alexandria so die Hauptstadt der Welt geworden, wie später Byzanz; Rom aber wehrt sich und behauptet sich. Wir sehen, wie Tüchtigkeit, Nüchternheit, kriegerisch-geordnetes Wesen, zweckvoll logisches, planvolles Staatsregiment sich im Westen unter Führung des Octavius, des berufenen Erben Julius Cäsars und der Republik, aufbaut, während eine im Orient wurzelnde Welt, repräsentiert durch den Griechenrömer Antonius und die Ägypterin Cleopatra, den Luxus und Lebensgenuß, die Ruhe, die lässige Beschaulichkeit, das Ästhetische, die triebhafte Willkür und Laune wählt und zum Siege führen will. Wir sehen schon hier, schon im voraus: es ist viel, was mit diesem Paar Antonius und Cleopatra zugrunde geht, und diesmal bildet die Geschichte nicht, wie wohl in solchen Stücken wie Othello oder Romeo und Julia, bloß eine Art Hintergrund der Landschaft und Temperatur, sondern das Besondere der Seelenzustände und Leidenschaften dieser Menschen und aber das Allgemeine der geschichtlichen Verhältnisse sind hier so innig in einander gehörig, wie für dieses durch Liebe wie Politik zusammengeschmiedete Paar Seelenliebe, Sinnlichkeit, Glanz, Üppigkeit und Macht nicht von einander zu scheiden sind. Der Entscheidungskampf ist denn nicht mehr hintanzuhalten: große Landheere und Flotten stehen einander bei Actium gegenüber. Cleopatra mit ihrer Seemacht nimmt an der Schlacht teil -- und flieht; Antonius mit seiner gesamten Flotte hinter ihr her -- und die Schlacht ist zu Cäsars, zu Roms Gunsten entschieden. Octavius, mit einer ganz unerwarteten, kühnen Geschwindigkeit, deren sich zumal Antonius von ihm nicht versehen hatte, verfolgt sofort. Geht auch ein Treffen auf dem Lande bei Alexandria für Antonius zunächst, dank seiner und seiner Generale und Soldaten persönlicher Tapferkeit, günstig aus, so ist doch nichts mehr zu hoffen: es ist nur der groß-verzweifelte Kampf ums ruhmvolle Ende; und wie er -- fälschlich -- hört, Cleopatra sei tot, bringt er sich um; und Cleopatra stirbt ihm nach. Der Westen hat gesiegt; die Einheit des Reiches ist, mühsam genug, vorerst bewahrt; Octavius Cäsar Augustus ist als alleiniger Imperator übriggeblieben; ein Kaisertum hebt an, in dem vorerst das Erbe republikanisch politischer Rechnung mächtiger ist als das orientalisch üppige Machthabertum, das Antonius gebracht hätte. Das ist der bewegte, der wahrhaft lebendig bewegte Hintergrund der Tragödie: ein Film größter, riesenhafter Art. Wenigstens, so wie wir’s bisher skizziert haben, bildet dieses bewegte Gemälde der Historie nur den Hintergrund des Stückes. In Wahrheit ist all dieses Geschichtliche, all dieser Machtstreit unlöslich eingeknüpft in das eigentliche Drama, in die Tragödie, die Antonius und Cleopatra in dieser weltgeschichtlichen Landschaft an einander erleben und von der jetzt erst zu reden ist. Vorher aber noch ein Wort von der Stimmung und dem Sinn des Ganzen. Wir haben drei Dramen Shakespeares, die wie schon der Titel sagt, ein Paar in die Mitte stellen: Romeo und Julia, Troilus und Cressida, Antonius und Cleopatra. Nun sagt man wohl, das erste Mal sei die hohe Liebe, die beiden andern Male aber die niedre, die Sinnenliebe, die Wollust dargestellt. Es ist aber nicht eigentlich so. So viel Shakespeare von Anfang an und immer mehr gegen den Teil der Liebe, der Wollust heißt, auf dem Herzen hat, so sehr er sich, wo er zur Liebe klagend und anklagend steht, auf kritische Analyse einläßt, so sehr kennt er, wo er Menschen und ihre Schicksale gestaltet, nur _eine_ Liebe: die ganze. Er weiß, daß der Trieb selbst in rohester und tierischster Gestalt bei allen Lebendigen, die nicht Caliban sind, noch irgendwie von Traum und Phantasieschöpfung verklärt ist und daß ~fancy~ ein Element ist, in dem Lust mit Laune, Leidenschaft mit Seele, Zwangsgewalt mit Freiheit und Geist mit göttlich-leichtem Spiel vereint wohnen. Er kennt nur die eine Liebe, die ganze; aber er kennt unsäglich verschiedene Menschen, die von ihr ergriffen werden und sich anders in ihr verhalten; er kennt unsäglich viele verschiedene Grade und Stufen der Liebe und ihres Mischungsverhältnisses. Die hohe Liebe des holden Jugendpaares Romeo und Julia ist sehr beseelt, sehr sinnlich und wenig geistig; bei Troilus und Cressida haben wir als bezeichnend gesehen, wie bei diesem Paar der Jüngling so viel mehr Seele und Geist in das Gefäß der Sinnenliebe gießt als das Mädchen; und so ist auch die Liebe von Antonius und Cleopatra, dieser nicht mehr Jungen, Vielerfahrenen, des reifen, überreifen Mannes, des reifen, überreifen Weibes Liebe nicht im entferntesten bloß Sinnenliebe; Shakespeare bleibt hier so wenig wie je im Typischen, Formelhaften, Abstrakten stecken; Einmaliges, das sich so nie in der Welt wiederfindet, wird gezeigt; es ist die leidenschaftliche, unentrinnbare, Seele und Leib und Geist trotz aller Abwehr und allen Fluchtversuchen und allen Einsichten und Verleumdungen hinnehmende Liebe des Staatsmanns und Kriegsmanns, des Römers und Griechen Antonius und dieser einzigen Frau, der Schlange vom Nil, wie er sie nennt, der Königin-Buhlerin Cleopatra. Antonius: wir kennen ihn schon aus Julius Cäsar, und er ist der selbe. Ein herkulischer Mann, der Familiensage nach auch wirklich aus Herkules’ Stamm entsprossen; Sportsmann, Ringer, Athlet. Tapfer, aushaltend, nicht umzubringen, von einer ehernen Konstitution, die man, im ursprünglich bildhaften Sinn, wahrhaft kolossal nennen darf. Dazu feurig, flammend, rasch einnehmend; er repräsentiert die seltene, berückende Vereinigung der stärksten Kraft mit der feinsten Eleganz, der unerschütterten Ruhe, wie sie sonst nur ein Vierschrötiger hat, mit der leichtesten und witzigsten Beweglichkeit. Sein Denken ist schnell, schnellend; und so ist auch seine Entscheidung ohne Bedenken und Skrupel. Solange er sich in der Gewalt hat, ist er imstande, all seine reichen Gaben in den Dienst eines Zwecks zu stellen, und ist dann ganz sieghaft. Denn er ist eine reiche Natur, voller Gefühl und Unmittelbarkeit, und wenn er diese Gaben vermöge seiner angeborenen und durch viel Übung bezwingend gewordenen Schauspielerkunst seinem Willen dienstbar macht, so siegt er durch sich selbst und durch die Popularität, die mit ihm geht. Er ist einer, der durch Ausschweifungen so wenig wie durch härteste Entbehrungen umgebracht wird. Für sein Ausmaß gilt nicht das Entweder-Oder kleiner oder mittlerer Normalmenschen: entweder liederlich etwa oder kriegstüchtig; entweder leidenschaftlich oder besonnen; er ist das eine wie das andre. Nie ist er, in fassungslos wilder Unbeherrschtheit nicht einmal, in äußerster Anspannung; immer, ehe es mit ihm zu Ende geht, ist in ihm und um ihn noch etwas von der Ruhe einer gewissen mittleren Haltung, einer holden Lässigkeit. Da sind wir aber bei seiner Gefahr, zumal in dieser dürr gewordenen Welt der Politik: er kann nicht nur, er muß manchmal den Zweck ausschalten; er kann nicht alleweile hell, klar, scharf sein, die Gegner belauern und ein Ziel verfolgen; er braucht Selbstvergessenheit, Hingebung, Versinken, Trägheit, Lust: Genuß und Rausch. Und dazu kommt nun: er steht jetzt an der Grenze, wo die Jugend ihn bald verlassen würde, wenn er sie nicht mit leidenschaftlicher Gewalt festhielte. Was ihm, ganz abgesehen von allen politischen, allen Rivalitätsgegensätzen, an Octavius menschlich so widerwärtig ist, das ist, daß dieser junge Mensch gar keine Gegenwart und also Wonne so wenig wie Laster zu haben scheint: der lebt nur in der Zukunft, in der Spannung, im politischen Ziel, im Abstrakten. Über Antonius aber scheint das Gebot zu walten, das der Dichter des augusteischen Zeitalters, Horaz, in die zwei Worte faßt: ~carpe diem~, genieße den Tag, pflücke die Stunde. Lust ist das Element, in das er immer mal wieder tauchen muß, Lust bis zur Liederlichkeit; nur daß sie tragisch umwittert ist, in Verbindung wie sie steht mit der Gefahr der Zeit in jeglichem Sinne: daß die Zeit dahinschwindet, daß die Jugend vergeht; und dazu noch die Untergangsstimmung dieser besonderen Zeit: es mischen sich die Kulturen von Ost und West; die republikanische Tugend ist versunken; wie lange ist’s schon her, daß er selber Brutus erst in den Untergang gehetzt und ihm dann den erschütterten Nachruf gesprochen hat! Nun herrschen Frivolität und Skepsis; die Welt hat keinen Halt und keinen Glauben mehr; und in den großen Kämpfen geht es nicht mehr um Prinzipien, sondern um persönliche Macht. Es ist fast wie ein landschaftliches, ein Natursymbol dieser wogenden Stimmung -- wie’s uns anders, aber doch verwandt dann wieder im Sturm begegnet --, daß wir in diesem weiten Drama immer wieder auf die Wasserfluten, des Meeres und des Stromes, geführt werden: es ist in diesem Stück etwas Weiches, Wogendes, Nebeldunstiges, feucht Dahinrinnendes; es fehlt nicht an Sonne, aber es ist die Sonne, die Maden ausbrütet; wir schwimmen auf einem Flusse wohliger Lust, und wo wir dem Feuchten entsteigen, kommen wir doch nicht aufs feste, sichere, trockene Land, sondern in die fruchtbar-schwüle Sumpfniederung des Nils. Auf einem Flusse ist Cleopatra allererst dem Antonius entgegengefahren; drüben in Kleinasien war’s; auf dem Kydnus in Kilikien. Das üppige prächtige Bild dieser Begegnung stammt ursprünglich von Plutarch; wir haben es nun, wie eine zauberhafte Wirklichkeit, die aus Geschichte zur Sage geworden ist, in den Farben, in denen es Shakespeare für alle Sinne gemalt hat und die noch frisch und strahlend sein werden, wenn das Bild, das Makart aus der Szene gemacht hat, längst chemisch zersetzt sein wird: Die Barke, drin sie saß, brannt’ auf dem Wasser Hellstrahlend wie ein Thron; getriebnes Gold Des Schiffes Spiegel; purpurrot die Segel Und so durchduftet, daß die Winde sich In Liebesweh verfingen. Silberruder Regten im Takt sich nach dem Ton der Flöten, Und wie in Sehnsucht folgten die Gewässer. Und nun sie selbst! Der Schildrer wird zum Bettler! In ihrem Zelt von Goldbrokat lag sie, Das Venusbild, in dem die Kunst der Laune Noch die Natur bemeistert: ihr zu seiten Wie lächelnde Amoretten standen Knaben Mit holden Wangengrübchen, bunte Fächer Wehten statt Kühlung Glut dem zarten Antlitz... Um sie die Dienerinnen, allesamt Meermädchen, Nereiden gleich... Ein Meerweib sitzt am Steuer; seidnes Tauwerk Schwillt an im Druck der blumenweichen Hände... Und von der Barke trifft Ein seltsam unsichtbarer Duft die Sinne Der nahen Ufer... Da haben wir sie allererst, Cleopatra die Nilschlange! Der Hörer des Stückes freilich vernimmt diese begeisterte Erzählung des sonst so ruhig-klugen Feldherrn Enobarbus erst, nachdem er die Königin schon in schönen und häßlichen Launen leibhaft kennen gelernt hat. Seltsam und ganz in der Art großer Dichter, so indirekt fast, wie Homer die Helena in ihrer Wirkung auf die trojanischen Greise geschildert hat, ist es, wie wir in diesem Bericht über die Jugend der Schönen, die wir vor Augen haben, mehr von ihrem Milieu, ihrem Dunst und Duft hören als von ihr selbst, mehr von ihrer Wirkung als von ihrer Erscheinung, und mehr von Kunst als von Natur! Ihrer äußern Erscheinung aber werden wir Leser besser durch die Szene habhaft werden, wo sie sich ihre Nebenbuhlerin Octavia schildern läßt; eine echte Cleopatra-, auch eine echte Shakespeare-Szene das; aus ihren Ablehnungen der Eigenschaften Octavias erfahren wir, für welche eignen sie sich selber zulächelt: demnach ist Cleopatra eine hohe, schlanke Erscheinung, voll graziöser Bewegung; das Gesicht ist oval, der Teint dunkel -- eine Zigeunerin wird sie genannt; die Stimme aber ist hell und zart. Sie wirkt königlich und weiblich; bezwingend, verführend vor allem durch Hinfälligkeit. Dies ist nun ein wesentlicher Zug an diesem Geschöpf, der, glaube ich, bisher nie richtig gedeutet worden ist. Um ihn zu gewahren, haben wir zunächst darauf zu achten, daß die Menschen sich in ein paar Jahrhunderten oder auch Jahrtausenden nicht eigentlich, nicht im Grunde ändern; gewisse Ausdrucksformen, Kleider, Moden und vor allem Bezeichnungen und Deutungen ändern sich, aber nicht Wesenszüge, weder normaler noch abnormer Art; und es macht kaum einen Unterschied, ob wir, darauf nun aufmerkend, den Blick in Shakespeares oder in Cleopatras Zeiten richten. Frauennaturen, wie sie uns heute begegnen, wie wir sie heute kennen -- was man so kennen heißt --, hat es auch damals gegeben. Ich glaube nun zu gewahren, ja, ich bin mir sicher, daß Shakespeare, wohl der größte Menschen- und vor allem Frauendurchschauer, den wir haben, in Cleopatra eine Frau dargestellt hat, die wir besser verstehen, wenn wir sie in den Kreis der Frauengestalten aufnehmen, wie sie in der uns vertrauten Sprache und in direkter Schilderung zuerst Stendhal und dann vor allen Dostojewskij geschildert haben. Ja, Shakespeares Cleopatra gehört zum Geschlecht der Aglaja Epantschin und der Nastasja Filipowna aus dem Idioten und vor allem der Gruschenka und der Katharina aus den Brüdern Karamasoff. Nur daß sie zu all der Hoheit, die bei ihr wie auch bei diesen Frauen aus mannigfachem Erliegen und sklavischem Hingeben, aus arger Erniedrigung sich immer wieder aufbäumt, noch die Stellung einer echten Königin hat, mit Macht, Üppigkeit, fabelhaftem Reichtum umgeben, und daß ihr Geliebter der Imperator ist. Sprechen wir das Wort nur aus: eine sinnlich, seelisch, geistig reich begabte Hysterische ist diese Zigeunerin und Königin aus dem Lande Ägypten, eine Hysterische von der strahlend reichen, schimmernden Gattung, die Männer verschwenderisch verbraucht und Männer zauberhaft anlockt; der Gattung, der gegenüber Worte wie Wahrheit und Lüge, ja sogar, Natur und Kunst unzulängliche Ausdrücke werden. Das entscheidende Wort, von dem aus die Gestalt aufzubauen ist, fällt im vertrauten Gespräch zwischen Antonius und seinem ersten Feldherrn und nächsten Freund Enobarbus. Antonius ist entschlossen, Cleopatra zu verlassen; es ist höchste Not, in Italien nach dem Rechten zu sehen; die Nachricht von Fulvias Tod hat ihn aufgestört, hat positiv und negativ ihre Wirkung getan; denn einer der Gründe, warum er ganz in diesem ägyptischen Weibe wie in einem Versteck und einer Vergessenheit untergetaucht war, besteht nun nicht mehr: seine Ehefrau, dies kriegerische Mannweib, vor dem er Respekt in jeder Hinsicht, wahrhaft Angst nämlich gehabt hat, ist nun tot. Wie Antonius ihm diesen Entschluß eröffnet, meint Enobarbus bedenklich: O weh! Da stirbt Cleopatra, sowie sie’s hört, auf der Stelle! Und ihre Frauen, ja, die leben ja in so einer Art bei weiblicher Freundschaft bekannter Mimikry mit der Existenz ihrer Herrin, die werden ihr eilends nachsterben! Damit will der Kauz, der zynische Sprache als Panzer gegen die Welt sich angelegt hat, sagen: Was wird es diesmal für eine Szene geben! Wie wird sie in Ohnmacht fallen! „Ich habe sie zwanzigmal sterben sehen bei weit armseligerm Anlaß. Es muß, denk’ ich, ein feuriger Stoff im Tod liegen, der irgendwie einen Liebesakt auf sie überträgt, sie hat so eine Schnelligkeit im Sterben!“ Auf diese Bemerkung, die schon seltsam genug ist, erwidert Antonius, dem nicht wohl zumut ist, mürrisch: „Sie ist schlau über alle Begriffe.“ Er deutet also -- in diesem Augenblick -- ihre Hinfälligkeit, ihre Anfälle, ihre Ohnmachten, im Zusammenhang mit ihren Launen und ihrer Buhlerei aller Grade, ganz wie der Durchschnittsbeurteiler, als Falschheit, Schlauheit, List. Wir aber wollen, noch ehe wir weiter gehen, daran denken, daß unser Wort Laune von ~la lune~, dem Monde, kommt, der nur bei uns Deutschen nicht weiblichen Geschlechts ist, und daß Monat und Mond das nämliche Wort ist. Enobarbus aber, ein feiner Beurteiler, einer, der trotz rauher Rede fein empfindet, erspart uns vorerst weitere Deutlichkeit, indem er dies seltsame Wesen noch eindringlicher analysiert, mit sehr merkwürdigen Worten einer höchst modernen Seelenchemie: „Ach nein, Herr,“ so weist er des Antonius brummige Plumpheit zurück, „ihre Triebe -- ~passions~ -- bestehen aus gar nichts anderm als dem allerfeinsten Teil reiner Liebe; ihre Stürme und Fluten dürfen wir gar nicht Seufzer und Tränen benennen; es sind Orkane und Gewitter einer heftigeren Art, als sie im Kalender stehen: das kann bei ihr keine Schlauheit sein; wenn das wäre, könnte sie einen Regenschauer machen so gut wie Jupiter.“ Moderne Verkünder der Periodizitätslehre würden sich weniger anschaulich und formelhafter ausdrücken; aber auch sie würden Cleopatras Wallungen mit Wind und Wetter, mit Ebbe und Flut und mit dem Kalender in Beziehung bringen. Damit ist also gesagt: ihre Launen, ihre Tränen, ihre Ohnmachten, ihre Wutanfälle, womit all ihr verführerischer, sinnlicher Zauber und auch ihr Spielen mit der Liebe, ihre Katzennatur zusammenhängt, all das ist im Grunde eine überempfindliche Hingebung an Liebe und Leidenschaft. Die Liebe ist bei ihr etwas Zentrales, und gerade darum ist sie nicht bloß inwendig, in Seelenkeuschheit Liebe; ihre Liebe ist immerwährend anwesend und allüberallher in ihrem Leibe verbreitet; bis in die Haut und jede Regung hinein ist sie lauter Liebe und Trieb; wenn sie alle in irgend einem Grad in ihre Netze zieht, so nur darum, weil sie selbst mit Haut und Haar im Netz, im Bann, im Dienst der Liebe steht. Ihre Unberechenbarkeit ist Schwäche; und diese Schwäche ist ihre Stärke über die Männer; sie ist eine tödlich Liebende, weil Liebe, das mörderische, schlangenhaft aussaugende, bebend rastlose Prinzip, ihr in Leib und Seele sitzt. Ergreifend schöner und dazu unbemäntelt wahrer kann man’s nicht ausdrücken, als es der Römer Enobarbus getan hat: ein Leben, das dem Tod entstammt und in jedem kleinsten Zeitteil vom Tode besetzt ist, führt sie; und dieser Tod ihrer Herkunft und ihres immer zitternd regen Daseins verwandelt sich ihr in geheimnisvollen Schauern und feurigen Wallungen wie zu Liebesakten. Fassen wir sie so, wie Enobarbus uns den Weg zu ihr weist, welche Achtung überkommt uns vor den Gegengewichten, die diese reiche Arme trotz all ihrer elementaren Natur in sich haben muß, vor ihrem Geist und ihrer Beherrschtheit, vor ihrer mit allem Hohen der Welt in Verbindung stehenden, königlichen Liebe zu den Großen der Erde, ja, sagen wir’s geradeheraus, so paradox es klingt, vor ihrer Treue in der Liebe! Wie hat sie die pochende, zuckende Ruhelosigkeit ihrer Natur in sanft und geräuschlos bewegte Grazie, wie hat sie ihre Schlangenhaftigkeit denn doch in die Wellenlinie berückender Anmut verwandelt, so oft nicht ihre lettene Ursprünglichkeit die Dämme der Sitte sprengt und in brutal-abscheulicher Gemeinheit loslegt! So wenig ich sonst geneigt bin, aus Shakespeares Dramen in sein Leben auszubrechen und aus diesen Gebilden Schlüsse auf des Dichters persönliche Existenz zu ziehen, so sehr bin ich hier davon durchdrungen, daß er diese wundervoll verführerische, gefährlich schöne Weibnatur im Leben kennen und als Mann verfluchen gelernt hat. Ich denke, wie es auch andern gegangen ist, wie es unausweichlich ist, an die schwarze Schönheit, die uns in mehreren Teilen, besonders am Schlusse seiner Sonettendichtung begegnet, an das Weib, in dem sich ihm zu unerhörter, unheimlicher Klage die Sinnenliebe, das Geschlecht, die Wollust verkörperte. Davon hören wir später im Zusammenhang, aber damit die Tragödie von Antonius und Cleopatra uns in unserer, uns in Shakespearischer Tiefe aufsucht, wird es uns gut tun, jetzt gleich das 129. Sonett zu hören; und da uns die Gedanken, das Gefühl und die Stimmung dieses Gedichts in all ihrer Schärfe treffen sollen, verbleibe der nie ganz mögliche Versuch einer dichterischen Wiedergabe der späteren Darstellung der Sonettendichtung in ihrem Zusammenhang; hier folge dieses Sonett in der unverwischten Klarheit, die es im Original in der rhythmisch gebannten Sprache mit der Schlagkraft der Reimverschränkung und der Hammerschläge des Schlusses, für uns aber nur in Prosa hat: Schändliche Vergeudung des Geistes ist Wollust in Ausübung; und bis dahin, vorher ist Wollust meineidig; mörderisch, blutig, schmachvoll, wild, unsäglich, roh, grausam, ohne Verlaß; Sobald genossen, stracks verachtet; sinnlos gejagt, und, sobald erlangt, sinnlos gehaßt; wie ein verschluckter Köder, der ausgelegt wurde, um den, der ihn zu sich nimmt, toll zu machen: toll in der Sucht und toll auch im Besitz; unsäglich, wenn man’s gehabt hat, hat und zu haben begehrt; Ein Segen, den man sucht; wahre Qual, die man gefunden; vorher: erhoffte Freude; nachher: ein Traum. Das weiß die Welt alles gar wohl; und doch weiß keiner den Himmel zu fliehen, der die Menschen in diese Hölle führt. So spricht, so klagt, so klagt an Shakespeare der Mann, der auch in dieser direkten Aussprache, wir hören’s noch, oft genug so tief und schön in der verstehenden, gestaltenden, umgestaltenden Phantasie des Dichters einkehrt, die Liebe, auch Liebe, himmlische Liebe heißt, daß er auch da die liebenswürdige Milde neben die grausame Aufdeckung der Wahrheit zu setzen vermag. Das aber ist die vollendetste Höhe des Dramatikers, daß er zugleich so erschreckend grausam und so anbetungswürdig milde und liebend in seiner Wahrheit ist. Keiner, kein einziger vor und neben und nach ihm hat ein solches Volumen der Seele wie er. Sehen wir nun von Anbeginn, wie’s die beiden, in deren Seelen der Zauberer diesmal hineingeschlüpft ist, mit einander treiben, wie es sie treibt. Sie noch mehr als er steht immer zitternd in Angst vor dem Alter; Cleopatra lebt in Reminiszenzen, in den großen Erinnerungen, wie hintereinander Julius Cäsar und Pompejus in ihren Banden waren. Und nun ist ihnen Antonius gefolgt, der Herr des dritten Teils der Welt, der ein so herrlicher Mann ist, daß er Kaiser der Welt sein sollte. Um es aber zu sein, müßte er fort von ihr, in Krieg und Gefahr, das wäre das wenigste, wiewohl sie, das Weibchen, so feige wie verwegen ist; aber sie braucht ihn bei sich; ihre Liebe, die immerwährendes allgemeines Verlangen ist, kann der Gegenwart des Geliebten nicht entraten; und überdies, ginge er zu seiner Aufgabe, so käme er zu ihrer größten Gefahr: zu Fulvia. Daß er ein Ehemann ist, auch innerlich, in einer edlen Region seines Wesens, an eine andre Frau, an eine kühlere Welt, an Italien gebunden, ist ewig ihr Stachel; sie plagt ihn mit Bosheit und Hohn, mit „Schelten, Lachen und Weinen“. Ist er traurig, so will sie tanzen; ist er vergnügt, so will sie, daß er sie krank glaubt. Will er reden, so läßt sie ihn nicht zu Wort kommen. Und wie er nun, gefaßt ruhig, zwischen ernstem Bedauern und großer Erleichterung, ihr mitteilt, Fulvia sei tot, da ist es für die Unselige wieder ein stechender Schmerz; denkt sie doch über alles andre hinweg vor allem an sich, ihr Geschick und ihre Liebe: so also geht es uns Frauen, wenn wir tot sind; so wird er einst sich über _ihren_ Tod mit einer andern trösten! Kaum aber ist er weg, so hat sie keinen andern Gedanken als ihn. So wie der Politiker Octavius täglich Boten allüberallhin entsendet, um mit allen Teilen des Reiches in Verbindung zu sein, so gehen täglich ihre Liebesboten zu Antonius und wieder zu ihr zurück. Seine rasche neue Ehe mit Octavia ist pure Politik: Mißtrauen und Kriegsbereitschaft sind bei Octavius aufs höchste gestiegen; der Stern Antons will sinken; es gibt für ihn nur dies eine Mittel, die Entscheidung hinauszuziehn. Sie aber gerät bei dieser Nachricht in fassungslose Wut. Da hat ihr Dichter wahrlich nichts schmeichlerisch bemäntelt; wie wir aber in einem Gemälde oder einer Skulptur die ganze Tiefe der Enthüllung mit einem Blick umfassen, so erfordert das Kunstwerk, das, wie Dichtung, Drama und Musik, in der Zeit verläuft, die Aufhebung der Zeit und das Erfassen von Anfang, Mitte und Ende in Einem durch das einzige Mittel, das sich bietet: durch unsre innige Vertrautheit mit dem Werk. Ich pflege, wenn ein junges Menschenkind zum ersten Mal die Bekanntschaft mit einer der Symphonien Beethovens gemacht hat, in ernsthaftem Scherz zu sagen: man dürfte sie gar nicht zum ersten Mal hören; und in der Tat ist das der Unterschied echter Zeitkunst von der Wirklichkeit: die Wirklichkeit bietet uns nie die Totalität, immer nur den linearen Verlauf in Hoffnung und Bangen; im Kunstwerk vermögen wir, immer noch in Harren und Furcht, geheimnisreich das runde Wissen ums Ganze zu haben und damit in aller Erdennot und Greuel himmlischen Trost. So dürfen, so sollen wir Cleopatras Liebreiz, ihre samtene Zartheit, ihr erhaben-liebliches Ende im Liebestod im Sinne haben, wenn wir dabei sind, wie sie besinnungslos den Boten schlägt und an den Haaren zerrt, der diese Nachricht bringt: Antonius wieder vermählt! Shakespeares gewaltige Kunst und Menschlichkeit, seine Menschen in all ihrer Mischung zu zeigen, tritt nirgends imponierender und rücksichtsloser, selbstgewisser heraus als in diesem Drama; das sind Gestalten, die jeder abstrakten Formel, jeder Typisierung spotten; sie sind nicht gut und nicht böse; und wollten wir diese Bezeichnungen auf sie anwenden, so müßten wir sagen, sie seien abwechselnd beides und manchmal sogar beides zugleich. Sein Antonius, wie er erst wieder römischen Boden unter den Füßen hat, ist guten Willens, Cleopatra zu vergessen; aber immerzu unterhält sie mit ihren Boten ihr frisches Gedächtnis, sie bringen ihm ihren Duft; und sein Verhältnis zu Octavius bleibt nicht gut, trotz der Schwester, die er geehelicht hat, und wird schlimmer; und wie er erst wieder griechische Luft atmet, weiß er, glaubt er: sein Heil ist -- politisch und menschlich -- im Osten. So flieht er zu Cleopatra und organisiert die Reiche des Ostens zum Krieg. Die Kunde wird Cäsar Octavius sofort übermittelt, und der Entscheidungskrieg ist da. Antonius, der Heraklide, ist, wo’s vor allem auf persönliche Tapferkeit ankommt, im Landkrieg, der erste Held seiner Zeit und fast unüberwindlich. Cleopatra aber mit ihrer schimmernden Flotte, mit ihrer verwegenen, verführerisch hemmungslosen Lust zum Gefährlichen und Verderblichen, lockt ihn auf ihr Element, das Wasser. Im Seekrieg aber entscheidet nicht die körperliche Tapferkeit, sondern die berechnende Klugheit und kühle Ruhe, deren Meister Octavius ist. So fängt’s bei Actium gleich unglücklich an und ist schnell zu Ende: Cleopatra, die aus Laune in den Krieg gegangen ist, das ängstlichste Menschenkind, flieht sofort, nachdem Octavius mit scharfem Ernst losgelegt hat, und alle Ägypterschiffe hinter ihrem Admiralschiff her; Antonius aber verliert den Kopf und folgt ihr mit seiner gesamten Flotte. Das größre Stück der Welt verloren! ... Länder und Reiche Sind weggeküßt. „Wie ein brünstiger Enterich“ ist Antonius hinter ihr her gesegelt: derlei Äußerungen fallen im Kreis der entsetzten, der wie mit kaltem Wasser begossenen Generale; sie sehen: ein Dämon waltet über Antonius, sein Schicksal erfüllt sich; einer nach dem andern rüsten sie sich, von ihm abzufallen. In Alexandria im Palast erst findet er sich wieder und schäumt vor Scham und Wut. Sie sieht und hört er erst gar nicht; dann fährt er ganz unbeherrscht, tobend gegen sie los. Sie aber ist rührend in ihrer weiblichen Schwachheit. In diesem Augenblick ganz ohne Sinn für Krieg und Politik, nicht einmal bewußt weiblicher Politik folgend und gerade dadurch ihn treffend, unköniglich, wie ein Zigeunermädchen beugt sie sich tief: O mein Herr, Mein Herr, vergib nur meinen zagen Segeln! Ich dacht’ nicht, daß du folgtest. Zart und geknickt kann sie nur immer um Verzeihung bitten, und wie die Tränen kommen, ist er besiegt. Es ist zu Ende, er weiß es; aber wer wird dran denken? Wein her, zum Mahl! zum Kuß! zur Liebe! zur Betäubung! Sie aber, der Lieben Leben und Leben Lieben ist, die feig wie eine Sklavin an Dasein und Wohlsein, an Lust und Üppigkeit hängt, der hintereinander die Beherrscher der Welt, Pompejus, Julius Cäsar, Antonius Geliebte waren, kommt jetzt in die größte Versuchung ihres Lebens. Schon liegt Octavius mit seinem Heer vor Alexandrien und sendet Botschaft: Antonius soll ausgeliefert werden; dann soll Cleopatra Gnade und Gunst finden. Seine Feldherrn haben Antonius fast alle verlassen; selbst der Treue, der ihn trotz allem Zynismus seines Gehabens fast anbetet, Enobarbus entschließt sich, von ihm zu gehen (um dann bald in Reue -- eine wundervolle Szene -- sich selbst zu töten): wo die Römer von ihrem Herrn und Meister abfallen, wo er verloren ist, was soll sie, die Ägypterin, sie, die Zigeunerin, Tod und Untergang vor Augen, tun? Wir wissen nur, daß sie den Boten des Octavius huldreich empfängt -- ob sie weiter gegangen wäre? Wer weiß es? Der Dichter weiß nur, was er wissen will; die Unbestimmtheit und Frage ist sein Kunstmittel so gut wie die Sicherheit, je nach den Menschen und Lagen, die er behandelt; hier verrät er uns wieder einmal nichts; soviel er tut, seiner Cleopatra die schillernde Haut und das Innere zu beleuchten, sie ist ein Rätsel, soll es sein, und hier läßt er sie unaufgelöst. Antonius fährt dazwischen. Schon kommt wieder in der gefährlich labilen Seelenverfassung dieses Mannes an der Wende, der außen sich noch ans Leben klammert, während innen in ihm fortwährend etwas weiß, daß alles aus ist, schon kommt die grenzenlose Wut über ihn. Den Gesandten, der Cleopatras Hand hat küssen dürfen, läßt er peitschen. Nicht etwa, daß keiner sie berühren dürfte; kaum ein paar Stunden später, wo mit einem schönen Sieg Anmut und Würde wieder in ihm oben sind, verschafft er selbst seinem tapfern Feldherrn Scarus, der noch bei ihm ausharrt, diese höchste Gunst als Lohn: Cleopatra die Hand küssen zu dürfen. Aber hier ist es anders; er kommt von Octavius, der Hund! Und was brodelt da alles an Unausgesprochenem in dem Todbedrohten, der beerbt werden soll! In Haß und Härte bricht er nun gegen sie los. Kein Moderner hat unbarmherziger den Haß offenbart, in den die Wollust umschlagen kann; mit der blitzschnellen Raffiniertheit der Wut schreit er ihr das Schlimmste entgegen, was sich der Ärmsten sagen läßt: Ihr wart halb welk, als ich Euch kennen lernte! Und weiter: Als kaltgewordnen Bissen Fand ich Euch auf des toten Cäsars Teller; Ein Brocken ja von des Pompejus Tisch; Dazu noch was an schwülen Stunden, nur Vom Leumund unverzeichnet, Eure Wollust Sich auflas; denn gewiß, könnt Ihr auch ahnen, Was Keuschheit sollte sein, Ihr wißt nicht, was Sie ist. Kann wohl sein, daß sie, die von Moment zu Moment lebt, in jedem Augenblicke aber ganz, daß sie erst jetzt, wo seine zürnende Liebe so schamlos ausbricht und ihr solche Gewalt antut, daß sie, die Gepeitschte und Übergossene, erst durch diese Gewalttätigkeit wieder ins Gefühl ihrer unabänderlichen Schicksalsliebe zu ihm kommt. Jedenfalls beschwört sie nun ihre Liebe zu ihm mit so leidenschaftlich überzeugenden Worten, daß er wieder umschlägt: auf also in die Liebesnacht vor der letzten Schlacht! Das ist die nämliche Nacht, in der die Soldaten, die auf Posten stehn, eine seltsame unterirdische Musik vernehmen: ’s ist Herkules, der Gott, den er geliebt, Der jetzt Anton verläßt. Ein Mann war er, die verkörperte Männlichkeit, und zu Manneswerk bestimmt; und als Weiberknecht geht er zugrunde. Im unterirdischen Trauermarsch verläßt ihn sein guter Geist, der Gott der Männlichkeit. Wohl stammt dieser Zug, den Shakespeare hier für die Untergangsstimmung bringt, wie so manche Einzelzüge, von Plutarch: hier aber erst gewinnen sie Leben und Sinn und werden mehr als Anekdotenkram, wo sie eingefügt sind in dieses Gemälde der west-östlichen Leidenschaft im Rahmen großer geschichtlicher Katastrophe. An dem Morgen also, der dieser Nacht folgt, darf Antonius, der kämpft wie ein Löwe, noch einmal sich Sieger nennen; aber das Treffen ist von keiner Entscheidung und kann nichts mehr abwenden. Sein Stern sinkt; der Glaube an ihn verliert sich aus der Welt; am Tag darauf entspinnt sich wieder eine Schlacht zur See, und seine ganze Flotte übergibt sich dem Feind. Wer ist schuld? Auch hier will es der Dichter nicht wissen; es ist, wie wenn ein Elementares sich dem Antonius entzöge. Wir wissen nur, daß Antonius sofort wieder Cleopatra des Verrats bezichtigt. An Treue der Liebenden glaubt er nicht und kann nicht dran glauben; so ist die Welt nicht mehr, so sind seine Erfahrungen nicht, und so ist vor allem seine Natur und die Lebensart nicht, die er wählte. Zeit seines Lebens war er, wenn es die Selbstbehauptung gegen die Welt und die Verfolgung seiner Ziele galt, ein Komödiant; sein schnell teilnehmendes Gefühl, seine menschliche Wärme, seine kindliche Hingabe, die alle als echte Gabe natürlich in ihm lebten, hat er in den Dienst politischer Zwecke gestellt; aus seiner Stärke wie aus seinen Schwächen hat er Mittel gemacht; wie Enobarbus, der ihn am besten kennt, einmal daran erinnert wird, wie Antonius bei Cäsars und auch wieder bei Brutus’ Tod Tränen vergossen habe, da meint der trocken: Jawohl, in jenem Jahr plagt’ ihn der Schnupfen; Was willig er zerstören half, darüber Vergoß er Tränen. Und vor allem, wie könnte er, der seinen Frauen hintereinander die Treue gebrochen hat, an treue Liebe zu ihm glauben? An Treue zu glauben war er gewohnt; an seinen Kriegskameraden, an seinen Soldaten hat er sie gekannt; an Freundschaft und bewundernde Ergebenheit hat er geglaubt; aber selbst die verlassen ihn jetzt eben. An Liebe glaubt er und hat sie genossen, hat sich leidenschaftlich in sie hineingewühlt und sich in sie begraben und um ihretwillen Welt und Treue und Ehre vergessen und verraten. So ist ihm Cleopatra jetzt wieder die Schlange, das falsche ägyptische Herz, das Zigeunerweib, -- jetzt hat sie ihm den Rest gegeben, hat ihn dem „jungen Römerknaben“ verkauft, die Hexe! Vor seiner Wut flüchtet sie in ihr Grabmonument wie in eine Festung und läßt ihm, in Angst und damit seine Stimmung umschlage -- sie kennt ihn wie sich selbst --, sagen, sie sei gestorben. Das aber ist sein Ende. Seine politische Rolle ist ausgespielt; es ist nichts mehr zu hoffen, der kühle Knabe hat gesiegt. Und nun ist ihm, wähnt er, Cleopatra im Tod vorangegangen, ist um seinetwillen, ist um ihn gestorben! Er hat genug; die römische Tradition lebt noch in ihm: ein Freigelassener soll ihm zum Sterben verhelfen. Er selbst glaubt’s nicht zu vermögen. Der aber -- Eros heißt er schon bei Plutarch -- treu bis zum Tod, stürzt sich lieber selber ins Schwert. Da nimmt sich Anton ein Beispiel; aber er ist doch kein ganzer Römer mehr, es gelingt ihm nur, sich schwer zu verwunden; und da erfährt er, daß es eine falsche Botschaft gewesen, was ihn in die letzte Verzweiflung brachte; daß Cleopatra noch lebt! So läßt er sich zu ihr tragen. Sie aber inzwischen: in welcher Not der Reue und Angst ist sie! Oh, was hat sie getan! Schon ehe er gebracht wird, weiß sie: diesmal hat sie in ihrer Angst die Saite zu stark gespannt. Er hält sie für tot! für so, um seinet-, um seines Zorns willen den Liebestod gestorben; das wird er, sowieso schon zum Äußersten gebracht, nicht überleben! Rührend ist ihr Abschied; er stirbt im Kuß, wahrlich, kein Romeo! aber ein Mensch, ein Mann, ein Liebender trotz allem, ein Einziger -- Marcus Antonius! Sie aber fühlt sich neben diesem Leichnam, wie sie aus der Ohnmacht erwacht, die sie sofort umfangen hat, wie Asche: es rieselt wie Alter an ihr herab; der Königintraum, der Kaisertraum ist ausgeträumt; sie ist nichts Besseres als ein armes, schwaches Weib, eine Magd, die zurückgelassen ist: ihr Herr ist tot. Das Öl ist ausgebrannt. Eine bessere Erkenntnis, als sie je gehabt, steigt jetzt in ihr auf, eine ganz nächtige, die Erkenntnis all derer, die der Macht und dem Genuß nachgetrachtet haben, deren innere Unbefriedigung, Ungenügsamkeit und Sucht an der Welt und an sich selber gefrevelt hat, die Erkenntnis, zu der auch jener so ganz andere, darin aber zum Kreis der Holden gehörige, der unholde Mann Macbeth gekommen ist: der Nihilismus; das Leben, _das_ Leben ist -- nichts. Aus meinem öden Leid beginnt zu sprießen Ein beßres Leben. Cäsar sein, wie nichtig! Fortuna ist er nicht, nur Sklav’ Fortunens, Ein Diener ihres Willens; aber groß ist’s, _Die_ Tat zu tun, die alles Tun beschließt, Den Zufall bändigt und den Wechsel sperrt, Sich schlafen legt und nie den Kot mehr kostet, Der Bettler nährt und Cäsar. Und doch -- wahrlich, sie ist keine Julia! und auch nicht Portia, die Römerin -- die Wetterwendische, das Kind des Augenblicks, das von ihrem Zentralen her schillernde Oberfläche ist, wie der Opal, dessen äußerer Schlangenhautglanz seine Tiefe ist, -- wer weiß, ob sie nicht doch noch weiterleben könnte? Aber sie vernimmt, daß der kalte Octavius -- der erste Imperator und Cäsar, über den sie keine Macht hat -- nichts andres sinnt, als sie gefangen im Triumph nach Rom zu führen -- und oh, das wäre das Schrecklichste für sie! Die alberne, eiskalte Octavia, die angetraute Gattin ihres geliebten Toten, ihres Gemahls, soll höhnend auf sie blicken? Der jauchzende Pöbel in Rom soll ihr entgegenschreien? Auf der Vorstadtbühne soll irgend ein junger Schauspielerlaffe sie als Hure vom Nil darstellen? Nein. Nun ist’s aus; sie ist entschlossen. Unzählige Male hat sie ihrer Lebtag mit dem freigewählten Tod gespielt; das hat zu ihrem hingegebenen, krampfhaften Leben gehört. Jetzt wird’s Ernst. Längst kennt sie die sanfteste Todesart: in ihr schönstes Kleid läßt sie sich schmücken; sie gedenkt des Tages, wo sie Marc Anton auf dem Fluß strahlend als junge Liebesgöttin entgegenfuhr, -- und dann, nun, wo sie tapfer frei in den Tod geht, ist sie nicht mehr die feige Sklavin, die in scheu geduckter Liebe zu ihrem Herrn, dem Gatten einer andern, emporsieht -- Ich komm’, _Gemahl_: Jetzt gibt mein Mut mir Recht zu diesem Namen! Ich bin ganz Feuer und Luft; was sonst in mir, Geb’ ich dem niedern Leben. „Was sonst in mir“, im Original aber: ~my other elements~: das Element des Wassers, dem die tränenreiche Nixe vom Nil angehört hatte, das Element des Erdenkots, dem sie bis dahin nie hatte entrinnen können, die sollen nun mit ihrem Leichnam, der zurückbleibt, zu den Stoffen gehn, deren Teil sie von je gewesen waren; Cleopatra steigt in ihrem edlen leichten Teil, als Feuer und Luft, in ihre Ewigkeit. Noch einmal haben wir hier der Sonettendichtung zu gedenken, wo der Dichter klagt, daß wir Menschenkinder nicht ganz und gar Geist sind, daß wir in die „dumpfe Substanz des Fleisches“ gestopft sind. Da wird auch von dem bittern Naß des Wassers und von der Erde gesprochen, von diesem Elementaren, das uns an die Natur klebt; unser Leib und unsre Tränen, das sind Erde und Wasser in uns. Die beiden andern Elemente aber, die Luft ist Geist in uns, und das Feuer ist ~desire~, ist der Wille des Excelsior und himmlische Sehnsucht. So darf Shakespeares Cleopatra sich zu ihrer Apotheose rüsten. Von einer Schlange, die ein Bäuerlein bringt, läßt sie sich töten. Stille, still! Siehst du mein Kindlein nicht an meiner Brust In Schlaf die Amme saugen? Sanft und süß, unmerklich sacht holt die Schlange der Schlange das Leben aus der Brust und träufelt den Tod hinein; im reinsten aller Geschlechtsgefühle des Weibes, in unwirklich-phantastischer Mütterlichkeit verscheidet die liebliche Buhlerin. Aber noch im Sterben bäumt sich die alte Isis in ihr auf, die alte Eva: sie freut sich noch, durch ihren Tod den klugen dummen Cäsar, der sie hatte fangen wollen, um seine Beute zu prellen! Treue findet auch sie bis in den Tod: ihre Frauen, die ihr Leben geteilt haben und ihr ganz ähnlich geworden sind, sterben mit ihr: die eine setzt sich die Schlange an wie die Herrin; die andre war ihr einen Augenblick im Tod vorangegangen. Enobarbus’ scherzhaftes Wort vom schnellen Tod dieser Kammerfrauen ist Ernst geworden: ohne daß man eine Ursache erkannte, fiel sie tot hin, als Cleopatra, die Schlange schon am Busen, sie zum Abschied küßte, auch sie ein Weib, für das Tod und Liebesakt in seltsamem Rapport stehen. So endet dieses Drama, eine Liebestragödie wie Romeo und Julia, eine Römertragödie wie Julius Cäsar, ein Pamphlet auch gegen die Geschlechtsliebe wie Troilus und Cressida. Dies alles ist es und ist es nicht; daß es aber -- und ähnliches war für das sehr ernste Spiel von den Helden des Trojanischen Kriegs zu sagen -- nicht eine Komödie, wozu sein scharfes Auge den Dichter bei diesem Stoff so leicht hätte verführen können, sondern trotz allem eine innig liebevolle Tragödie wurde, das ist das beste. Es ist die besondere Tragödie dieses besonderen reifen, überreifen, zeitlebens unreifen, zwischen Jugend und Alter stehenden Menschenpaares Antonius und Cleopatra in dem großen geschichtlichen Moment, wo die Antike reif, überreif, unreif zwischen Jugend und Alter, vor dem Ende steht. Liebe und Politik gehören in diesem Drama so zusammen, wie in der wahren Geschichte der Völker privates und öffentliches Leben nicht zu trennen sind. Die prachtvollen politischen Szenen des Stückes stehen darum mit seinem Sinn in so naher Berührung wie die Liebesszenen: das Staatsgespräch, wie Antonius und Octavius sich zuerst wieder begegnen, das in seiner kühlen Überlegtheit seinesgleichen nur in den politischen Szenen des Egmont hat; die Bankettszene auf dem Schiff des Pompejus, wo mitten in römisch-traditionelle, aber nicht mehr durchweg festgehaltene Würde süditalienische Seeräubertücke und griechisch-orientalischer Tanztaumel kommt, wo Antonius und Octavius einander scharf gegenüberstehen, der eine mit seinem lässig-nachgebenden Trinkspruch Schickt euch in die Zeit! der andre mit dem kühl gebietenden Sei Herr der Zeit! Da haben wir ein Drama, das fast unergründlich in die Tiefe der Seelen, fast unermeßlich und farbenschimmernd in die Breite des geschichtlichen Raums, in die Weite der Zeiten geht; ein Drama nur für reife Menschen -- das gilt für den ganzen Shakespeare, aber für dies Stück besonders --, das man lieber gewinnt und mehr bestaunt, je öfter man es liest, das aber noch niemand in seiner umwerfenden und aufrichtenden, schüttelnden und streckenden Größe ganz kennt, weil es die Gestalt, nach der es verlangt, die Gestalt auf der Bühne noch nicht gefunden hat. Diese Tragödie braucht für wichtige Szenen nach Shakespeares Anordnung, ich meine, auch zur Einleitung und mancher Überleitung, Musik feiner und starker Art, wie sie der Egmont gefunden hat, und braucht eine Stimmung und ein Tempo, eine Zugleichheit von schneller Folge, saftiger Breite und streng seelenvoller Tiefe, wie wenn ein Rubens und Rembrandt als einziger Meister ans Werk ginge. Timon Der Punkt ist erreicht, wo es kaum mehr möglich ist, von Shakespeares Schaffen zu reden, ohne auf sein Leben zurückzugreifen. Nicht zwar auf das Leben, von dem uns Gewährsmänner oder Dokumente berichten; kurz gesagt, auf den Menschen vielmehr, wie ich genötigt bin, ihn mir vorzustellen. Denen, die meiner Auffassung widerstreben, räume ich gern das Recht ein, mir einzuwenden, ich stütze eine Hypothese mit einer Hypothese. Ich, indem ich zugebe, daß hier die Phantasie am Werke ist, ohne die ich nicht auskomme, drücke es lieber so aus, daß ich sage: den Menschen Shakespeare und das Werk seiner letzten Zeit sehe ich in einem Zusammenhang, in dem allein ich dieses Werk verstehen kann und gegen den mir weder psychologische Erwägungen noch tatsächliche Überlieferungen sprechen, von welch letztern im Gegenteil einige meine Deutung unterstützen. Ich brauche einen Rückblick. Das scheint das Besondere der ganz großen Dramen Shakespeares zu sein: Menschen und Handlung werden so mit einander zur Entwicklung gebracht, daß die Menschen von innen her sichtbar werden, daß sie einander gegenseitig erhellen, wobei zu ihrer äußern Gegensätzlichkeit und Hilfeleistung noch innerer Kontrast und Verwandtschaft treten, und daß sich uns so das innerste Leben, die tiefste Wahrheit, das verborgenste Geheimnis dieser Naturen offenbart. Ob diese Dramen mit ihren äußeren Geschehnissen im Altertum, in sagenhafter Zeit, in geschichtlich christlichen Jahrhunderten spielen, wird für diesen ihren seelischen Gehalt von minderer Bedeutung; die Gestalten scheinen den Bann von Zeiten und Räumen, die strengen Grenzen des Vorgangs, in den sie eingesperrt sind, zu sprengen und untereinander einen Zyklus, einen Reigen und Verein ohnegleichen zu bilden; nicht nur Shylock und Porzia, Prinz Heinz und Percy, auch Richard III. und Jago, der Bastard Faulconbridge und der Bastard Edmund, Julia und Desdemona, Brutus und Hektor, Hamlet und Falstaff stehen in geheimem Gespräch, in Dialektik zu einander. Es geht um Menschen und ihre Schicksale; es geht um den Menschen in gröbsten Gegensätzen und feinsten Tönungen; es geht um Kraft, die als Hoheit und als Gemeinheit erscheint; um große Leidenschaft, Wildheit, Tapferkeit, Kühnheit; um Bekenntnis zu sich und um Hader mit sich; um geniales oder dämonisches Denken und Wollen; um holde Innigkeit, um heroische Hingabe an Freiheit oder Gerechtigkeit oder Liebe; und um wie viele Erscheinungsformen für diese Allgemeinheiten! um wie viel Zwischenstufen und Entgegensetzungen! Es sind keine Charaktermasken, keine Typen; besondere Vertreter eines Typus, eines Schicksals sind sie; es ist Unnennbarkeit, ist Abgrund, ist Unendlichkeit in ihnen wie im Leben; Shakespeares Kraft des Gestaltens ist seiner Kraft des Schauens nichts schuldig geblieben; dem Bild gegenüber, das aus ihren Reden und Handlungen in uns entsteht, haben diese Reden selbst, die der Dichter geformt, und diese Handlungen, die der Dramatiker ins Werk gesetzt hat, fast nur die Bedeutung technischer Behelfe, die uns zum Ungesprochenen und Unsichtbaren leiten. Wie also steht es mit dem, was wir den Charakter dieser Gestalten nennen? Ist es so, daß sie in ihrem Wesen unverändert die bleiben, die sie sind, oder wachsen sie, verändern sie sich mit ihrem Schicksal? Beides; sie stehen unentrinnbar, wie im Ewigen, in ihrem Wesen; dieses ihr Sein aber offenbart sich uns in Bewegung; im Werden, im Wachstum, in der Entfaltung. Was wir an ihnen Charakter, Natur, Wesen nennen, kommt aus den tiefsten Gründen ihrer innern Notwendigkeit, ihrer Möglichkeit, ihrer Anlage herauf, so aber, wie es gerufen wird von ihren Begegnungen mit dem Schicksal. Was da also in die Erscheinung tritt, ist nicht das Wesen im Abgrund, nicht die unsägliche, nur im Unendlichen, im Grenzenlosen völlig für die Erscheinung ausgeschöpfte Ewigkeitstotalität, wie sie der Dichter in der ungeformten Konzeption, in Stille oder Aufruhr, im Moment oder im zuckenden Ringen geschaut hat; es sind die Teile, die Strahlungen des Wesens, die von außen, von Erlebnissen gerufen, der Umgebung und dem Träger dieses Wesens selbst abgerissen bekannt werden. So ein Mensch ist immer er selbst, und ist eben um dieses Selbst willen, eben darum, weil so ein Selbst für die Erfahrung der andern wie für das eigene Bewußtsein seines Trägers unergründlich bleibt, nicht immer derselbe. Lear, als er herrisch und launisch zum ersten Mal vor uns trat, war er selbst, so wie er sich auf Grund der Bedingungen seines bisherigen Lebens den andern und sich geben konnte; und am Ende ist er dieser nämliche Mensch, wie er sich in furchtbaren Erlebnissen, die wir mitgelitten haben, tiefer heraufgeholt, reiner offenbart hat: nicht bloß für uns Zuschauer, auch für seine Nächsten und vor allem für sich selber hat er sich durch seine ungemeinen Schicksale noch in seinen hohen Jahren entwickelt; Dinge sind durch diese gewaltsamen Erschütterungen und Eingriffe herausgekommen, von denen niemand geahnt hatte, daß sie in ihm sind. Es ist also wahr und Shakespeare bestätigt es, daß man einen Charakter nicht lernen und erwerben, daß man seine Natur nicht verändern kann; es ist aber ebenso wahr und ebenso von Shakespeare gezeigt, daß der Quell, der als unser Leben zu Tage tritt, im Unterirdischen unerschöpflich ist und daß dieses Leben seine Grenze nur findet in Zahl und Art der Schicksale, die uns begegnen, und in der Zahl unserer Jahre. Was also aus Lear, aus Herrn Angelo und so manchem andern, was pathologisch aus Ophelia im Schluß hervorbricht, das war alles von Anfang an da, aber verborgen, latent, potentiell, als Möglichkeit, als Bereitschaft, als Spannung, und war der Erfahrung der andern wie dem eignen Selbstbewußtsein unzugänglich, bis es allmählich oder überraschend gerufen wurde. So ist der Mensch, wie ihn Shakespeare in diesen Meisterwerken darstellt, nie eine starre Charaktermaske, aber immer fest von den Schranken seiner besonderen Bedingungen umgrenzt; seine Beharrung wie seine Wandlungen sind glaubhaft; immer haben wir in diesen Stücken das Gefühl der Sicherheit von dem Eindruck her, daß Charakter und Schicksal einander gegenseitig bedingen, daß der Mensch nicht um der dramatischen Zwecke des Dichters willen plötzlich aus seinem Wesen gerückt wird. Diese Enthüllung und Offenbarung des Innern für uns Zuschauer, diese Entwicklung und Herausgestaltung für die Personen selbst und ihre Umgebung ist uns an Shakespeares großen Dramen dieser Art der wesentliche Zug. Daß diese Dichtungen Dramen, Fortgang, Handlung, Gegenspiel, gegenseitige Bedingnis sind, liegt tief schon in dem Widerstreit begründet, in dem Schicksal und Charakter einander vorwärts bringen und die Wage halten: die Handlung ergibt sich aus den Naturen und aus ihrem Gegensatz nicht nur zu einander, sondern auch zu den Aufgaben, vor die jede einzelne von jedem Stadium ihres Geschicks sich gestellt sieht; und die Naturen werden von den Vorgängen zu ihren Äußerungen und Wandlungen gereizt. Dieses Wachstum, diese Variabilität der Naturen im Zusammenhang mit der äußern Handlung ist es, was Shakespeares Drama nebst dem, daß es uns ein wundervolles Abenteuer zeigt, daß es ein entzückendes oder ergreifendes Spiel ist, zu noch mehr macht: zu einer Sichtbarmachung des innersten, des wahrsten Lebens bis in den Schlund hinein, wo im Ungrund das Nichtmehrsichtbare wogt. Wie Stifters Jüngling nach der Aufführung des König Lear empfindet: Das hatte ich nicht geahnt, von einem Schauspiel war schon längst keine Rede mehr, das war die wirklichste Wirklichkeit vor mir, so ist das, was diese Erschütterung erzeugte, ein wesentliches Element in all diesen großen Menschenenthüllungen Shakespeares. In der äußern Wirklichkeit mancher dieser Dramen ist manches uns fremd geworden, fast so fremd manchmal wie in den Tragödien und Komödien der Antike; aber die Offenbarung des inneren Menschentums bleibt ein immer frisch ergreifendes, durchschüttelndes, reinigendes und vorwärts, aufwärts drängendes Wunder der Lebendigkeit und trotzt der Zeit. ~Tua res agitur~, deine Sache wird da verhandelt, das ist die Grund- und Zielempfindung, von der aus diese Dichtungen zu unserm Denken und Wollen gehn und imstande sind, unser Leben zu wandeln. Dieses aber nun, was Shakespeares Neues, Gewaltiges, Eigenes, Größtes war, womit er nicht nur die Genialischen unter seinen Zeitgenossen, sondern alles dramatische Genie, das vor ihm und nach ihm war, übertraf, diese Verbindung von Charakter und Schicksal, von Gestalt und Handlung, diese Offenbarung des geheimsten Lebens, diese Beziehung zur Wirklichkeit des Menschenlebens, der Natur, der Weltordnung, all das, was ihn zu mehr macht als einem bloßen Dichter, was ihn zur Philosophie, zur Religion, zur Kritik und Umgestaltung, zu Erneuerung und Wiedergeburt in Beziehung setzt, -- dieses sein Größtes ist offenbar auch sein Schwerstes gewesen. Die Produktivität geht immer irgendwie über die Kraft; sie ist immer mit Angst, mit Abwehr, mit der Unlust, die auch mit der Wollust gepaart ist, mit Müssen und Sträuben verbunden; je größer der Genius, um so mehr fürchtet sein Leibliches, der Komplex seiner normalen Funktionen, von dieser dämonischen Übergewalt zerbrochen zu werden. Kein Genie, das über die Jugendjahre hinaus in die Meisterschaft gerät, das sich nicht, damit der Normale in ihm das Zusammenhausen mit dem Abnormen erträgt, irgend eine besondere Lebensdiät zulegen müßte; was gibt es da für mannigfache Stufen! Man sollte einmal den Versuch machen, die Geschichte der Kunst nicht in zeitliche Perioden, sondern nach dieser Modalität, nach diesem Lebensstil einzuteilen. Welch ein Unterschied zum Beispiel zwischen einem Rückert, der Anlage nach einem der größten Geister, der seinen Geist nur so ertrug, daß er das Genie zum Talent hinabebnete und das Leben der Produktion in den stillen Bahnen des privaten Lebens weise verlaufen ließ, und einem Beethoven, der das Privatleben aller Würde entsinken ließ, nur um dem Schaffen keine Fesseln anzulegen. Nur von hier aus wird das Rätsel der Deutschen, Goethe, der Mensch nicht nur und der Geheimerat, sondern der Dichter einmal seine Lösung finden: seine Schöpfungen und das Verhältnis seiner Mannes- und Altersproduktion zu den Jugendverheißungen versteht man, wenn man das Kompromiß versteht, das der Genius und der Normale in Krisen und in dem unaufhörlichen Ausgleich, der Leben heißt, mit einander schließen müssen, um es mit einander auszuhalten. Zweie sind in dem produktiven Menschen stets beisammen, die sich einander bequemen müssen; es ist ein immerwährendes Ringen, Ausweichen, Pausieren; und nicht geringeren Grades ist diese Dualität, als wir sie in dem Bilde des Langschläfers und Morgenfaulen haben, der nie aufstehen würde, wenn der andre, der mit ihm unter einer Decke und einer Haut liegt, ihm nicht jeden Morgen die Bettdecke wegzöge. Jedes Genie nun, wir können es uns nicht dringend genug vorstellen, ist ein Kind seiner Zeit; alles Schöpferische geht in dieser Welt aus dem Geschaffenen hervor. Immer wieder muß sich der Produktive dem Üblichen, dem er entstammt, das auch von ihm erwartet und verlangt wird, entringen; er will immer wieder zurücksinken, wie Goethe in den Großkophta, den Bürgergeneral, die Singspiele und so vieles der Art sank; er steht in einem Kampf, der oft entsetzlich, dämonisch, der manchmal ermattend und manchmal beflügelnd ist. Jeder Besondere kennt den Wunsch und die Notwendigkeit, zwischenhinein gewöhnlich zu sein, gleichviel, wie viele seiner Gaben er in die Gewöhnlichkeit mitnimmt; und so verstehe ich es als völlige Notwendigkeit, daß auch Shakespeare hie und da und in besonderen Krisen der Umgebung und sich selbst hat nachgeben müssen. Wir haben sein Neues, Besonderes, Großes gesehen; auch läßt sich zeigen, wie es aus der Art und Mode seiner Zeit und gegen sie entstand. Die Art der Zeit war Leidenschaftlichkeit, Üppigkeit, Bilder- und Witzesfülle der Rede und Charakteristik großen Zuges im Sinne einer rationalen, allgemeine Typen setzenden Psychologie; prachtvolle Muster dieser Dichtung seiner Zeit sind die beiden glänzenden Gedichte seiner Jugend, Venus und Adonis und Der Raub der Lucrezia, um derentwillen er sofort ein gefeierter Dichter wurde. Glänzendes Talent, in der Art der größten Dramatiker seiner Zeit zu dichten, zeigt sich im Titus Andronikus; und wie wundersam und abgestuft die Sprach- und Metapher- und Witzkunst, die Sprache der Empfindung und des Geistes in der Verlornen Liebesmüh! Wie er dann aber mit seinem Eigenen, Wesentlichen einsetzt, in der Gestalt des Proteus in den Zwei Edelleuten von Verona, da ist er ein Anfänger, der den Übergang von der starren Charaktermaske zur Beweglichkeit des lebendigen Menschen noch nicht zu finden weiß und aus dem Ernst ins Spiel zurückbiegt, um nur einen Abschluß anzuflicken. Zu solchen Vor- und Entwicklungsstufen ist Shakespeare aber während seiner ganzen Produktion hie und da zurückgekehrt, wenn ihn Bedürfnis oder Lust überkam, sich’s zwischenhinein leichter zu machen. Da hat er derbe, rasch gezimmerte Possen geliefert wie Der Widerspenstigen Zähmung und dergleichen; oder leichte Spiele; in einer ernsteren Komposition hat er wohl die Charaktere entweder nicht zur Entwicklung gebracht oder hat sie umgekehrt plötzlich, gegen alle Glaubhaftigkeit, umfallen lassen; oder er hat nicht seine letzte Kraft aufgeboten und hat Großes in der skizzenhaften Anlage stehen lassen. Ganz besonders lag ihm schon immer nahe, sein Größtes und Schwerstes, das, womit er maßlos fremd in seiner Zeit stand, die Entwicklung menschlicher Seelen, wie er sie in immer tieferen Abgrund hinein verfolgte, fallen zu lassen und dafür zweierlei zu bringen: einmal in dramatisierten Novellen, Romanen, Märchen das buntbewegte romantische Abenteuer, nach dem die Zeit in allen Völkern und in allen Schichten der Bevölkerung viel hungriger begierig war als nach der Offenbarung des menschlichen Innern; und dann die leidenschaftliche, grimmige, weise, satirische oder polemische Rede. Sonst, wenn er in seiner ganzen Gewalt stand und das Äußerste von seiner Produktion verlangte, ließ er diese Rede sublim aus dem tief Menschlichen heraufquellen; war er aber genötigt oder gewillt, es sich leichter zu machen, so gelang es einem solchen Virtuosen auch, sie unmittelbar, unterhaltend und geißelnd, zum Mitgefühl wie zum Nachdenken stimmend, aus den äußern Vorgängen allein abzuleiten. In seiner letzten Arbeitszeit nun tritt sein Eigenstes, die Verbindung von Handlung und Seelenenthüllung, ganz besonders zurück; keineswegs verschwindet es ganz und gar; aber irgendwie -- so deute ich dieses sehr Schwere und will jetzt nicht mehr davon sagen; wie ich es möglicherweise meine, werde ich erst in den letzten dieser Vorträge anzudeuten wagen -- irgendwie setzt die höchste und gefährlichste, die verzehrendste Kraft seiner Produktivität aus. Denken wir einstweilen nur an das, was hier von dem Dualismus und der Diät und den Krisen der produktiven Menschen gesagt worden ist; denken wir daran, wie Goethe eine gewisse zauberhafte, kraftvolle, über Schönheit, Weisheit und Literatur hinausbrechende zeugungsmächtige Energie der Gestaltung, wie sie seine Jugendproduktion hatte, früh verloren und nie wieder erhalten, wie er dafür freilich anderes bekommen und erarbeitet hat, so werden wir uns nicht wundern, daß Shakespeare zum Ende hin, wiewohl er an Jahren nicht alt wurde, seine Stimmung und Weisheit, das Höchste seines Ergebnisses im Drama bringen und leuchten lassen wollte, ohne es erst so tief in Menschenseelen hineinzustecken, daß es den langen schweren Weg der Charaktertragödie gehn mußte, um in Fülle des Lebens wieder herauszubrechen. Von den Stücken, die wir noch vor uns haben, unternimmt Shakespeare nur noch in einem die Fahrt in den tiefen Schacht der Seelen hinein: in Coriolan; in den andern geht er in dem besondern Stil seiner letzten Periode, nicht zwar auf einem, sondern auf verschiedenen Pfaden, immer den Weg der Verbindung von romantischem Spiel und Weisheit, den er vollendet erstmals im Sommernachtstraum gegangen war. In dieser letzten Periode aber ist er auf der Suche nach einem neuen Stil; und über Zymbelin und Wintermärchen hinweg kommt er zu einer wunderschönen einsamen Höhe im Sturm. Ehe er indessen so weit war, in dieser Gattung, die die drei Elemente seines Dramas: Handlung, Seelenenthüllung und Sprache, in neuem Mischungsverhältnis brachte, ganz oben zu sein, erlaubte er sich, tastend oder schnell hinwerfend, zwei leichter gezimmerte Stücke, die sich sehr merkwürdig von all seinen andern unterscheiden: Perikles, Fürst von Tyrus und Timon von Athen. Auf ein drittes Gebilde ebenso und, meine ich, im selben Zusammenhang problematischer Art, König Heinrich VIII., sei hier nur hingewiesen. Perikles soll uns dazu dienen, das Rätsel Timon, soweit es möglich ist, zu erhellen; die Bedenklichkeit, ich muß beinahe selbst sagen, die Komik meines Versuchs liegt nur darin, daß die Entstehungsgeschichte des Perikles auch nicht gerade feststeht. Ziemlich einhellig zwar sind die Gelehrten jetzt darin, daß sie Shakespeare die Autorschaft nicht abstreiten; und auch darüber ist man im großen Ganzen einig, daß das Stück nicht seiner Frühzeit, sondern dieser recht späten Periode zugerechnet wird. Ich wüßte auch gar nicht, mit welchem Recht man es der Jugenddichtung zurechnen könnte; es sei denn, daß der Grundsatz gelte, was einem nicht behagt, sei entweder nicht von Shakespeare oder stamme aus seiner Jugend. Perikles, Fürst von Tyrus ist 1609 in einer Quartausgabe erschienen: „Das jüngste, viel bewunderte Schauspiel von William Shakespeare“. Ein Zeichen, daß das Stück beim Publikum großen Erfolg hatte, ist denn auch, daß rasch hintereinander vier solche Quartausgaben erschienen. Die große Nachlaßausgabe, die erste Folio aber brachte das Stück nicht; die zweite von 1632 auch nicht, aber die war auch nur ein Nachdruck der ersten; die dritte von 1664 nahm das Stück auf, zugleich mit einer Reihe anderer Stücke, die noch strittig sind, zu einem gewichtigen Teil aber auch heute mit gutem Grund Shakespeare zugeschrieben werden. An äußeren Zeugnissen kommen also nur in Betracht erstens die Quartausgaben, die für Shakespeares Verfasserschaft sprechen; das ist aber kein ganz durchschlagender Beweis; die Titel dieser Quartos vermeldeten auch manchmal Irrtümer oder Lügen; und zweitens die Weglassung des Stückes in der von Shakespeares Freunden besorgten ersten Folio. Daraus vermag ich aber auch nichts Sicheres gegen Shakespeares Autorschaft zu holen, so ernst es auch zu nehmen ist; diese negative Tatsache ist keine Antwort, sondern eine Frage. Haben die Herausgeber ihre oft bewährte Liederlichkeit und Willkür walten lassen? Wußten sie aus persönlichen Äußerungen, daß Shakespeare das Stück verwarf, nicht, weil er es nicht verfaßt hatte, sondern weil er sich seiner schämte? Durchschlagende Zeugnisse sind also keine da; weder für noch gegen Shakespeares Autorschaft. Ich entschließe mich -- mit den meisten Forschern -- Shakespeare für den Verfasser zu erklären, weil alles Sprachliche, wozu ich auch die Gedanken, die Satire, die Polemik, die Weisheit und die lyrische Betrachtung der Ereignisse rechne, völlig reifer Shakespeare ist; wir kennen niemanden sonst, der in Situationen der Höhe und der Gemeinheit seine Menschen so sprechen ließ. Kunsthistoriker helfen sich in solchen Fällen, wo ein Werk alle Kennzeichen des Pinsels eines Meisters trägt, ihnen aber seiner doch nicht ganz würdig scheint, damit, daß sie es seiner Schule zuschreiben. So ähnlich hat man auch für dieses Stück den Versuch gemacht, von einer bloßen Bearbeitung oder Mitarbeit Shakespeares zu reden. Dazu nun sehe ich gar keine Möglichkeit. Das Stück ist ganz einheitlich und aus einem Guß; es gehört nur eben einer völlig andern Gattung zu, als wir sie sonst von Shakespeare kennen. Das gilt auch für Goethe und seinen Großkophta zum Beispiel; Schlüsse, das Stück sei nicht von ihm, oder es stamme aus seiner Jugend, oder ein andrer habe es verfaßt und Goethe habe es nur überarbeitet, wären, wir wissen es zufällig, allzumal falsch. Daß Shakespeare hier, wie es öfter anzunehmen ist, ein eigenes Jugendwerk oder einen aus der Frühzeit stammenden Entwurf bearbeitet hat, ist wohl möglich; eine Bemerkung in einem Prolog Drydens, dem noch persönliche Erinnerungen, die auf Shakespeares Freunde zurückgingen, zugänglich waren, spricht dafür, ohne irgend Sicherheit zu geben. In diesem Perikles nämlich gehen die Handlung, das romantische Abenteuer, das Spinnen und Abreißen der Fäden in dem einmal erwählten Stil überaus sicher vor sich; nur ist freilich dieser Stil kindlich, holzschnittmäßig, fast nach Art der alten Moralitäten; die Leutchen bringen alle ihren fertigen Charakter mit in das Stück; von einer Entwicklung oder tiefern Erleuchtung ist gar keine Rede. Das Drama geht nicht auf Menschenforschung aus, sondern auf ein phantastisches Abenteuer, das gefühlvoll, musikalisch, lyrisch umwunden wird und vor allem Gelegenheit zu Weisheit, zu der Weisheit aber von Shakespeares unverkennbar besonderer Art gibt. In der Quellenüberlieferung heißt der Held dieser romantischen Sage sonst nicht Perikles, sondern von einem beliebten spätgriechischen Roman her Apollonius von Tyrus. In England hatte im 14. Jahrhundert John Gower die Geschichte behandelt; und so ist in unserm Drama Gower der Prolog, der von Akt zu Akt dazwischen liegende Teile des abenteuerlichen Seereiseromans erzählt. In den dramatisierten Vorgängen selbst bleibt alles marionettenhaftes Spiel; nun ist das Puppenhafte und Spielerische ein Element, von dem das Drama ausgeht und zu dem es immer wieder zurückkehrt; das gilt nicht bloß für die Geschichte des Dramas, sondern für die Entwicklung jedes einzelnen Dramatikers; jeder Künstler besinnt sich manchmal darauf, daß sein Amt nicht unmittelbare Arbeit an lebendigen Menschen, sondern Schnörkel, Arabeske und Spiel ist; und dieses Drama sieht so aus, wie wenn Dostojewskij, als er sich erholen wollte und der Psychologie müde war oder irgendwie das Tiefste nicht mehr oder zwischenhinein nicht konnte, so etwas wie den Grafen von Monte Christo geschrieben hätte, ihn aber mit reichlichen Blitzen seines Geistes und seiner Gesellschaftskritik durchzuckt hätte. Gerade das hat Dostojewskij ja nicht getan; aber wie er sich oft in andrer Art erholte, wie er seine genial verzerrende, das Übliche zur innern Wahrheit verzerrende Psychologie, mit der er als Fremder gegen seine Zeit stand, ließ und inzwischen Geschichten der kleinen Groteske hinwarf, wissen wir. Im Anschluß an den Roman läßt das Stück Perikles, den Fürsten von Tyrus, ein paar Jahrzehnte lang zwischen Antiochia, Tarsus, Pentapolis und Ephesus hin und her reisen; er verläßt die Prinzessin von Antiochien, weil sie in Blutschande mit ihrem Vater lebt; durch ritterlichen Kampf gewinnt er Thaisa, die Tochter des Königs von Pentapolis; auf der Meerfahrt in fürchterlichem Sturm kommt sie nieder, scheint tot, wird in einer Kiste ins Meer geworfen; sie hat ein Töchterchen geboren, das er später verliert; die Ärmste soll ermordet werden, wird geschont, aber von Räubern in ein Bordell verkauft; darin bleibt sie rein und gut. Später findet Perikles die Tochter wieder, und mit Hilfe der keuschen Diana wird ihm sogar auch die Frau wieder geschenkt, die von einem weisen, wundertätigen Arzt als Ertrunkene wieder ins Leben gerufen und Hohepriesterin in Ephesus geworden war. Das alles wird farbig und im äußern Vorgang lebendig dargestellt und könnte auch heute noch interessieren und leicht, spielerisch rühren. Tiefere Bedeutung erlangt das Stück immer wieder durch zündende Worte. Zur Kritik der Fürstengewalt, zur Weisheit der Staatslenkung, zur Kennzeichnung der Niedertracht wie der schlicht volksmäßigen Redlichkeit hat Shakespeare da ganz Treffliches gesagt. Und unübertroffen gut ist die Sphäre des Bordells, des Liebesgeschäfts dargestellt. Ich führe ein Beispiel an, wie der Dichter in seiner Kritik den absoluten Monarchen, den Tyrannen, und den rechten König, den Vater der Seinen, einander gegenüberstellt. Die Tyrannen trifft es, wenn gesagt wird: Die Könige Sind Erdengötter und im Laster schaffen Sie ein Gesetz aus ihrem Willen. Zeus Kann keiner strafen, wenn Zeus selber sündigt. Dagegen erhebt sich das Bild des rechten Königs in Perikles. Wie um seiner persönlichen Angelegenheiten willen Krieg mit Antiochien droht, ist er besorgt, seine armen Untertanen, die mit all den Wirren nichts zu tun hatten, könnten ganz unschuldig Gräßliches erleiden müssen: Ich sorg’ um sie, Denn mich bedaur’ ich nicht; ich bin nicht mehr Als wie die Wipfel, die der Bäume Wurzeln, Durch die sie wachsen, schützen. So wird die Handlung, außerdem, daß sie fesselndes und rührendes Spiel ist, immer wieder, bei jeder Gelegenheit, zu Sentenzen benutzt; nur freilich geht diese Weisheit nicht aus der innersten Not weder der Person noch der Situation hervor, und so bleibt unsere Stimmung wohlig, angenehm unterhalten, aber nichts berührt uns in der Tiefe. Ich sage nun, daß Timon von Athen, wiewohl dieses Drama in dem, was ich die Sprache oder die Rede nenne, zu weit bedeutenderer Höhe ansteigt, ein Stück ähnlicher Art ist: auch hier treten die Charaktere ganz fertig und schablonenhaft auf, sie sind keine Individuen, sondern in bestimmte Kostüme gekleidete Repräsentanten von Typen nach Art der klassischen und romanischen Komödie, der Komödie von Shakespeares Freund und gelehrtem Gegner Ben Jonson. Die Handlung ist diesmal nur ein übernommener, weitmaschig motivierter, Skizze gelassener Vorwand, ein Stramin, um Reden, Betrachtungen, leidenschaftliche Ausbrüche gegen Erbärmlichkeit und Verrat der Menschen hineinzusticken. Denken wir dagegen etwa an Hamlet! Gewiß wird auch da die Handlung immerzu zu Ausfällen und Betrachtungen benutzt; da erwachsen sie aber, wie mit innerem Zwang, aus dem Zusammentreffen von gereizter Menschenseele und Situation; sie gehören zu einem unsäglich reichen, quellenden Leben, zu einem Stück tragischer Wirklichkeit. Von den Kommentatoren wird nun allerdings meist behauptet, für einige Szenen des Timon gelte das ebenfalls, und sie seien nicht geringer an Rang als die Szenen höchster tragischer Gewalt, die wir von Shakespeare haben; Timons Ausbrüche des Menschenhasses werden den Wahnsinns- und Verzweiflungsszenen Lears an die Seite gestellt. Und dagegen findet man dann eine Reihe anderer Szenen so elend, so stümperhaft hingehudelt, so des Dichters unwürdig, daß man sagt: sie können nicht von Shakespeare sein. Man hat noch viel zu geringe Ehrfurcht und Ergriffenheit vor dem großen Tragiker Shakespeare, wenn man die prachtvollen Sprachkatarakte Timons nicht tief unterscheidet von dem Einblick ins Innerste der Menschenseelen, wie ihn uns die großen Tragödien des Dichters gewähren. Was er im Timon als höchstes zuwege gebracht hat, tragische Redegewalt, das hat er auch, aus unmöglichen Situationen heraus, im Titus Andronikus, das haben auch Marlowe und andere Zeitgenossen vermocht. Auch ich finde den Abstand gewisser Szenengruppen im Timon von einander außerordentlich groß; aber er ist nicht unüberbrückbar und nicht so sehr viel größer als im Perikles zwischen der Art, wie die Handlung geführt wird, und wie die Weisheit und Satire sich äußert. Das nämlich dünkt mich der springende Punkt: wo es im Timon um Polemik, Satire, Erfahrung, Weisheit geht, um die groß pathetische Rede, da ist die Sprache prachtvoll, stark und wenn nicht gewaltig, so doch gewalttätig groß. Aber innerste Glut, Hervorbrechen des schlechthin Notwendigen, so daß man mit hingenommener Seele bei einer Eröffnung des Lebens ist, ist auch sie nicht, nie in diesem Stück, nicht einmal in den höchsten Momenten: immer prasselt da eine gewisse kalte, virtuosenhafte Pracht auf uns hernieder; immer ist dieses Feuerwerk Sprache und also Rhetorik, tief empfundene Rede Shakespeares, die aber den Gestalten und Situationen der Handlung nur so aufgebunden ist, wie der Redner sich der Bildersprache bedient; immer hat man den Eindruck wie einer Wiederholung von etwas, was einstens ganz echt und ursprünglich und dramatisch war, weil der Dichter sich in seinen Gestalten verlor, während er es jetzt, blendend, bezaubernd und subjektiv, wie er sich äußert, fast nicht der Mühe wert zu finden scheint, seinen letzten Ernst auf das zu verwenden, was ihm nur noch Einkleidung ist. Eine Notwendigkeit, die verbreitete Annahme zu teilen, daß etliche Szenen, in denen die äußere Handlung vom Flecke gebracht wird und die in der Tat auf einem sehr niedrigen Niveau stehen, nicht von Shakespeare stammen, sehe ich also nicht; was für Teilhaberschaften kämen dabei heraus, wenn man jedesmal eine Szene, die einem minderwertig erscheint, dem großen Dichter absprechen wollte! Man hat die bedeutenden Szenen Timons überschätzt und zu sehr gerühmt; auch sie stammen zwar von Shakespeare, aber auch sie nicht von dem ganz echten, sondern von einem schlaffen, schwankenden, müden, vor allem der Gestaltung und Seelenergründung müden, von einem Geiste, der wieder einmal zugleich ruhend und suchend geworden war. Es findet sich aber freilich in der Schlußszene des Stückes eine Stelle, wo man wirklich meint, sagen zu müssen: das ist so unsäglich jammervoll, nein das kann nicht von Shakespeare stammen! Und müßte man auch nur das kleinste Stückchen des Textes einem andern abtreten, so wäre ein Mitarbeiter, ein Überarbeiter oder Überarbeiteter da, und weitergehende Vermutungen hätten sichern Grund. Diese Stelle ist die Inschrift, die Timon auf seinen Grabstein gemeißelt hat; sie ist nach Ton wie Inhalt im Original genau so elend wie in der folgenden Übersetzung: Hier ruht ein müder Leib, die müde Seel’ entschwebt: Forscht nach dem Namen nicht; die Pest euch Schurken, die ihr lebt! Hier lieg’ ich, Timon, der im Leben Lebendes gehaßt; Fluch’, Wandrer, wie du willst, nur halt’ hier keine Rast! „Forscht nach dem Namen nicht!“ und „Hier lieg ich, Timon,“ -- das erinnert doch gar zu sehr an die Legende von dem hilfreichen Mann, der sich von der armen Frau mit den Worten verabschiedete: „Meinen Namen werdet Ihr nie erfahren; ich bin der Kaiser Josef“, als daß wir eine so überhomerische Schläfrigkeit Shakespeare zutrauen dürften. Indessen ist die Textgestaltung, die wir haben, uns nicht von Shakespeare selbst vorgelegt; je zwei von diesen vier Versen bilden eine in sich fertige Grabschrift, die beide Male nichts vorher und nichts nachher erfordern; es besteht also die Wahrscheinlichkeit, daß zwei Fassungen überliefert waren, die von den Herausgebern der Folio törichterweise beide gedruckt wurden. Allerdings brauchte man sich mit dieser Abweisung noch nicht zufrieden zu geben, könnte vielmehr sagen, auch wenn man die Grabschrift halbiere, bleibe doch jede, die zur Auswahl stehe, ein gleichermaßen elend versifiziertes Sprüchlein, das in seltsam kindlichem Widerspruch stehe zu der sprühenden Geist- und Sprachgewalt Timons. Ist ein so kümmerliches Gemächte Shakespeare als Krönung eines Stückes, in dem in den Hauptszenen eine so prachtvoll starke Sprache geredet wird, zuzutrauen? Darauf aber kann ich nicht ohne weiteres glatt Nein sagen; ein sehr seltsamer Umstand macht mich betroffen. Wir haben eine andere Grabschrift, von der eine gut beglaubigte und nicht leicht zu verachtende Tradition behauptet, Shakespeare habe sie gedichtet oder zum wenigsten bestimmt: Shakespeares eigene nämlich, wie sie sich auf seinem Grab in der Pfarrkirche zu Stratford befindet. Die ist nicht nur gerade so kläglich, sondern auch in der nämlichen Art elend: in weinerlichem Bänkelsängerton gehalten, der, wenn er nicht Persiflage ist, gewiß mehr an Jahrmärkte erinnert als an die hohe freie Würde und Ausdrucksgewalt Shakespeares. Und dabei können wir uns daran erinnern, daß dieser volkstümliche und kindlich einfältige Leierton, wie er auch von Gower in den Prologen zu Perikles gesprochen wird, auch sonst manchmal von Shakespeare zur Zusammenfassung an solchen Stellen gewählt wird, wo das Ernste und Furchtbare aus der Form des Spielerischen nicht hinausfallen soll, zum Beispiel in Verschen, die in Maß für Maß der Herzog zu sprechen hat. Ich bleibe also dabei: man kann das Rätsel Timon teils lösen, teils, weil es sich mit anderm Rätselhaften in Shakespeares letzten Lebensjahren eng berührt, Rätsel lassen, ohne einen zweiten Verfasser zu bemühen. Um die äußern Daten der Textüberlieferung steht es sehr einfach: wie viele andre Stücke ist Timon für uns erstmals in der ersten Folio von 1623, und zwar als vierte der Tragödien gedruckt worden. Wann das Stück zuerst auf der Bühne erschien, ob es bei Shakespeares Lebzeiten auch schon erschien, wissen wir nicht. Ein andres Stück Timon in der Art gelehrter Schulkomödien, das aus dem Jahr 1600 stammt, ist bekannt; es hat gar keinen Berührungspunkt mit unserm Drama. Von Timon muß Shakespeare eine Erwähnung in Plutarchs Antoniusbiographie gelesen haben; da findet sich auch der Name des Zynikers Apemantus. Dann ist der Stoff von William Paynter, den Shakespeare auch sonst benutzt hat, als Erzählung behandelt worden. Einige Züge stammen -- gleichviel, wie sie auf Shakespeare kamen -- aus den Dialogen Lucians. Das Stück zerfällt in zwei parallele Teile, deren erster den reichen und mächtigen, der zweite den durch seine verschwenderische Freigebigkeit verarmten Timon zeigt. Die Erfahrungen, die Timon macht, sowie er arm wird, stürzen ihn nun ganz plötzlich, ohne jede Vorbereitung oder Überleitung, in grimmigsten, schimpfenden Menschenhaß, er geht in die Einöde, in Wald und Höhle, und hat auch für die, die ihm treu geblieben sind oder nichts zu Leide getan haben, keine rechte, keine schöpferische Liebe mehr. Man erhält gar sehr den Eindruck, daß das übrige Stück nur rasch und leicht hingeworfen ist um der maßlos ausschweifenden Haß- und Schimpfreden Timons gegen das Menschengeschlecht willen. Daneben geht noch eine locker und schlecht mit der Haupthandlung vernestelte Kontrasthandlung: die Athener zeigen sich auch gegen ihren Feldherrn Alkibiades undankbar; der aber flieht sie nicht, sondern führt Krieg gegen sie und besiegt sie. Alle ziehen sie aus dem reichen Timon, der nur so drauf los schenkt und übrigens auch geistig einer aus der Zunft von der „schenkenden Tugend“ ist, da er sich durch weisen Rat ums Vaterland verdient macht, ihren Vorteil: Staatslenker, Hausfreunde, Wucherer, Tellerlecker, Juweliere, Maler, Dichter; alle umschmeicheln ihn und er merkt keine Falschheit, lebt vielmehr in Freude und Harmonie, weil er Gutes tun und beglücken kann: Wozu wären uns Freunde nötig, wenn wir sie niemals in der Tat nötig hätten?... Ja, ich habe mich oft ärmer gewünscht, um euch näher zu kommen. Wir sind geboren, Gutes zu tun, und was nennen wir wohl besser und eigentlicher das unsrige als die Reichtümer unsrer Freunde? Diese Freunde beschenken ihn denn auch in der Tat sehr reichlich; er merkt bloß nicht, daß sie es lediglich tun, weil sie sicher sind, noch mehr von ihm zurückzuerhalten. Er ist ein Mann, der Vertrauen zu vielen, fast zu einer ganzen Stadt hat; er glaubt an Gemeinschaft und Gegenseitigkeit. So kennt er nichts Köstlicheres als Geselligkeit. Drum will er auch von dem Zyniker Apemantus nichts wissen, der mit berufsmäßiger Galle in alle Häuser geht und alles höhere Leben, alle Lebensfreude schmäht, ohne daß er je böse Erfahrungen mit den Menschen gemacht hätte. Man ahnt hier einen fein angelegten Gegensatz zwischen dem Gewohnheitspessimisten, der in seinem Handwerk, besser gesagt, Mundwerk des Schlechtmachens eigentlich immer guter Dinge ist, und unserm Timon, den das Leben, ein gehäuftes Bündel furchtbarer Erfahrungen erst zur echten Verzweiflung und dann zum Tode bringt. Im zweiten Teil kommt denn auch dieser Gegensatz ausführlich zur Sprache; aber so recht lebendig, wie der große Shakespeare gerade den Kontrast äußerlich ähnlicher Naturen sichtbar zu machen imstande war, tritt er nicht hervor. Dann also stellt sich heraus: Timon ist in jedem Betracht ein Verschwender gewesen. Nun ist er am Bettelstab und verschuldet. Erst verzweifelt er darüber gar nicht; er erwartet sich jetzt die Freude, die er sich schon immer gewünscht hatte; der Augenblick ist gekommen, wo die Freunde sich erproben werden. Zu seinem treu teilnehmenden Haushofmeister meint er dann: Du sollst sehen, wie du Mein Glück verkennst; reich bin ich, reich in Freunden. In ein paar typischen Komödienbeispielen sehen wir dann aber, wie diese Freunde ihrerseits nur reich an Ausreden sind. Und über Timon kommt, besinnungraubend, umwerfend und umwälzend, die Wut. Noch einmal ladet er zu einer großen Gesellschaft ein. Schon glauben die Stammgäste seines Hauses, er hätte sie bloß prüfen wollen, und sein Reichtum sei gar nicht verschwunden; aber in den Schüsseln kommt bloß warmes Wasser auf den Tisch, Deckt auf, ihr Hunde, und leckt! Nichts mehr als Grimm und Bosheit ist in ihm: Dampf und lauwarm Wasser Ist ganz euer Ebenbild. Leidenschaftlich schmähend wirft er die Schüsseln nach ihnen und eilt verzweifelt hinaus. Es folgt nun der vierte Akt, um deswillen allein fast das Stück geschrieben scheint: eine barocke Ausschweifung wilder, leidenschaftlicher Sprache der Verachtung fast ohne gleichen. Der Akt bringt vier große Monologe Timons des Einsamen und vier große Gespräche: mit Alkibiades und seinen Hetären; mit dem Zyniker Apemantus; mit den Dieben und mit dem treuen Hausverwalter Flavius. Aber er bringt mit alledem keine Entwicklung, keine Steigerung; und selbst das famose Motiv, daß Timon draußen, fern von den Menschen, in der wilden Natur einen Goldschatz findet und wieder reich sein könnte, wenn er nur wollte, wird nur äußerlich aufgesetzt und führt nicht zu einer inneren Krönung, findet Anwendung nicht auf ein Menschenleben und dient nicht wahrhafter Seelenerschütterung, sondern nur einer allerdings grandiosen Rhetorik, die im üppig wallenden Mantel der Leidenschaft auftritt. Shakespeare kommt es hier nur auf das eine Thema an, das er virtuos variiert: die Gemeinheit der Menschen in ihrer Beziehung zum Geld, wie sie jetzt von Timon erkannt und mit seinem Fluch auf das Menschengeschlecht und alle Stände bezahlt wird. Durch diese ihre eigne Gemeinheit sollen die einzelnen Berufsklassen diesen Fluch an einander zur Erfüllung bringen, soll jeder den andern verletzen, bestehlen, betrügen, verwunden, umbringen. Die Leibeigenen sollen nur dreist stehlen, ihre „strengen Herrn“ sind ja selbst „langarmige Räuber“; Magd, in des Herren Bett! Die Frau ist im Bordell! Im Wald, mit dem Wild zusammen will er leben, das nicht so wild ist wie die Menschenbrut. Dabei ist er aber doch nicht in der Rousseauschen Stimmung, der Mensch sei böse geworden, die Natur sei gut. Für ihn, wie er jetzt in die Welt blickt, gibt es gar keinen Trost; denn den Urgrund für die Niedrigkeit der Menschen findet er in der Fehlerhaftigkeit der Weltordnung. Es ist in der Natur so eingerichtet, daß es Leben nur gibt durch Raub des Lebens; was da lebt, muß andre lebendige Wesen vernichten, um leben zu können. Und gar eine Erhöhung, eine Bereicherung kann es in der Welt nur geben durch Beraubung eines andern. Aber er sieht tief und schnell; ja nicht soll man nun nach dem Äußern urteilen und den Entbehrenden und Beraubten für den bessern Menschen halten. Der Bettler darf sich nicht besser dünken als der reiche Senator: mögen sie nur die Plätze tauschen, gleich benimmt sich der Bettler wie der Reiche. Schief ist alles; Nichts grad’ in unserm fluchbeladnen Wesen, -- Als zielbewußte Schurkerei. Ein Abscheu Sind alle Feste, Volksgewühl, Gesellschaft! Timon haßt seinesgleichen; ja, sich selbst. Vernichtung wetz’ die Hauer auf die Menschheit! Die Menschen sind denn doch in der ganzen übeln Natur die schlimmsten. Wie so mancher Menschenfeind wendet Shakespeares Timon die Liebesmöglichkeit, die noch in ihm ist, dem Hunde zu, nicht in der Tat freilich, nur wieder im Sprachbild, wenn er zu Alkibiades sagt: Ich bin Misanthropos und hass’ die Menschheit. Doch du, ich wollt’, du wärst ein Hund, daß ich Ein wenig dich noch lieben könnt’. Was ist er denn jetzt, als Mensch, dieser Feldherr? Ein Kriegsmann, ein Menschenschlächter. Fort, der Trommel nach! Bemal’ mit Menschenblut den Grund rot, rot! Aber auch der Krieg ist noch entschuldigt; ist denn nicht alles, was Menschen tun, Zerstörung? Den Krieg nimmt er in seiner grimmig anschaulichen Art personifiziert, als ein Vorhandenes, Lebendiges, das sein Wesen erfüllen und sein Daseinsrecht ausüben muß; und da fragt er: Grausam sind göttlich Recht und Menschensatzung; Was soll denn Krieg sein? Deine Hure da Hegt in sich mehr Zerstörung als dein Schwert, Trotz ihrem Engelblick. Sie nämlich, die feile Dirne, hat diese Kraft der Verderbnis in Verbindung mit dem Zerstörungsmittel, das in der menschlichen Gesellschaft aufgekommen ist und das von allen das schlimmste ist: das ist das Geld! Daß er, der sich von allem abgewandt hat und nichts mehr will, beim Wurzelgraben einen Schatz findet, ist ihm nur ein Hohn. Immer neue Ausdrücke wirft er dem Geld entgegen: gelben Sklaven nennt er es, verdammte Erde, Der Menschheit allgemeine Hure, die du Unter der Rotte der Nationen Krieg Und Zwietracht stiftest; einen starken Dieb schilt er es, der davonläuft, wenn sein Herr schwach auf den Beinen wird und nicht mehr aufrecht bleiben kann. Und nun -- was alles mehr in der Art der allegorischen Gedichte ist, deren Meister Spenser war und denen Leidenschaft und Wucht des Ausdrucks und Bildes keineswegs fehlte, als in der Art der Wirklichkeits- und Herzenstragödie Shakespeares -- nun wandelt sich mittels des Schatzfundes Timons Klage und Schimpf in aktive Verfolgung. Er behält in seinem Haß so viel von dem Schatz, der für die Fristung seines Lebens, wie er sich’s jetzt eingerichtet hat, ganz wertlos geworden ist, daß er damit die Menschen, zumal die Athener, verderben kann. Dem Alkibiades gibt er Geld, damit er Krieg führe gegen diese Athener, die ihm das Urbild lasterhaft zivilisierter Menschheit sind. Das ist ein Anlaß nicht zu einem Fortgang der Handlung, sondern zu einer neuen Variation der Rede. Ein fürchterlicher Ausbruch des Menschenhasses knüpft sich daran; grauenhaft wird das Bild des Vernichtungskriegs entworfen, und bei all diesen Schreckensbildern findet Timon in wütigem Grimm, daß die Menschen alle, bis auf den Säugling herunter, mit Recht auszutilgen sind: Sei wie Planetenpest, wenn Zeus sein Gift In kranker Luft auf städtischen Lasterpfuhl Herab läßt tauen; keinen schon’ dein Schwert!... Fluch allen Wesen! Säe Vernichtung; hast du ausgetobt, So treffe dich Vernichtung! Den Dirnen gibt er Gold, um sie recht verführerisch geschmückt auf die Männer loszulassen. Auszehrung säet Ins hohle Mannsgebein! Und wie malt er sich’s nun aus! Und wie hätte ein andrer Shakespeare dieses hämisch, schmatzend vorwegnehmende Genießen der Rache zu Timons Charakteristik, zur Fortführung der Seelenentwicklung und äußern Handlung benutzt; hier aber bleibt alles grandiose Strafrede, ein dramatisch eingekleidetes Gedicht, das aus dem Abgrund einer leidenschaftlichen Weltempfindung herausschlagende Wetter gegen Gott und die Welt losplatzen läßt. Der Anwalt soll durch den Umgang mit diesen Weibern die Stimme verlieren; dem Priester, der lügnerisch gegen die Schwäche des Fleisches zetert und doch zu diesen Weibern geht, soll der Aussatz die Nase aus dem Gesicht fressen; der Kriegsbramarbas, der keine Wunden hat, soll durch sie kennen lernen, was Schmerzen sind. Verpestet alles, daß Die Quelle aller Zeugung durch euer Wirken Ausdörre und ersticke. Das Furchtbare an dieser Haß- und Fluchgewalt der Rede ist denn doch ihre Wahrheit, die in der Beziehung zur Wirklichkeit liegt: die ausschweifendste, gierigst suchende Phantasie des Würgengelvernichtungswillens kann keine Plagen ausmalen und wünschen, die mehr wären als Vervollständigung und eine Art systematische Ordnung der Schrecknisse, die in Natur und Menschenwelt da sind. Die Allegorie nimmt wieder eine neue Wendung. Nun, wo es sich herumgesprochen hat, daß zu Timon wieder Geld gerollt ist, bekommt er einen Besuch nach dem andern. Und so suchen ihn auch die Diebe auf. Die aber behandelt er mit Auszeichnung und erklärt sie im Gegensatz zu den andern, den sonst geachteten Klassen der Gesellschaft, für ehrliche Diebe; sie treiben ja das Stehlen als ihr erklärtes Handwerk: Ich weiß euch Dank, Daß ihr als Diebe euch bekennt, euer Treiben In frommen Schein nicht hüllt; Diebe sind alle, Zu welchem Stand sich jeder auch bekennt. Es ist ja, in der ganzen Natur, alles Dieberei: Sonne, Mond, Wasser und Erde, -- eins bestiehlt das andre. Aber -- wir kennen das Schema schon -- wie viel ärger ist’s gar unter den Menschen! Dieb ist alles: Selbst das Gesetz, das euch in Zaum und Fron legt, Übt straflos und in roher Willkür Diebstahl. Wir kennen das Schema schon: in der Tat, legt man den formalen Maßstab an, fragt man, ob das ein Drama sei, ob da Menschen, ob seelische Gewalten einander gegenübergestellt werden, so kommt man immer wieder darauf, daß hier nicht die Sprache dem Ereignis und das Ereignis dem Geheimnis des Innersten dient, sondern daß die Vorgänge ein Zubehör der Sprache sind; die dramatische Begleitung der Rede ist wie die ~Biblia pauperum~ Bildersprache. Sehen wir aber davon ab und wenden uns der geistigen Bedeutung der Erkenntnisse zu, die Shakespeare mit solchen Mitteln zum Ausdruck bringt, so ist zu sagen, daß Shakespeare hier mit klaren Worten und Begriffen die radikale Kritik unsrer auf dem Eigentum beruhenden Rechtsordnung, unsrer vom Rechtswesen gesicherten Eigentumsordnung, die sozialistische Kritik Proudhons und seinen zusammenfassenden Satz: Eigentum ist Diebstahl vorweggenommen hat. Und was so in Worten erklärt wurde, wird dann auch mit der Handlung illustriert, so daß wir als in einem Notwendigkeitszusammenhang die beiden sehr verschiedenen und doch, solange Menschen Menschen sind, zusammengehörigen Seiten der Anarchie beisammen haben: Timon beschenkt die Diebe reichlich und schickt sie, die nunmehr besser für ihr Handwerk ausgerüstet sind, nach Athen: Brecht Läden auf; ihr könnt nichts stehlen, was Ein Dieb nicht vorher stahl. Köstlich ist nun aber, und das beste Stückchen der Handlung, obwohl auch das nicht wahrhaft ins Menschliche verfolgt ist, sondern nur den Entwurf eines Menschentums anlegt, wie es hinter aller Berufsteilung des Lebens und Typenteilung der Komödie steckt, köstlich trotzdem und ein herrlicher Gipfel in der sozialen Erkenntnis, die hier stufenweise zu Wort kommt, wie Timons Reden und Geschenke auf die Diebe wirken: sie, die Ausgestoßenen, verstehen die Herkunft seines Menschenhasses, erkennen hinter all dem geifernden Grimm den reinen, edeln Idealismus, sie schämen sich und wollen ehrlich werden! Nun aber kommt der Mann zu Timon in die Einöde zu Gast, der von Anfang an treu und redlich gegen ihn war: Flavius, sein Hausverwalter. Der ist so traurig, daß er selber ganz nah am Menschenhaß ist: Wie herrlich das auf unsre Zeiten paßt, Wenn uns gelehrt wird: Liebt den, der euch haßt! Fürwahr, eh lieb ich meinen offnen Feind Als den, der feindlich ist und freundlich scheint. Da bekommen wir eine ganz überraschende, kecke Umdeutung des Christuswortes: Liebet eure Feinde; die neue, bissige Version lautet: Liebet jedenfalls eher die Feinde als die sogenannten Freunde! Die Keckheit beruht darin, daß formal das erhabene Gebot beibehalten ist: Liebt den, der euch haßt! daß aber doch fast eine Umkehrung daraus wird: Liebe ist Lüge; im Haß ist Wahrheit! Diesem Getreuen gegenüber wird Timon weich; ihn beschenkt er, weil er es verdient; nicht, um ihn mit dem Gold oder die Menschen mit seiner Hilfe zu verderben; aber er knüpft eine arge Bedingung an das Geschenk, das ohne sie auch widerspruchsvoll wäre: Bau’ von Menschen fern; Hass’ alle, fluche allen, tröste keinen! Flavius, der untergeordnete Angestellte, wird hier -- trotz der Erkenntnis, die Timon zu Wort gebracht hat, daß auch der Arme nichts taugt -- den unabhängigen Reichen so als besserer Mensch gegenübergestellt, wie die Diebe den Besitzern. Aber schon vorher konnten wir in der Dienerszene sehen, wie diese armen Domestiken alle treu und liebevoll zu Timon und zu einander hielten; wie sie fortwährend die liebreiche Anrede ~fellow~, Kamerad, untereinander austauschten; und Flavius, der sein Letztes unter ihnen geteilt hat, gründet unter ihnen eine Art Timon-Orden: Wo wir uns wiedersehn, laßt Timons halber Uns Kameraden sein. Auch das greift indessen nicht weiter in die Handlung ein: innerlich ist diesem Stück keine Entwicklung vergönnt. Äußerlich freilich, rhetorisch wieder, ist es ein famoser, glänzender Komödien-, noch besser gesagt, Anekdotenschluß, wie nun in der Reihe der Gäste die Senatoren kommen, um schamlos oder patriotisch in der Not des Vaterlandes den, der voll Ekel vor ihnen geflohen ist, gegen Alkibiades und sein Heer zu Hilfe zu rufen, wie er sie in langer Ironie täuscht und hinhält und ihnen ein Mittel, ein unfehlbares, verspricht, durch das sie aller Gefahr entrinnen können: Es wächst ein Baum in meinem Waldbezirk, Den nächstens ich zu eigenem Gebrauch Umhauen muß. Sagt’s meinen Freunden an, Sagt’s in Athen, in jeder Abstufung Vom ersten bis zum letzten: Wer da wünscht, Sein Leid zu enden, solcher komme spornstreichs Hierher, eh noch mein Baum die Axt gespürt, Und häng’ sich auf. -- Bestellt recht schönen Gruß. Wir wissen, das ist mehr als böser, plagender Spaß. Weltschmerz, ja, Weltwut äußert sich so, die keine andre Erlösung weiß, als dem Leben ein Ende zu machen. So ist es einer der stärksten dichterischen Züge dieses Stückes, daß Timon in diesen Worten, mit denen er den verachteten Athenern, die seinen Rat begehren, den Rat gibt, sich aufzuhängen -- so wie Shakespeares Coriolan sich den Römern gegenüber die Redensart angewöhnt hat: Hängt sie! --, daß Timon da ein paar Wörtchen einfließen läßt, in denen er seinen eignen Freitod ankündigt. Nächstens, sagt er, werde er den Baum, an dem er am liebsten die Athener gehängt sähe, zu eigenem Gebrauch umhauen müssen. Wir erfahren es bald, zu welchem Zweck: um sein Grab zu bauen. In seinen ungeheuren Gewaltreden hat er sich ganz ausgegeben; es gibt für ihn so wenig wie für die Tragödie, die von ihm handelt, einen innern Fortgang; er hat nichts mehr auf der Erde, nichts auf der Bühne zu suchen: er verkriecht sich und stirbt, ohne daß wir dabei sind, ohne daß der Dichter darauf ausgeht, uns mit diesem Sterben in der Verlassenheit menschlich zu erschüttern. Goethe hat schon recht: Molière, der große Komödiendichter, hat aus seinem Menschenfeind den Helden einer Tragödie, Shakespeare, der größte aller tragischen Dichter, hat aus Timon eine Molièrekomödie, allerdings mit Shakespearischer Sprachgewalt, gemacht, und Timons Tod sogar ist eine Art epigrammatisches Auftrumpfen, ein Komödienschluß. Von diesem Helden einer fast allegorisch zu nennenden, dramatisch nur eingekleideten vehementen Predigt, in der die Übergangsszenen der Handlung lässig und unlustig hingeworfen sind, von diesem Menschenfeind und Feind seines Volkes und von seiner Ergänzung Alkibiades, der den Krieg seinem eignen Volk ins Land trägt, gehen wir nun in der nächsten Betrachtung zu jenem andern Adelsmann über, der eben schon genannt wurde, zu dem Verbannten, Volksfeind und Kämpfer gegen sein Vaterland Coriolan. Wie anders wird der zuinnerst und in der Art, wie er steht und geht, lebendig werden als Timon; wie wird Coriolan ein Mann und ein Mensch sein, wo Timon ein Exempel ist; was werden ihn in mannigfaltiger Abstufung für Römer und Römerinnen umgeben gegen die Puppen von Athenern, die wir hier finden! Einmal noch, zum letzten Mal also, werden wir da den Shakespeare zu uns sprechen lassen, der uns mit der Geschichte der Seele die Seele der Geschichte gibt. Dann, nachher, wollen wir sehen, wie der Shakespeare, der die Moralität von den wunderbaren Reisen des Perikles und die Satire von Glanz und Wut Timons des Menschenfeindes gedichtet hat, auch in diesem Stil noch wieder aufwärts steigt zu reiner Höhe der Milde, der Heiterkeit, der Weisheit, in dem Drama von Imogen, im Wintermärchen, im Sturm. Die Märchen- und Meeres- und Sphärenmusik des Sturm klingt schon in den Reisen des Perikles an, wie auch Miranda in manchem an Marina, die Tochter des Perikles, erinnert; aber der letzte Aufwärtsweg, den wir mit Shakespeare machen, ist noch weit, so weit wie von der gequälten Wut Timons des Menschenfeindes zu der Überlegenheit Prosperos, der das innerste Grauen der Welt kennt und den unrettbar verworfenen Caliban im Urgrund der Welt und des Menschengeschlechts finden muß und dennoch, heiter in Düsterkeit, Ruhe und Liebe nicht aufgibt. Coriolan Coriolan ist das dritte und letzte Stück, das Shakespeare nach Plutarch aus der römischen Geschichte behandelt hat. Über die Zeit der Abfassung oder der ersten Aufführung liegt uns kein Bericht vor; auch sonst fehlen äußere Merkmale, aus denen etwas zu schließen wäre. Ich folge denen, die auf Grund der Sprache und der Verstechnik die Jahre zwischen 1608 und 1610 als Zeit der Abfassung annehmen: ich möchte glauben, daß Antonius und Cleopatra und auch Timon von Athen vorher gedichtet sind. Man könnte aber nicht leicht drei Stücke eines Verfassers nennen, die sich nach Aufbau, Stimmung, seelischer und poetischer Technik radikaler von einander unterschieden als diese; Shakespeare war gerade in seiner letzten Periode zu mehreren, sehr verschiedenen Darstellungsarten geneigt und war vielleicht jetzt mehr ein Suchender als je. Zu Plutarch steht Shakespeare bei diesem Stück eher noch freier als die beiden andern Male: wohl dankt er ihm viele Einzelzüge, folgt ihm auch im Aufbau der einen oder andern Rede; aber er nimmt Abweichungen wichtiger Art auch in der äußern Handlung, vor allem Zusammenziehungen vor. Die Vorgänge, die den Stoff der beiden Tragödien aus dem Beginn der Kaiserzeit lieferten, waren und sind ein Stück der eignen Geschichte auch unsrer Völker; es geht um Entscheidungen, die Shakespeares Zeitgenossen angingen, wie sie auch für uns noch bedeutend sind; der Krieg zwischen Römern und Volskern und alles, was damit zusammenhing, hat als äußerer Verlauf keine solche Aktualität; es kommt alles nur auf das geschichtliche Beispiel für immerdar wirksame Kräfte, Tendenzen und Gegensätze und auf das innere Leben der Gestalten an. Die spontane Lebendigkeit aber der inneren Antriebe, das Feuer, von dem diese Menschen erfüllt sind, das ist ebenso völlig auch diesmal Shakespeares Eigentum wie die geschichtliche Weite, zu der sich das Ereignis ausdehnt. Coriolan gehört zu den Stücken Shakespeares, die besonders sorgsam komponiert, straff gebaut, rund vollendet sind; keines übertrifft es in diesem Betracht; wenige, wie Macbeth und Othello, können ihm darin gleichkommen. Welch ein Abstand aber in jeder Hinsicht, wenn man von Timon kommt! Nicht einmal die Hauptperson ist da wahrhaft individualisiert und im Innersten ergriffen; die Nebengestalten aber sind allesamt schablonenhaft; der Timon zielt ganz auf das Wort, auf die Rede ab; große, herrliche Reden bringt wahrlich auch der Coriolan, aber alle stehen sie im Zusammenhang der ergreifenden, lebendigen Aktion und dienen der Erhellung der Seelen; und jede Gestalt bis zur kleinsten Nebenperson herunter ist individuell behandelt, und nun gar die Hauptgestalten! Neben Coriolan Menenius Agrippa, die beiden Volkstribunen, Tullus Aufidius der Volskerheld, Coriolans Mutter, seine Frau und das Volk. Eine sehr bezeichnende Abweichung Shakespeares von Plutarch bringt eine Bestätigung für etwas, was schon früher gesagt wurde, und deutet zugleich das Bereich, in das uns der Coriolan führt. Es hat wahrlich seinen tiefen Grund, warum die Natur einen zum Dichter und nicht zum Philosophen oder Forscher geschaffen hat. Ein Dichter, ein Dramatiker wie Shakespeare _kann_ sich nicht nur in die verschiedensten Naturen, Temperamente und Weltanschauungen einfühlen; er muß es, weil seine Natur ihre herrliche, stramme Sicherheit und Eindeutigkeit nicht in _einem_ System, sondern in einer Vielheit von Bildern findet; immer macht der Künstler aus der Not eine Tugend; und eben aus dieser Entbehrung an eng begrenzter Festigkeit macht der Dramatiker den Reichtum seiner Gestalten, Sphären und innern Verfassungen. Der Dichter lebt in Einem Himmel, der durch alle Reiche waltet; er kniet nicht vor Einem Gott. Diese Proteusnatur des Dichters bringt es mit sich, daß er mit einer Kraft und Eindringlichkeit, die nur von eigener Übereinstimmung zu kommen scheint, in das Denken und Fühlen eines Menschen eingeht, daß er ihn von innen gestaltet, als wäre er es selbst, daß er ganz mit ihm und in ihm ist, daß er dann aber wieder hinausschlüpft und ebenso untrennbar sich mit einem wesentlich andern zu decken scheint. Damit dünkt mich nun zusammenzuhängen, daß die Sphäre eines jeden der Stücke, gleichviel ob sie weit oder eng ist, in jedem Fall ihre begrenzte Bestimmtheit hat und in Abhängigkeit von dem Trieb oder der Weltanschauung der Person oder des Kreises von Personen steht, um die als Mitte das Stück sich bewegt. So finden wir in solchen Stücken, in deren Mitte die Macht steht, die als Gier zu herrschen und auch sonst als Lebensgier erscheint, als Sphäre eine wilde, ungezügelte Natur, Aufruhr und Gärung der Elemente, dämonisches Eingreifen der Schicksalsmächte, Zeichen und Wunder. So geht es im Macbeth zu, so auch im Lear und ebenso auch in den beiden Römerdramen, in denen der Republikanismus abgelöst wird von der Herrschgier, im Julius Cäsar und in Antonius und Cleopatra. Überaus bezeichnend aber, daß es in der besonderen Welt des Brutus nicht nur die Zeichen und Wunder des Cäsarismus nicht gibt, sondern daß auch der fürchterliche Wettersturm da nicht zu toben scheint; wir sind bei ihm in der furchtbaren Nacht in seinem Garten; aber wovon er auf Grund seiner Natur und seiner Situation nichts merkt, das umgibt auch uns nicht; und ein pedantisch aufmerksamer Regisseur könnte nichts Verkehrteres tun, als uns in dieser Fortsetzung der Nacht von dem Aufruhr aller Elemente, in dem wir eben bei Cassius auf der Straße waren und von dem nachher gleich Cäsar wieder ins Wanken gebracht wird, im Garten des Brutus das kleinste Donnerchen rollen zu lassen. Wovon ich hier spreche, geht aber positiv und negativ durch Shakespeares ganzes Werk: es ist völlig unmöglich, sich in solchen Stücken, in deren Mitte ein gemäßigter, gezügelter oder gar harmonischer Mann steht, wie zum Beispiel Heinrich IV. oder Heinrich V., um diesen Helden eine wilde Natur oder ein Eingreifen von Geistermächten zu denken. Welch ein Unterschied herrscht vielmehr im gesamten Ton, in der Stimmung, der Atmosphäre, wenn man die beiden Heinrichsdramen und ihre behaglichen, niederländischen Einlagen besonders der Falstaffszenen mit Richard III. und seinen schweren Träumen und Geistererscheinungen vergleicht. Ich übersehe nicht, daß Richard III. noch der Jugendperiode und der Abhängigkeit von Marlowe und ähnlichen Gewalttätigen angehört; aber ich will ja nur zeigen, warum solche begleitende Elementarstimmung in den Heinrichsdramen nicht sein kann. Warum aber im Lear das Wetter tobt, im Hamlet das Gespenst erscheint, im Julius Cäsar Zeichen und Wunder geschehen und in Antonius und Cleopatra Herkules der Gott unterirdische Musik machen darf, all dieses Elementare und Dämonische steht in Zusammenhang mit den Elementartrieben und dämonischen Leidenschaften, um die das Stück sich dreht; Hamlet, in dessen Weltanschauung und Neigung, das Leben zu führen, die Wiederkunft und das handelnde Eingreifen eines Gestorbenen ursprünglich so wenig paßt wie in die Horatios, hätte das Gespenst nie mit Augen gesehen, wenn er nicht der Erbe eines Geschlechts der Wut wäre, wenn er nicht im Dunstkreis seines Oheims stünde. Wenn dem aber so ist, können wir, was im Verlauf dieser Vorträge zu Shakespeares Weltanschauung gesagt worden ist, noch um eine Stufe fortzuführen versuchen. Es ist gesagt worden, es gehe nicht leicht an, aus den Dramen Schlüsse auf Shakespeares Religion, Philosophie und Naturbetrachtung zu ziehen, weil nicht nur die Äußerungen der Personen, so sentenziös und überzeugt sie auch herauskommen mögen, von ihrem Charakter und ihrer Aufgabe im Stück, sondern sogar die Naturelemente, die Kräfte, die Geister, die der Dichter selbst leibhaft vorführt, von der innern Beschaffenheit der jeweils in dem Stück zentralen Personen, also wiederum nicht von den Gedanken des Dichters abhängen. Es ist dann weiter versucht worden zu sagen, der Dichter mit seiner Künstlernatur sei Weltanschauungen gegenüber sehr labil, er könne darum seine Menschen so fest, so innig an einem Glauben oder einer Auffassung hängen lassen, weil für ihn, dem alles zum Gleichnis und Bilde wird, an jeder lebendig ergriffenen Deutung der Welt etwas Wahres sei. Wenn es indessen so ist, daß Hexen, Naturdämonen, Gespenster, Zeichen und Wunder von Shakespeare immer nur als gemäßer Ausdruck in solche Stücke aufgenommen werden, in deren Mitte Menschen der Gier, des wilden Triebs, der Genuß- und Machtaffekte stehen, daß er dagegen Menschen, die er mit besonderer Liebe behandelte und denen er als die Triebe beherrschende hohe Kraft Vernunft, Gemeinsinn, Gerechtigkeit, Maß, Harmonie mitgab, in einer unsrer Naturanschauung entsprechenden heitern, stillen und wunderlosen Welt leben ließ, so ist das am Ende, besonders wenn wir dazu nehmen, daß in seinen subjektiven Äußerungen in den Sonetten nur offenbares Spiel mit mythologischen Vorstellungen, aber keinerlei Befangenheit in Dämonen- und Vorbedeutungsglauben vorkommt, ein Kriterium dafür, daß die Vernunftüberlegung Shakespeares so rationalistisch war wie die Anschauungen etwa Horatios und Bruder Lorenzos. Man wird einwenden wollen, ob so ein Motiv der Naturdämonie verwendet werde oder nicht, sei in erster Linie von dem in den Quellen überlieferten Stoff abhängig. Aber gerade darauf will ich ja hinaus. Diesmal nämlich ist es nicht so. Der gesprächige und etwas wohlweise Plutarch berichtet in der Biographie Coriolans genau so wie in der Cäsars und Antonius’ von Zeichen und Wundern; aber dieser ganzen Überlieferung von schreckhaften Vorbedeutungen, Wahrträumen und Wahrsagern schenkt Shakespeare diesmal keine Beachtung. Nichts von dieser Atmosphäre kann er für dieses Rom und für diesen Römer brauchen. Wir sind nicht in der gärenden Zersetzung der Republik, sondern in ihrer Frühzeit; und die Seele Coriolans ist von nichts weniger erfüllt als von Machtgier. Das klingt nun vielleicht erstaunlich; man wird sagen wollen: er sei aber doch der Typus des Aristokraten, des Adligen, des Herrschenden; er sei doch der Führer in dem Kampf des Adels gegen das Volk, der Patrizier gegen die Plebejer; und bei all diesem Streit zwischen Kleinen und Großen, Volkstribunen und Senatoren drehe sich alles um die Macht. Man darf sich aber von Worten, die für sehr verschiedene Sachen gleich lauten, nicht verführen lassen. Das Spezifische, das ich hier Macht nenne, ist eine Selbstherrlichkeit, die alles von sich abzuleiten und auf sich zu beziehen geneigt ist, ist ein Absolutismus, der mit dem Gefühl der Majestät, der Gottähnlichkeit, des Übermenschentums oder aber mit dem wild dämonischen, verzehrend teuflischen Drang der Niedrigkeit, Herr zu sein, verbunden ist, und das gibt es nur in der Form der Tyrannei, der unumschränkten Königsgewalt. Hier bei Coriolan aber sind wir in einer ganz andern Welt, eben in der, deren Idee Brutus noch rein in sich fand und für die Umwelt wiederherstellen wollte: in der ständisch gegliederten, ritterlichen Republik. In dieser römischen Stadtrepublik, die nur erst einen kleinen Teil des benachbarten Landes in ihr Bereich eingezogen hat, herrscht in noch engerem Bezirk dieselbe Staatsverfassung, dasselbe Staatsideal, wie es Shakespeares Ulysses für die frühe griechische Welt aufgestellt hatte, und wie es ganz ähnlich in der Welt des ritterlichen Königs, zu dem Prinz Heinz geworden ist, Heinrichs V. gilt: Denn wie kann ein Verein, Der Schulen Stufen, Brüderschaft in Städten, Ein friedlicher Verkehr entfernter Küsten, Das Erstgeburts_recht_, _Pflichten_ der Geburt, Vorrecht des Alters, Thrones, Zepters, Lorbeers An ihrer rechten Stelle anders stehen Als durch die _Gliederung_? So hatten wir’s von Ulysses für kleine Königreiche gehört, in denen Rangordnung, Gliederung, ständische Verfassung herrscht und sie so der Republik nicht minder annähert, wie andrerseits die aristokratische Republik im frühen Rom die Ordnung und Sicherheit gewährte, die man gern als Vorzug der Monarchie bezeichnet. Und von Ulysses hören wir in derselben großen Rede zweierlei über die Auflösung von ständischer Gliederung und Ordnung. Einmal gerade das nämliche, was wir jetzt eben über den Zusammenhang von Naturdämonie und Machtwillkür bei Shakespeare wahrgenommen haben: Irren In unheilvoller Kreuzung die Planeten, Welch Schreckenszeichen dann, welch Seuchen, Gärung, Welch Erderschütterungen, Meerestoben, Aufruhr der Luft, Umsturz, Entsetzen, Graus Zerteilt, zerreißt, erschüttert und entwurzelt Jedweden Zustand eheruhigen Friedens Bis auf den Grund! Wenn Stufenordnung wankte, Zu jedem hohen Ziel die einzige Leiter, Dann krankt die Unternehmung! In warnender Rede also, die ihren prophetisch eindringlichen Ton gewiß nicht bloß von der Lage der Griechen vor Troja nimmt, stellt Ulysses die Auflösung des organisch Gegliederten ins wüst Elementare zusammen mit unheilvollen Naturkatastrophen derselben Herkunft. Dann aber fährt er unmittelbar fort und stellt den Zusammenhang her zwischen der Auflösung der festgegliederten, sich gegenseitig auspendelnden Ordnung und der Willkürgewalt der Despotennatur: Nimm Gliedrung weg, mach’ diese Saite stumm, Und ach, welch Mißton folgt! Die Dinge stoßen In ew’gem Streite sich: es schwillt der Busen Der eingedämmten Flut, des Strandes spottend, Bis sie dies feste Rund auflöst in Schlamm; Zum Herrn der Schwäche wirft sich auf die Kraft; Der rohe Sohn schlägt seinen Vater tot; Gewalt wird Recht, nein, vielmehr: Recht und Unrecht -- Die ew’gen Feinde, von Gerechtigkeit Beherrscht -- verlieren samt der Herrscherin Dann ihren Namen. Alles wird Gewalt, Gewalt wird Willkür, Willkür zur Begier, Und die Begier, ein allgemeiner Wolf Mit ihrem Dienerpaar Gewalt und Willkür, Nährt sich vom allgemeinen Raub und frißt Zuletzt sich selbst auf. Es war nötig und gut, daß wir diese entscheidende Stelle, in der Ulysses das politische Gewalthabertum auf die Seelenverfassung des gierigen Einzelmenschen und diese wiederum auf die Auflösung einer festgegliederten Ordnung der Gegenseitigkeit zurückführt und so die Gemeinschaft oder Wechselwirkung feststellt, in der sich öffentliche Zustände und inneres Leben der Individuen immerzu einander bedingend und steigernd bewegen, hier noch einmal vernahmen. Denn die Warnung, sofern sie nicht vor Troja, sondern vor den europäischen Völkern zu Beginn des 17. Jahrhunderts ausgesprochen wurde, hat nichts verhütet, hat nur vorausgekündet; der Prophet hat in den Wind gesprochen, dessen Wehen er schon spürte, und der Wind ist zum Sturm geworden. Und wir heutigen Tags sind an den so vorausgesagten Zustand der Auflösung, in dem wir seit langem darin sind, derart gewöhnt, daß wir uns erst historisch zurückversetzen müssen in eine Zeit, wo das, was heute spukender, zerfetzter Rest und dabei Willkürgewalt ist, in seiner Gesundheit, seinem Rechte und seinem Amte stand, in eine Zeit, wo Adel und Rittertum ihre Aufgabe der Landesverteidigung und des Regiments mit gutem Gewissen als Recht und als Pflicht betrachteten. Nichts ist uns heute selbstverständlicher als die Forderung oder demokratische Tatsache, daß der Bauer, der Handwerker, der Arbeitsmann seine Arbeit und private Muße abbricht, um sich über Gesetzgebung, Verordnungen, Verhandlungen aller Art erst zu unterrichten und dann zu beraten und schlüssig zu machen; wir denken gar nicht daran, daß dieser Zustand, in dem die Angelegenheiten des Gemeinwesens nicht besonders Berufenen, Geschulten, Geübten anvertraut bleiben, sondern dem allgemeinen Dilettantismus überlassen sind, daher kommen könnte, daß die Erben der einst Berufenen des Vertrauens unwürdige Usurpatoren und dazu noch Pfuscher geworden sind. Shakespeare aber lebt, äußerlich schon am Rande, seiner Gesinnung nach noch inmitten dieser Welt der ständischen Ordnung, so wie selbst Goethe zwar an und sogar hinter ihrem Ende, aber für sein Wollen und Denken noch und schon wieder in ihr gelebt hat. Und in dieser Welt der ständischen Ordnung, eines Vorrechts, das nicht ein Privileg mit dem Stempel des Unrechts, sondern ein Rang mit der Aufgabe der Lenkung und Führung war, lebt Coriolan, im Kampf gegen die Tendenzen der Auflösung. Sehen wir uns seine politische Ethik, seine Anschauung vom Verhältnis der Individuen zur Gemeinschaft, von der Aufgabe des Adels zunächst an. Und zugleich damit seine und seiner Freunde Stellung zum niedern Volk, zu den Massen der einzelnen. Denn dies vor allem: es geht um ein Ganzes, das ist die Polis, die Politeia, die Stadt, der Staat; die Massen aber sind einzelne, die wild durcheinander wimmeln und toben und einander auffressen würden, wenn nicht das Regiment wäre, das sie zusammenhält und einem Ziele zulenkt. In dieser Zeit, wo das patrizische Regiment von der Auflösung bedroht ist und sich zur Wehr setzen muß, besteht ihm die Menge aus lauter Vertretern des Typus, der nicht herrschen _kann_ Und nicht gehorchen _will_. Man kann es etwa auch so ausdrücken: die Machtgierigen, die Tyrannen und Usurpatoren, zu denen Coriolanus keineswegs gehört, betrachten sich als Gottähnliche, als Übermenschen; Coriolan sieht sich und die echten Adligen als eigentliche, rechte Menschen an; die Massen, die weder Klarheit der Einsicht noch Bestimmtheit des Willens haben, sind für ihn Menschen wohl in ihrem Haus und Handwerk -- da achtet er sie durchaus --, aber nicht im Staat; von dem verstehen sie nichts und sollen sich also auch nicht drum kümmern, weil sonst die Auflösung, mit ihr die Gier und die Tyrannei der Willkür kommt. In dieser Rolle der Führenden, Regierenden, Befehlenden, der Vormünder für Unmündige -- unmündig nur in Sachen des Gemeinwesens, das in hoher Sonderung für sich verwaltet sein muß, nicht in die private Ökonomie und den Werkeltag biederer Handwerker vermantscht werden darf -- hat dieser Adel ein gutes Gewissen, soll es haben, so beschwört sie Coriolan. Ordnung und Unterordnung muß sein: Seid ihr gelehrt, Tut nicht wie blöde Toren; seid ihr’s nicht, Setzt _sie_ [die Plebejer] auf Polstern euch zur Seit’! _Ihr_ seid Plebejer, Wenn Senatoren sie... Der Staat muß einheitlich sein; er muß die Macht haben, das Gute und Rechte zu tun. Jetzt aber, wo die Patrizier den Plebejern Rechte eingeräumt haben, sie am Staatsleben teilnehmen lassen, sieht er Schlimmes voraus; es besteht eine Doppelherrschaft, Wo stolz ein Teil mit Grund, frech ohne Recht Der andere; wo Klugheit, Rang, Geburt Nichts machen kann, als nach dem Ja und Nein Des unverständ’gen Schwarms... Demgegenüber verfechten die Volkstribunen die modern demokratischen Ideen; für sie ist das Ganze nichts andres als die Summe der einzelnen, und das Staatswohl identisch mit dem Wohl der Massen. Dagegen aber empört sich gerade die Staatsgesinnung; und in der Tat, wäre Rom -- die Stadt -- wäre sie Rom geworden, das gewaltige römische Reich, das heute noch lebt in all unsern Staaten, in allen, gleichviel wie sie heißen, wenn es zu irgend einer Zeit nur oder hauptsächlich auf das Wohl der gerade lebenden einzelnen in den Massen angekommen wäre? Auf diese Demokratenfrage Was ist die Stadt sonst als das Volk? erwidert darum auch der Konsul Cominius, Coriolans Freund und Parteigenosse: Das ist der Weg, zu schleifen unsre Stadt, Das Dach herabzubringen an den Grund Und alles, was noch Rang hat, zu begraben In aufgehäuften Trümmern. Nein, so empfinden sie alle, diese Ritter, Adligen, Vornehmen, nein, das ist nicht der Zweck des Lebens, nicht die Bestimmung ihrer heiligen Stadt, lediglich die Masse, das „Tier mit vielen Häuptern“, zu ernähren und zu befriedigen. Sie, die Adligen, sie haben ihre besondere Bildung, Ausbildung, Lebensart, sie haben Muße; sie bleiben für Ehe und Nachkommenschaft streng innerhalb ihres Standes; auf den Wegen der Natur und der Gesellschaft sind sie Auslese geworden: darum sind sie die von Geburt Vornehmen, Ausgenommenen, privilegiert nicht zum Genuß, sondern, wohl auch vom Genuß des Lebens her, privilegiert zu ihrer Aufgabe. Was Nietzsche, von Jakob Burckhardt geleitet, in der Renaissance -- Shakespeares Zeitalter noch -- gefunden hat und was er darum und sowieso in der Form der Vermischung von Adelsordnung und ausbrechender Willkürtyrannei brachte, das hätte er nirgends in so reiner, vollendeter Gestalt finden können wie in diesem aristokratisch-republikanischen Drama Shakespeares. Wohl aber zu beachten: das ist Coriolan, ist der vollendete Typus des Adelsideals, es ist nicht, nicht ganz und gar Shakespeare. Wir haben in dem schimmernden Ritterkönig Heinrich V. eine nach Gesinnung und Stellung ähnliche Gestalt gesehen, der Shakespeares Bewunderung und Wunsch freilich wohl auch am nächsten stand; aber aus Sehnsucht -- für sich und die Menschheit -- baut der Dichter die Gestalten, an denen sein Herz hängt und die uns zu Mahnern aus großer Zeit, zu Führern oder zum Ziele auf unserm Wege zu werden vermögen; er baut damit auch an seinem Leben, seiner Wandlung, seinem Sichfinden; was alles jedoch in der Unendlichkeit der Vorwelt und Umwelt hat schon früher entscheidend an ihm, dem Menschen, der so dichtet, gebaut? So lebt in Shakespeare auch schon das Neue, die Gärung, die Zersetzung; sonst hätte er nie einen Hamlet schreiben können, die Tragödie dieses Prinzen, der die gesunkene und in Stücke gebrochene Ordnungswelt weder einzurenken noch zu lenken vermag, sie aber, gleich uns andern Plebejern, drunten oder abseits scharf und erschütternd kritisieren muß und darf. Shakespeares Kunst -- o nein, das ist nicht bloß Kunst, die unvergleichliche Größe seiner Persönlichkeit ist, daß er jedesmal in jedem Drama um seinen Helden herum eine solche Sphäre der Sicherheit, eine so weltweite Atmosphäre, die von seinem, dieses Helden Wesen ganz gesättigt ist, legt, daß wir lange keinen andern Atem schöpfen als die Luft dieses Wesens. In der Welt Coriolans vergessen wir alles, was heutigen Tags auch noch solche Namen führt wie Adel, Herrenkaste, Kriegertum, Staat; wir vergessen, daß inzwischen die Auflösung, die Coriolan bekämpft hat, so Herr geworden ist, daß sie Besitz von allen, auch von unsern Hirnen ergriffen hat; wir vergessen, daß heutigen Tags die Losungen, die einstmals bindende und im Keil vorwärts führende Wahrheit gewesen sind, wir vergessen, daß dieser herrliche Wahn inzwischen zu Gewaltdruck, Gierverkleidung und Lüge geworden ist; wir vergessen die Durchgangszeit, welche die unsre ist; vergessen, daß wir so auseinandergefallen, so in Rückfall geraten sind, daß unsre Verneinungen das einzig Positive sind, das wir haben, und daß darum kein Staat uns mehr einen Geist, dem wir uns fügen, vorstellt, der irgend ein Ziel gegen das Wohl der einzelnen verfolgt; wir vergessen die Zeit und den Tag; all das Trompetengeschmetter, all der soldatisch-kriegerische Adel jener Welt ist uns nicht eine Erinnerung an Äußerliches, das heute in der Welt just noch ein bißchen herrschen will und bei seinem gewaltigen Todesgetöse sich mit den heiligen Worten und Geschmeiden längst vergangener wahrer Geltung ziert: diese aggressive Lust ist uns ein Sinnbild alles Großen, Gebietenden, Tapfern, Edeln in unsern Seelen, das sich inzwischen in ganz andern Gebieten angesiedelt hat, so daß es geschehen mag, daß unser Herz bei Coriolans Kriegsrufen jauchzt, weil dabei die Saiten mitschwingen, auf denen wir bereit sind, tapfer in starken Tönen das Lied von der Friedensordnung der Menschheit und der endgültigen Vernichtung aller feudalen Reste zu spielen. So bannt uns Shakespeare in den Geist hinein, der sein Drama vom Helden aus erfüllt, und wenn wir ganz drin sind, kann es kommen, kommt es auch bei diesem Stück, daß irgendwo drunten eine ganz andre, eine entgegengesetzte Gesinnung und Menschenart so erschütternd für einen Augenblick ihre Lage und ihre Seele ausspricht, daß über all unsrer ruhig-gesicherten Festigkeit wieder wogend die Allseitigkeit, die Beidseitigkeit, der Übergang und die Auflösung zusammenschlägt. Und sehen wir uns dann, wenn auf einen stolzen Gipfel, den der Dichter gebaut hat, ein Gipfelchen fast mitleidig und verachtend herabblickt, das auch dieser Dichter gebaut hat und das er auch gelten lassen will, sehen wir uns nach diesem Dichter dann nochmals um und wollen versuchen, den Dramatiker, der so erstaunlich gerecht zu sein vermag, zu verstehen, so wissen wir nicht, ob wir diese Gabe harte Stärke oder weiche Schmiegsamkeit nennen sollen; es wird eine weiche, wandelbare, allem leicht hingegebene und von allem gefärbte Seele sein, der die Ausdrucksgewalt eines starken Geistes dient. Einer aus dem Herrengeschlecht und der Kriegerkaste also ist der Mann, der Coriolan heißen wird; er hat die Eigenschaften, um derentwillen er sich und seinesgleichen als Geschlecht der Regierenden berufen fühlt, die typischen Eigenschaften, die ihn zum Führenden bestimmen; dazu aber noch die besonderen, die ihn zum tragischen Sturze bringen. Die Bürger und Volkstribunen, die von ihm reden, haben die Allgemeinempfindung, daß er ihnen unerträglich zur Last sei; „er hat der Fehler mehr als zuviel“, ruft einer, als man ihn auffordert, sie zu nennen; er weiß ihrer keinen als immer den einen: Stolz. Das merkt jeder gleich: stolz über die Maßen ist dieser Mann. Ja, das ist er; aber er hat auch die nötige Ergänzung: einen Stolz, der kein Lob hören kann, der bescheiden ist; denn den Stolz und seinen Grund hält Coriolan für Eigenschaften jedes echten Menschen; eine Sprödigkeit hat er, die mädchenhaft ist wie die Cordelias, der Adelstochter. Und ein andrer Bürger, der ihm wohlgesinnt ist, erwidert ein nachdenkliches Wort: Was ihm nun einmal so im Blut liegt, daraus macht ihr ihm ein Laster. ~What he cannot help in his nature~...: er ist nichts Nachträgliches, nichts Aufgeklebtes, dieser Stolz, ist kein Zierat: er kann’s nicht ändern, es ist so seine Natur: seine Selbstverständlichkeit und Notwendigkeit. Er ist, wie er öfter von Freunden und Bewunderern angeredet wird, „ein edles Blut“. Im Krieg, der in der Zeit des Rittertums, in der wir hier stehen, ein anderes Ding war, als was sich heute in der Zeit der Technik so nennt, zeigt sich sein Adel besonders. Er kann befehlen und Menschen in Mengen in Kampf und Tod treiben, er kann die Plebejer als feige Memmen verachten, weil er selbst jeden Augenblick, von nichts getrieben als von seiner Tapferkeit, die ihm Natur ist, bereit ist, das Leben fürs Vaterland zu wagen. Allein, ohne daß die Truppen ihm folgen, und ohne daß er fragt, ob sie ihm folgen, dringt er den Feinden nach in die Festung Corioli; das Tor wird hinter ihm geschlossen, aber er, allein unter Feinden, schlägt sich durch und hält sich, bis die andern nachkommen. Und er ist kein homerischer Held, an dessen Seite unsichtbar oder sichtbar in der größten Gefahr die Götter kämpfen; kein Siegfried, der von Drachenblut eine unverwundbare Hornhaut hat; es geht alles ganz menschlich zu: er ist ein Held von Natur, der die Kultur und die Gesinnung seiner Natur hat. Wenn er nicht von Zorn und Heftigkeit, die seine Erbfehler sind, übermannt ist, hat er etwas sehr angenehm Urbanes an sich; sein Heldentum hat gar nichts ländlich Ungeschlachtes, Raufboldiges, sein Kämpfen steht immer mit seiner Gesinnung in Verbindung; immer lebt die Urbs, die Stadt Rom in ihm. Wie er dann seine Soldaten in kurzer, feuriger Ansprache auffordert, ihm in den Kampf zu folgen, da faßt er wohlgesetzt zusammen, was sein ritterliches Wesen ausmacht. Der soll ihm folgen, der glaubt, Ein edler Tod wieg’ auf ein ruhmlos Leben Und höher hält sein Vaterland als sich. Man fürchtet wohl manchmal, solche Gesinnung der Todbereitschaft, der völligen Unterordnung der Person unter ein überindividuelles Gebilde, unter eine Zusammenraffung, einen schimmernden Namen wie die Nation, raube dem Menschen die Individualität und mache ihn zu einem bloßen Teilchen. Mag sein, daß die Zeiten sich geändert haben: noch wahrscheinlicher, daß es Ausnahmemenschen und Dutzendmenschen allezeit gegeben hat und daß man gar wohl zwischen dem inneren Zwang, der Freiheit ist, Freiheit nicht nur der eigenen Entscheidung, sondern auch des Denkens, und jener kläglichen Unterordnung unter eine von Jugend auf eingetrichterte Losung unterscheiden muß, die mit Unfähigkeit zu eigenem Denken und eigener Entscheidung und mit Unkenntnis der Tatsachen, mit abergläubischer Geducktheit und dem Schlendrian des unabänderlichen Heute wie immer in genauer Verbindung steht. Coriolan jedenfalls zieht seine tapfere Todesverachtung im Gegenteil aus seinem stolzen, eifersüchtigen Individualismus. Ganz wirft er, wenn’s sein soll, das Leben hin, gerade weil er, solange er lebt, auf seine Selbständigkeit und Eigenheit bedacht ist, so sehr, daß er einen Zug seines Wesens bezeichnet, wenn er einmal ausruft: Ich wäre lieber Knecht nach meiner Art Als Herr mit ihnen nach der ihren. Aufgerufen sein, frei über sein Leben zu verfügen, kann nur der Freie. Aber das ist ein sehr kompliziertes Verhältnis, diese Beziehung des Individuums zur Gemeinschaft, wo man dem Ganzen nur richtig dient, wenn man ganz ein eigenes Selbst, wenn man ein Ganzer ist; und wo man wiederum ein Eigener nur ist, wenn man ganz in der Sache aufgeht, unverbrüchlich sachlich ist; und sachlich heißt: hingegeben bis zur Vernichtung. Coriolan weiß das, weiß, daß durch ihn hindurch die Sache wirkt; daß sie aber den Weg durch ihn nur recht nimmt, wenn er zusammengerafft, abgesondert, stolz er selbst ist; ist aber dann die Tat, die die Sache gewollt und durch ihn getan hat, vorbei, will der Gedanke, das Wort, die Lobrede sie an ihn, der das erkorene Werkzeug war, ankleben, dann empfindet er das, als nehme man ihn nicht für voll, als halte man es doch für eine Art Zufall, was er getan und was er am Ende auch hätte lassen können; als rühre man seine tiefe Verbundenheit mit der Sache auseinander; er wird rot, er läuft weg: Eh’r lass’ ich mir den Kopf kraun an der Sonne, Wenn man zum Angriff bläst, als müßig hören, Wie man mein Nichts zum Wunder schwellt. Lohn oder besondern Anteil an der Beute schlägt er aus; nichts der Art freut ihn; das aber erquickt ihn, daß seine Tat ihm einen Namen gemacht hat und daß er jetzt zugleich nach sich und der Sache heißt, Cajus Marcius nicht mehr allein, sondern Cajus Marcius Coriolanus. Seine Verachtung gegen die Plebejer hängt auch zusammen mit der Abneigung seiner Natur gegen jeden Schachersinn, jede Kleinlichkeit und Erwerbsgier. Zumal, wenn dieser niedrige Erwerbssinn sich auf dem Gebiet der Ritterlichkeit, im Kriege zeigt, wenn die römischen Plebejer, als Soldaten nur wie maskiert, den Kampf unterbrechen, um gierig Beute zu machen, bricht sein Zorn los. Die Beute stieß er weg Und sah auf Kleinodien, als wären sie Verworfner Unrat. Weniger begehrt er, Als Geiz selbst gäbe; Lohn genug der Tat Hat er am Tun... Die Senatoren, der Konsul Cominius, der kluge Menenius Agrippa, sie alle da oben sind ganz seiner Gesinnung; aber sie haben nicht seine unnachgiebige Natur; sie sehen, wie die Zeiten sich gewandelt haben, sehen wohl gar ein gewisses Recht auch auf der andern Seite, so sind sie politisch, bedächtig, manchmal fast -- so dünkt es ihn -- feige. Er aber -- seine Mutter sagt es, die ihn am besten kennt, weil sie ihm am meisten gleicht --, er will und muß die soldatisch kriegerischen Tugenden auch auf die Dinge des Friedens, der Politik übertragen; er ist immer geradeheraus, offen, rücksichtslos: Sein Wesen ist zu edel für die Welt, meint der alte Menenius, Sein Herz ist auch sein Mund, Was seine Brust denkt, sagt die Zung’ heraus, Und aufgebracht vergißt er, daß er je Den Namen Tod gehört. Im Kampf ist er sofort der Führer, weil er eben der Vorderste ist; er ist von Natur der Fürst, wie eins die erste Zahl ist, aus der sich alle andern kumulieren; und wie der First das Oberste vom Haus ist, weil er nicht drunten sein kann, so ist er der Oberst, wenn’s auf tapfre Tat ankommt; er denkt gar nicht daran, ob man ihn auch formell zum Feldherrn ernannt hat. So hat er im Krieg gegen die Volsker seine Vorgesetzten und ehrt sie; wo’s aber das Einsetzen der Person gilt, da ist er der erste, gleichviel, welchen Titel er führt und wo er zu Anfang stand. Daß das aber so ist, daß die andern, die zu ihm gehören und seinesgleichen sein sollten, es nicht sind, das weiß er wohl; er kann es nicht übersehen; sachlich ist er bescheiden, unsachlich wüßte er nicht, warum, und zeigt den ungescheutesten Stolz und Anspruch. Er weiß, daß er der Edelste in Rom ist; er ist der echte Vertreter des jetzt bedrohten Adels, er ist der berufene Führer der Gemeinschaft. Gar keinen unedeln, persönlichen Trieb hat er, wenn er in großartiger Haltung und Selbstverständlichkeit sich seiner Aufgabe nicht entziehen und also Consul der Republik werden will. Und da fängt er an, sich selbst untreu zu werden, sich gegen seine Natur zu vergehen. Die Situation ist so, daß seine Natur die Stellung, die sie zu ihrem Wirken in der Welt braucht, nur erlangen kann, wenn sie nicht ist, was sie ist. Für ihn, der keine Anpassung, keine Klugheit und Berechnung kennt, gibt es den Grundsatz nicht: Der Zweck heiligt die Mittel. Womit gesagt ist: er ist kein Politiker, wie es sein alter Freund Menenius Agrippa, wie es auch seine starkgeistige Mutter Volumnia ist, die es in einer andern Mischung der Gaben vermag, hoheitsvoll und doch klug zu sein. Der Consul muß gewählt werden, und der Kandidat hat ein gewisses Zeremoniell zu erfüllen. Unter äußerster Selbstüberwindung fügt er sich dem Brauch, die Bürger um ihre Stimmen zu bitten, ihnen gar seine Narben zu zeigen; denn nur der kann Consul werden in diesem Kriegerstaat, der dem Vaterland im Krieg mit persönlicher Tapferkeit gedient hat; und wer’s werden will, muß sich persönlich zu dem Volk bemühen, das auch einmal etwas vom Herrentum schmecken will. Sein Werben aber, seine Wahlreden klingen mehr wie knirschender Hohn als wie ein demütiges Bitten. Zwei stehen ihm immerzu gegenüber, deren persönliche Berufung so wenig wie ihre Amtsbefugnis er anzuerkennen vermag; die beiden Volkstribunen, die der Individualisierungskünstler Shakespeare genau so ununterscheidbar paarweise auftreten läßt, wie Rosenkranz und Güldenstern, die Höflinge mit den deutschen Namen, im Hamlet; und beide Male zeigt dieses Verhältnis des Einzigen zum Paarigen die Stellung des Genies gegenüber der Herde: denn Coriolan ist ein Genie der Tat, wie Hamlet eines der grübelnd bohrenden Phantasie; alle beide sind Repräsentanten der Vornehmheit, der adligen Seele, die in dieser Welt vereinsamt ist. Wie aber Hamlet bei all der Vornehmheit seiner Natur mit Polemik, Bosheit, derbem oder stechendem Witz, hie und da sogar mit Zoten gegen die Welt reagieren muß, so kocht es in Coriolans adliger Seele immer über, und wenn er nach Rom auf die Straßen muß, läuft er mit rotem Kopf und Zorn herum. Er ist grob und er schimpft über die Maßen. Wie die andern Patrizier sich nur so anpassen können, begreift er nicht. Da fehlt es in Rom an Korn, die Plebejer treten in Aufruhr und geben den Patriziern die Schuld. Menenius Agrippa ist erfolgreich daran, sie mit einer sinnreichen Parabel zu beruhigen; er redet dabei recht vorsichtig und in liebevollem Ton mit ihnen, nennt sie Landsleute, Bürger, Nachbarn, liebe Freunde; daß er freilich innerlich nicht anders über sie denkt wie Marcius, merkt man in dem Augenblick, wo er den Schritt des Kühnen auf dem Pflaster hört; da fängt er auf einmal an, mit Wicht und Lumpenhund um sich zu werfen. Nicht zu leugnen, daß das der Ton ist, auf den Cajus Marcius seit langem seinen Umgang mit den Leuten gestimmt hat. Er fühlt sich gehaßt, und er macht es nicht wie jener General, der nach der Besichtigung und Kritik sich von den stumm sich verbeugenden Offizieren mit den Worten verabschiedet: „Mich auch“ -- er redet deutlicher. „Hängt sie!“ hat er sich so als Redensart angewöhnt, wie andre „Na ja“ sagen; und im übrigen nennt er sie Hunde. Fast das Herz will es ihm brechen, wie man, um ihren Aufruhr zu unterdrücken, ihnen eine ihrer Hauptforderungen zugesteht und ihnen die Volkstribunen bewilligt, die sie als Vertreter ihrer Interessen selbst wählen dürfen. Fünf sind sie an Zahl; der kluge Dichter läßt immer nur das Paar auftreten. Mit dieser neuen Einrichtung ist ihm das Vaterland und die alte Verfassung entscheidend von innen bedroht. Aber wie er so herumläuft und wütet, bekommen wir den Eindruck: gäb’s keine triftigen Gründe für seinen Zorn, er müßte sie sich schaffen, solange sich seiner Angriffslust kein Ziel bietet; er braucht die große Tat; der Krieg um Corioli war darum wie eine Erlösung für ihn. Wie er nun das Vaterland gerettet hat und als Coriolanus, mit dem Eichenkranz gekrönt, zurückkehrt, da merkt auch das römische Volk, da merken selbst seine ärgsten Feinde, daß das nicht der eigentliche Marcius war, der Mann, der wie ein ärgerlicher Wüterich, wie ein nach Taten hungriger Wolf mit starken Schritten zornig über ihre Straßen gegangen war. Jetzt tritt er auf, wie einer der Volkstribunen zugestehn muß, Als hätt’ der Gott, sein Lenker, wer’s auch sei, Sich leis’ in seine Menschheit eingeschlichen Und gäb’ ihm edle Hoheit. Und wie nun das römische Volk, das von furchtbaren Ängsten befreit ist, in ihm nicht mehr den Feind, sondern den Retter und berufenen Führer erblickt, wie sie ihn als ihren populärsten Mann beim Einzug umjubeln, davon, da solche Szene in ihrem innern Wert auf der Bühne nicht sichtbar zu machen ist und da Shakespeare aus äußerlichem Theater sich nichts macht, erhalten wir eine Beschreibung aus dem Munde des neidischen Ärgers. Der Volkstribun berichtet: ... Die geschwätz’ge Amme In Seelentzückung läßt den Säugling schrein Und schnakt von ihm; die Küchenschlampe steckt Den besten Fetzen um den rußigen Hals Und klettert auf den Wall, ihn zu begucken; Gestopft sind Buden, Erker, Fenster; Giebel Und Dach von allerlei Gestalt beritten... Und in diesem über alles günstigen Augenblick soll Coriolan Consul werden; der Feind draußen ist besiegt, Rom ist gesichert; nun soll, wenn’s nach seinem Willen geht, der alte Zustand wiederhergestellt werden, sollen die Patrizier ungeschmälert das Amt ausüben, zu dem sie berufen sind. Der Senat versammelt sich in feierlicher Sitzung; den Bericht über seine Taten, den der alte Consul zu erstatten hat und der -- Coriolan weiß es -- eine Lobrede werden muß, kann er nicht anhören und läuft weg; wie er dann aber wiederkommt und der Senat ihm die einzige Ehre erweist, die für ihn eine ist, und ihn zum Consul ernennt, nimmt er hochgemut an. Hier steht er vor seinesgleichen, ein stolzer Mann, der so fröhlich sein könnte, wenn die Zeiten danach wären; und warum soll der Senat in diesem Augenblick nicht das Rechte tun, damit alles gut wird? Da bittet er herzhaft: ihr habt mich nun zum Consul gemacht; die Bettelei beim Volk ist ein schnöder Brauch ohne Bedeutung; erspart mir’s! Das, einen Brauch aufzugeben, hätte auch in andern Zeiten schwer gehalten; jetzt aber sind die Volksvertreter da, die ihre neue Macht zeigen wollen; der Brauch soll mit einem Mal verhaßte Bedeutung gewinnen; der Consul soll nunmehr vom Senat vorgeschlagen, vom Volk aber in vollem Ernst gewählt werden. So muß er sich nicht nur dem Brauch fügen, der Brauch soll parteimäßig ausgenutzt werden; schon organisieren und bearbeiten die Tribunen ihre Truppen und lauern auf die Gelegenheit, ihn zu Fall zu bringen. So muß er sich, da er sein Ziel erreichen will, zu einer Komödie bequemen, die ganz gegen seine Natur geht und für ihn Erniedrigung ist. Er könnte es nie auch nur versuchen, wenn’s die neue Einrichtung wäre; aber zunächst sind’s die Formen des alten Brauchs. Trüppchenweise stehn die Bürger beisammen; jedem soll er sein Verdienst nennen und seine Wunden weisen. Er versucht’s; es wird die sonderbarste Bewerbung, die Rom je gesehen hat; in ihm kämpfen Wut, Lachen und stolzes Aufbäumen. Was ihn hergebracht habe? fragt da so einer. Mein eignes Verdienst! gibt er zur Antwort und fügt hinzu: Soll ich denn etwa arme Leute anbetteln? Seine Wunden verspricht er zu zeigen, wenn er mit dem einen oder andern einmal allein ist. Und dann geht er weiter und knirscht etwas von Almosen zwischen den Zähnen. Die Bürgersleute sind so bestürzt und stehn zugleich noch so unter dem Eindruck seiner Rettertat, daß sie ihm -- es ist ja keine Wahl zwischen mehreren, ist ja ein Zeremoniell -- die Stimmen eben geben; schon darf er sich für den Consul halten; da kommen die Tribunen dazwischen. Nichtwählen, einen andern wählen, das war nicht möglich; diese Einrichtung, solches Volksrecht besteht nicht; aber jetzt, wo die Bürger mit ihren Klagen kommen, wie sie behandelt wurden, läßt sich alles noch wenden: das Staunen und die beleidigten Gefühle werden demagogisch zur Wut zusammengeballt, werden von den alten Glatzköpfen, den politischen Volkstribunen gegängelt; tumultuarisch protestiert das Volk gegen die Wahl, nimmt sie zurück; und es kommt zunächst zu dem großen Zusammenstoß zwischen Coriolan und den Tribunen. Die ganze Aufruhrstimmung, die durch die Einsetzung der Volksvertreter und dann durch den Krieg gedämpft worden war, lebt wieder auf, Coriolan spricht rückhaltlos, leidenschaftlich seine Meinung, seine Absichten aus, und keiner der klug bedenkenden Adligen tritt ihm zur Seite. Für ihn aber geht’s nun gar nicht mehr um den neuen Konflikt; er will gründlich Wandel schaffen, er wühlt das Alte wieder auf, die neue Einrichtung besteht ihm nicht zu Recht, das echte Rom ist ihm in seinem edeln Kern bedroht. Im Aufruhr sind die Tribunen eingesetzt worden; jetzt ist bessre Zeit, ruft er auf dem Marktplatz aus, jetzt muß ihre Macht wieder zertrümmert werden. Die Situation ist die, daß in dem Augenblick, wo es gälte, eine sehr demagogische und in ihrem Recht zweifelhafte, wiewohl von Coriolan herausfordernd ermöglichte Anwendung der neuen Macht der Tribunen abzuwenden, Coriolan Öl ins Feuer gießt und, was die Revolution errungen und der Senat bestätigt hatte, nach siegreichem Krieg durch eine Gegenrevolution wieder abzuschaffen vorschlägt. So sieht es aus; er aber platzt damit ganz als einzelner, in der schwierigsten Lage, in der er schon sowieso ist, ohne Verbindung mit seinen Standes- und Parteigenossen heraus. Er steht ganz allein; und nun soll er auf Befehl der Volkstribunen, da er sie in ihrem Amt angetastet und zum Staatsstreich aufgerufen hat, verhaftet werden, er soll, nach dem alten Recht, als Hochverräter behandelt werden. Freilich ist die Situation gänzlich neu, anständigerweise könnte das alte Recht hier nicht angewandt werden; aber die Volkstribunen haben ja die Szene mit demagogischen Künsten vorbereitet; sie haben ja Coriolans Zorn und Heftigkeit im voraus in ihre Rechnung gestellt, sie haben gehetzt und geschürt, und es ist noch viel besser für sie gekommen, als sie erwarten konnten; nun wollen sie den Moment eiligst ausnutzen: Coriolan, eben noch der Held und Retter, soll als Feind des Vaterlands, als Volksfeind vom Tarpejischen Felsen gestürzt werden. Es sind welche unter den Patriziern, die ganz wie er denken, die ihn im stillen bewundern; aber keiner will jetzt den Kampf, zu dem Coriolan mit gezogenem Schwert herausfordert; das Höchste, was sie für ihn tun können, ist, daß sie ihm zur Flucht in sein Haus verhelfen und nun allseitig zu begütigen, zu vermitteln versuchen. Und nun kommt es, auf einer viel höheren Stufe, in einer weit gefährlicheren Lage, zu demselben Versuch Coriolans noch einmal, seine Natur zu vergewaltigen. Die Mutter, die im Innern ganz zu ihm steht, ihn bewundert und seine Gesinnung völlig teilt, eine Frau, tapfer wie ein Mann und klug wie eine Römerin, die den Taten der Männer und ihrem Treiben lange zugesehen hat, überredet ihn, sich zu verstellen und gute Worte zu geben. Um der Sache willen soll er es tun. Die Szene, in der ihr dem Festen, Geraden, Tapfern, Zornerfüllten gegenüber diese unglaubliche und äußerste Umstimmung für den Augenblick des Entschlusses gelingt, ist so groß, daß auch wir überzeugt werden: ja, er darf es tun, er vergibt sich nichts. Wie baut sie sich auf, diese Szene! Coriolan hat schon mit der Mutter geredet und ist zu seinem Staunen bei ihr auf Kummer und Unzufriedenheit gestoßen. Jetzt kommt sie wiederum zu ihm; kaum im Glauben, daß noch zu helfen sei, aber mit Entschluß gewappnet, ihr Ganzes aufzubieten. Das ist ihr Kummer: was er toll in die Welt gerufen hat, hätte er tun sollen, und dazu hätte er die Macht gebraucht, und darum hätte er jetzt schweigen sollen! Und eminent reif ist, was sie dem Wilden sagt: Ihr konntet ganz der Mann sein, der Ihr seid, Bei mindrem Eifer, es zu sein. Wie es überaus klug und doch schon leicht greisenhaft drollig ist, wenn der gute Menenius, der dazukommt, meint: Nun, nun, Ihr wart zu rauh, etwas zu rauh; Kehrt um und macht es gut. Daß die Sache besser nicht geschehen wäre, sieht Coriolan allenfalls ein, aber es ist eben so gekommen, und er weiß nichts andres, als sich dreinzufinden; hängt sie! Nun, wenn der Mann nur erst einsieht, daß etwas besser hätte gemacht werden können; den Weg, es wieder gutzumachen, wird die Frau schon finden. So geht sie einen kühnen Schritt weiter in der Klugheit und erinnert ihn daran, wie er selbst auf dem Gebiet seiner Meisterschaft immer gesagt habe, die Kriegslist sei erlaubt. Warum nicht auch die List im Frieden? Und nun nimmt sie ihn ganz als ihr Kind, das sie zu unterrichten hat, und gibt ihm genaue Unterweisung, bis auf Gebärden und Mienen, wie er um Verzeihung zu bitten habe. Menenius ist ganz entzückt; er kostet gern voraus, der Psycholog und Feinschmecker; er kennt doch seine Römer; nichts macht sie glücklicher, als wenn man bittender Weise zu ihnen spricht; und nun gar, wenn Coriolan, der ihr Kriegsheld und ihr Schimpfheld ist, sich vor ihnen demütigt! Coriolan steht schweigend da und kämpft den letzten Kampf mit sich; sein Verstand ist überzeugt. Und wie dann Cominius dazu kommt und die Gefahr schildert, und wie die andern zu dem reden, als sei Coriolan schon gefügig, und wie Cominius zeigt, daß er an diese Möglichkeit nie geglaubt, nie gedacht hätte, da gibt Coriolan gerade nach; er sieht ein, er ist hier der Vertreter der guten Sache; damit er tun kann, was er geredet hat, muß er seine Rede zurücknehmen. Wohl, ich tu’s. Wär’ nur dies Stück Mensch hier bedroht, der Kloß, Der Marcius heißt, sie möchten mich zerreiben Und in die Winde streu’n. Aber die Sache will’s, und so preßt er sich zusammen und will das Unmögliche vollbringen. Aber es graut uns, wenn wir mit ansehen, was es ihn kostet, wie er sich quält und sich krümmt und sich beschimpft und im ehrlichen Versuch, das Allerschwerste einzustudieren, fast groteske Gesichter schneidet; wie er schließlich nur noch als folgsames Kind zur Mutter redet: Sei ruhig, Mutter. Ich geh’ schon auf den Markt; schilt nicht mehr, Mutter. Und nun, in schneidendster Kürze die furchtbare Wendung. Wie hat sie bitten, beschwören, begründen können, wie hat sie die ganze Autorität einer römischen Mutter geltend gemacht, solange er ungebärdig vor ihr stand, als einer, der die große Sache seines Lebens verdorben hatte, so daß sie nichts mehr vor sich sah als dies eine Mittel. Schimpfliche Verstellung und Demütigung für einen Augenblick; nun sei’s drum! Der Verstand ist so gern bereit, zum Letzten hinzustreben und aus einem Berg, der dazwischen trotzt, eine Stufe zu machen. Aber jetzt, wo er ganz nachgibt und gar nicht mehr widerstrebt, empfindet sie ein solches Leid in ihm, daß sie innerlich zusammenbricht und an alles nicht mehr glaubt, was sie gesagt hat. Sie kennt doch ihren Sohn! Weiß, wie es ist, wie es wird, wenn er sich Gewalt antut. Sie kann nichts mehr sagen: „Tu, was du willst“, bringt sie noch heraus und geht. Sie sieht in der Einsamkeit, in die sie sich zurückzieht, gewiß voraus, was nun auf dem Marktplatz der Männer vor sich geht. Inzwischen haben die Volkstribunen nicht geruht, haben die Zünfte organisiert, um ihren nun bevorstehenden endgültigen Richterspruch zu einmütiger Annahme und sofortiger Vollstreckung zu bringen. Es soll Coriolan, dem Volksverächter, den Hals kosten, und das Mittel, jede freundliche Wendung zu verhindern, kennen die Gewitzten: ihr Feind hat dafür gesorgt, daß seine schwache Stelle nicht unbekannt blieb: Reizt ihn sogleich zum Zorn... ... Braust er erst auf, So bringt ihn nichts zur Mäßigung. Coriolan kommt, von den Getreuen geleitet; sehr unruhig redet Menenius immer auf ihn ein, vor allem ruhig zu sein. Er kommt denn auch ganz in der beschlossenen Haltung sanfter Nachgiebigkeit. Wenn nur der wohlmeinende alte Menenius, um’s vollends gutzumachen, nicht anfinge, von seinen Heldentaten und Wunden zu den Bürgern zu reden! Da kommt doch sofort der Zorn wieder über ihn; vor denen da, jetzt, davon Rühmens machen! Wenn nur überhaupt Augen und Ohren nicht wären! Aber was nützt aller Vorsatz des Verstandes, wenn diese Volkstribunen auf seine Sinne wirken, wenn er sie nicht riechen kann? Und schon richtet er sich auf und stellt sie zur Rede: Was? ihn erst zum Consul wählen und ihm dann das Amt nehmen? Das ist aber nur ein Augenblick des Vergessens; sowie ihm bedeutet wird, er habe jetzt Rede zu stehen, fügt er sich wieder in die vorgesetzte Rolle. Und so beginnt die Anklage gegen ihn; und er hört das Wort Verräter. Da geht es ihm genau wie Sir Launcelot in Malorys englischem Artusroman; wie hat der seinen König schonen und sogar feig scheinen können, der Held; aber sowie er das Wort Verräter hört, muß er sich wappnen und kämpfen. Coriolan wollte mild, versöhnlich, bittender Weise reden; aber nun ist’s aus. Er hat sich ja nicht vorgestellt, wie es sein wird. Sagen hätte er schließlich alles gekonnt, sich selber zwingen; aber mit anhören, sich gefallen lassen? Ein Edler geht, ohne Fesseln, freiwillig, in Ruhe und Fügsamkeit zum Schaffot; aber wenn ihm der Henker die Hand auf die Schulter legt, zuckt er. Jetzt schreit Coriolan alles, alles hinaus; und die Erinnerung an das Versprechen, das er der Mutter gegeben hat, hilft nun nichts mehr. Das Wort Verräter in den Ohren zu haben, diese Gesellen als Richter vor sich zu haben, reißt alle Dämme ein; er bricht aufs furchtbarste los: Ich will nichts weiter wissen. Ihr Urteil sei Tod vom Tarpejischen Felsen, Landflüchtig Elend, Schinden, Qual im Kerker, Bei einem Korn des Tags, -- nicht wollt’ ich mir Erkaufen ihre Gnade um ein gut Wort Noch hemmen meinen Trotz um all ihr Gut, Kriegt ich’s um einen Gruß zum guten Morgen. Nein, er ist nicht der Mann dazu, jetzt ist nicht die Zeit dazu, planvoll zu leben; es gilt nur der Augenblick. Wer ein Ganzer ist, kann nicht an der einen Stelle einen Lenker, einen Vergewaltiger haben, der den andern in ihm mit Prinzipien und Vorsätzen beim Kragen nimmt und vorwärts schiebt. Das Vaterland ist zerrissen; nicht mehr ein einiger Stand herrscht, sondern Parteien mit ihrem Geschwätz ringen mit einander. Er allein ist noch ein Ganzer; er ist allein: ihn, den man Verräter zu nennen wagt, hat man verraten, als man dem Aufruhr nachgegeben hat. So wird ihm denn das Urteil gesprochen, diesmal nicht tobend gebrüllt, sondern in politischer Erwägung vorbereitet: Verbannung. Er aber steht, fortgerissen vom Zorn, von einem Zorn aber, der in nichts aus den Gierwünschen einer Person, der nur aus einer Gesinnung hervorgeht, fortgerissen und unerschüttert da. Bei diesem Anblick, empfinde ich, geht es uns gar nicht mehr um den großen geschichtlichen Moment, um den entscheidenden politischen Gegensatz, noch weniger um politische Analogien zwischen damals und heute, die falsch wären; es geht um den ewigen Streit der vereinzelten tapfern Hoheit gegen die massenhafte Niedrigkeit, der so alt ist wie die Welt steht. Unser Herz jauchzt bei seiner herrlich kühnen Antwort, wir begreifen wie zum ersten Mal, daß für gewisse Augenblicke der liebe Gott unsrer Zunge die Fülle der Schimpfworte, die zugleich zorniger Angriff und humoristisches Spiel, Ausgleichung der Tat und Gleichnis des Geistes sind, zur Entladung gegeben hat, wir sind dankbar, daß Shakespeares Sprache diese Barocküppigkeit der alles überschwemmenden Flut zur Verfügung hat; denn dieser Katarakt Coriolans kommt doch aus einer tieferen Seelenfülle als das Wasserleitungsplatzen des Badearztes Stockmann, des Volksfeindes Ibsens; sie haben den Bann über ihn ausgesprochen und nun biegt er sich langgereckt zu ihnen vor und spricht: Ihr bellend Hundepack! des Hauch ich hasse Wie fauler Moore Stank,... ich verbann’ euch! _Hier bleibt_ mit eurem zagen Hin und Her! Beim leisesten Gerücht beb’ euer Herz!... Bleib euch nur stets die Macht, Den, der euch schirmt, zu bannen, bis zuletzt Euer stumpfer Sinn, der nicht glaubt, bis er fühlt, Nicht einen übrig läßt als nur euch selbst, Die eure eignen Feinde!... Rom, dieses Rom, ist in sich selbst gebannt; Coriolan hat das Gefühl, nur das, was ist, ausgesprochen zu haben; und er, der einzige, der zum echten Rom steht, um das zu leben es sich lohnt, wandert nun in die Fremde. Er geht, und sie jauchzen hinter ihm her: Der Volksfeind ist fort, ist fort! Verbannt haben wir unsern Feind, er ist fort! Die Mützen fliegen in die Höhe; daß sie vor kurzem ihm als dem Befreier aus höchster Not zugejubelt haben, wissen sie nicht mehr. Shakespeare wäre aber nicht Shakespeare, wenn wir das Verhältnis der Patrizier zu den Plebejern nur von dieser einen Seite kennen lernten, nur so, wie der Repräsentant des Patriziats, der Patrizier, wie sie sein sollten, es auffaßt. Wohl steht der Held auch für die innere Handlung in der Mitte; von ihm aus sind die Vorgänge gesehen, die Geschehnisse und die Gestalten gruppiert, von ihm aus die Stimmung und Sympathie gewoben; dann aber zuckt unten aus dem Dunkel der namenlosen Menge einmal ein Licht auf, und wir sehen in andrer Beleuchtung die Dinge, die Coriolan nicht sieht, und hören die uralte Klage der Armen. Unter den Aufrührern will einer eine Rede halten und hebt zu den Plebejern an: „Ein Wort, gute Bürger“, da ruft einer aus der Menge grell dazwischen: „Wir gelten für arme Bürger, die Patrizier für gute!“ Reichtum macht gut! Und die da droben wissen es auch gar wohl: unsere Armut brauchen sie nicht bloß, weil sie Überfluß brauchen; sie brauchen sie als Gegenstück, um ihres Selbstbewußtseins willen; sie haben die Distanz nötig. Wären sie grade so reich, wie sie jetzt sind, gäbe es aber dabei uns Arme nicht, was hätten sie dann von ihrem Reichtum? „Die Magerkeit, die uns drückt, das Bild unsres Elends ist für sie ein Inventarium aller einzelnen Stücke ihres Überflusses; unser Leiden ist ein Gewinn für sie.“ Was das Opfer leidet, das ist der Gewinn und die Wonne der andern -- haben wir so etwas nicht schon einmal, in ganz anderm Zusammenhang gehört? Ist das nicht der gerade in der Barockdichtung, wo das feste Dogma seelenhaft spielerisch von der Empfindung umrankt und umjauchzt wird, immer wiederkehrende Ausdruck für die Heilswahrheit des Christentums? Sind nicht die Armen dieses Opferlamm und ihr Blut und Wunden ein Hochgewinn für die Reichen? Aber auch abgesehen von so abgründlich feiner Psychologie, die mit einem raschen Griff das letzte Geheimnis des Privilegs entblößt, kommen die rein sozialen Klagen der Unterdrückten so stark heraus, daß wir wieder einmal merken: so ein Dramatiker sieht und empfindet zweiseitig; würde er von allem Anfang an und immer Licht und Schatten gerecht verteilen, so wäre es nicht im entferntesten so berückend als wie er’s macht: mit ganzer Inbrunst, wie ein tief Befangener, der einen Seite verschrieben, und dann, mit einem Mal, und nur immer für einen Augenblick, drüben, drunten, bei den andern. Als Menenius Agrippa die Plebejer besänftigt und ihnen sagt, wie wohlwollend die Patrizier Sorge für sie tragen, da erwidert einer aus dem Volk in Worten, -- nun, der Zensor behütet uns heute davor, entsprechende zu lesen oder zu vernehmen: „Für uns Sorge tragen! -- Ja, fürwahr! -- Sie haben noch niemals für uns gesorgt: sie leiden es, daß wir verhungern, wenn ihre Speicher vollgepfropft sind von Getreide; geben Gesetze wegen des Wuchers, mit denen sie den Wucherern auf die Sprünge helfen; heben täglich eine heilsame Einrichtung gegen die Reichen auf und setzen täglich mehr lästige Verordnungen fest, um die Armen zu fesseln und zu hemmen. Wenn uns der Krieg nicht aufzehrt, so werden sie’s tun. -- Und das ist die ganze Liebe, die sie für uns haben.“ Ich weiß, was ich tue, wenn ich immer wieder den Blick von der Sache selbst auf ihren Urheber, wenn ich ihn hier von der Tragödie Coriolans auf ihren Dichter ablenke; denn ich möchte dieses mein Staunen auf alle, die mich hören, übertragen: woher hat der Unergründliche das alles gewußt? Über Rom wie über unsre Zustände verrät er uns Dinge, enthüllt er uns verborgene Zusammenhänge, die wir erst seit, erst im Gefolge der französischen Revolution zu wissen anfangen. Und wenn zum Beispiel Mommsen imstande war, uns ein Bild der Kämpfe zwischen Patriziern und Plebejern zu geben, das eine gewisse Farbigkeit, Lebendigkeit und Glaubhaftigkeit hat, so haben ihn eben die Kämpfe der modernen Demokratie dazu in Stand gesetzt; für diesen Anblick hat er aber ein gehöriges Lösegeld zahlen müssen: für das Wesentliche, eben für das, was Shakespeare als Tragödie dargestellt hat, hat er keinen Blick gehabt: er hat nicht gewußt, daß der Kriegs- und Adels- und Herrschergeist einmal ein Amt, eine Aufgabe, eine Würde und eine Hoheit gehabt hat; er hat die hohe Sendung, den seelischen Rang und das gute Gewissen dieser ritterlichen Zeiten nicht gekannt; und so hat er gräßlich banal von dem Kampf Coriolans in seiner Vaterstadt und gegen sie liberalisierend gemeint, diese Geschichte öffne den Einblick „in die tiefe sittliche und politische Schändlichkeit dieser ständischen Kämpfe“. Das ist, wie wenn man das Rittertum nach den Raubrittern, den Raubritter Götz nach dem Schinderhannes und den Schinderhannes nach irgend einem Dutzendmenschen aus unsrer großstädtischen Verbrecherklasse beurteilen wollte. Jakob Burckhardt und Nietzsche haben kommen müssen, um den Zusammenhang zwischen der politischen und sozialen und der Geistesgeschichte erst wieder herzustellen. Was sie aber aus der Betrachtung der Renaissance, indem sie Kunst, Geist, privates und öffentliches Leben zusammen nahmen, gelernt haben, das hat Shakespeare der Renaissancemensch lebendig gewußt: daß, was heutigen Tags -- auch für ihn schon genugsam heutigen Tags -- in Verfall und Entwürdigung Rest, Gespenst und Schmach ist, einst groß, würdig, geweiht und notwendig war. In der ganzen modernen Geschichte weiß ich keinen, der Shakespeares Coriolan in dem tiefen Grunde, wo das Wesen sich aus dem Elementaren aufbaut, so nah käme wie ein Mann, der einer der größten Revolutionäre aller Zeiten war, der Vertreter der Plebejer, obwohl ein Mann des Adels in jeder Hinsicht, der Graf Mirabeau, der tolle leidenschaftliche Feuerkopf, der doch zugleich -- wie Coriolan der größte Soldat -- so er der größte Politiker seines Volkes ist. Von äußerlichen Analogien stimmt nichts; die Zeiten und die Lagerung der sozialen und der psychischen Schichten zu einander haben sich geändert; die Ähnlichkeit liegt im elementar Wesentlichen: eine Leidenschaft so starker Art, wie sie sonst den Menschen verzerrt und verzettelt; hier aber der Ausdruck nur der unabänderlichen Festigkeit eines Kernes; ein Temperament, wie es sonst die persönlich Gierigen haben, hier aber Sprache und Gewand der Gesinnung und Sachlichkeit. Die entgegengesetzte Stellung, die die beiden zu haben scheinen, darf uns gar nicht täuschen: schon dieses Coriolan nächster Bruder, Shakespeares Cassius, hat sich in einen Revolutionär und zugleich Politiker gewandelt. Alle drei, Coriolan, Cassius und Mirabeau sind innerlich und in der explosiven Art ihrer Äußerung geeint: sie gehören, wie Mirabeau es einmal ausdrückt, zu den „starken Seelen, welche die Freiheit im Naturzustand wild und im zivilisierten stolz macht“, und immer wieder kommt es zu solchen Gegensätzen ihrer stolzen Natur zur Umgebung, daß sie in den Naturzustand zurückfallen und wild werden. Und die beiden, die hier zusammengestellt werden, Coriolan und Mirabeau, gehen doch auch in ihren äußeren Schicksalen einen guten Schritt zusammen; nicht bloß die großen Menschen, auch die Zeiten und die politischen und sozialen Zustände ändern zwar die Gewänder und Masken, bleiben sich im Kern aber gleich. Auch Mirabeau, abgesehen davon, daß er als tief Unsittlicher gilt -- die Heuchelei und Verbannung auf _diesem_ Gebiet ist eine moderne Neuerung --, und daß von seiner Nötigung, die unbändige Kraft der Seele und des Leibes in Geschlecht und Erotik zu üben und zu verschwenden, Coriolan, der Sohn einer keuschen und harten Welt, keinen Zug hat, auch Mirabeau ist bis auf den heutigen Tag, gerade bei denen, deren politischer Führer er heute noch sein müßte, als Landes- und Volksverräter, als Verräter seiner Sache in Acht und Bann getan wie Coriolan. Nun aber geht die Parallele nicht weiter, denn Coriolan erlebte seine Verbannung und sollte weiter leben. Er war ein politischer Feind der Zustände, die die Plebejer durch Aufruhr ertrotzt und die Patrizier in Nachgiebigkeit zugestanden hatten; er stand allein zwischen den Parteien, niemand wagte es, in diesem Augenblick ihm zur Seite zu treten und den Kampf aufzunehmen; und so benutzten seine Todfeinde, die Volkstribunen, ihre Macht und verwiesen ihn als Verräter des Landes. Nun aber, nach seiner Verbannung, macht er sich äußerlich ohne Zweifel wirklich zum Verräter, zum Feind seines Landes. Wie zeigt ihn uns Shakespeare in dieser Situation? Warum geht er zu den Volskern und zieht mit ihnen kriegerisch vor die Tore Roms? Wenn dieser Mann Coriolan sein Leben überblickt, dann war es seit langen Jahren immer so, daß er zwei Feinde hatte, mit deren einem er in einer Gemeinschaft des Zorns und Ekels zusammen wohnen mußte, während er den andern ritterlich auf Tod und Leben bekämpfte. Für die Idee Roms hat er dies beides getan: mit den zufälligen, in mannigfacher Abstufung erbärmlichen Menschenexemplaren, die sich Römer nannten, nicht bloß zusammengehaust, sondern sie immer wieder geführt und fast gewalttätig mit seinem kriegerischen Feuer erfüllt und in den Kampf getrieben, in den Kampf eben gegen Tullus Aufidius und seine Mannen. Den aber, Tullus Aufidius, den Feldherrn der Volsker, darf er achten, indem er mit ihm ficht, er sieht ihn als einen Ebenbürtigen, als den Ebenbürtigen an, als seinen Zweiten in der Welt; sie gehören zu feindlichen Völkern und stehn im Wettstreit um den Heldenruhm: ihrer Natur nach Zusammengehörige, die von den Verhältnissen zur Feindschaft bestimmt sind; Coriolan und die Bewohner Roms sind ihrer Natur nach tief Getrennte, die von den Verhältnissen zum Zusammenhalten bestimmt sind. Nun sind diese Bande zerrissen worden, von den Römern selbst; und ihre Verbindung mit der Idee Roms, die nur durch Coriolan geschlossen wurde, in dem sie verkörpert ist, haben sie auch gesprengt. Tief drunten, in Coriolans innerster Notwendigkeit also ruht der Seelenzwang, um der Idee Roms willen Krieg zu führen gegen die Römer. Aber Menschen von Coriolans Art, die sich so stolz auf sich selber verlassen und so aus dem Grunde leben, in denen alles Geistige zur Natur und wie zum Trieb geworden ist, leben ihr Leben, sie leben nicht ihre Motive. Sie handeln nicht nach Prinzipien, mit Plänen, zu Zielen; sie stehen im Augenblick. Daß er für Rom kämpft, wo er auch kämpft, ob er auch gegen die Römer kämpft, das weiß der Zornige jetzt nicht. Er weiß nur, daß Rom ihn ausgestoßen hat, daß Rom sein Feind ist, gegen den er äußersten Krieg zu führen hat, und daß einer, den er achtet, einer seinesgleichen gerade schon wieder angefangen hat, den kaum erloschenen Krieg gegen Rom aufzunehmen. Die Römer haben ihren Feldherrn vertrieben, obwohl der große Feldherr Tullus Aufidius ihnen droht; nun sollen sie sehen, diese führerlose Herde, wie sie allein fertig werden, wenn zwei Helden gegen sie anrücken. Coriolan ist mit den Wurzeln aus seinem Boden gerissen worden; da er voller Kraft und Zorn und Leben ist, bleibt nur übrig, zu sterben oder diesem Leben einen neuen Sinn zu schaffen. Seine Stadt hat mit ihm Ehre und Ruhm verstoßen und hat das Regiment den Krämern, den Pfuschern und Neidlingen ausgeliefert; er geht zu Roms Feind, zu Tullus Aufidius. Rache muß geübt werden; die, die ihn strafen und vernichten wollten, müssen gestraft und unschädlich gemacht werden; daran hängt jetzt sein Leben, daß er über die triumphiert, die ihn wie einen räudigen Hund fortgejagt haben -- die Hunde! hängt sie! --, daß er als Sieger Rom zu seinen Füßen sieht. Es gibt eine schöne Erzählung von Aaron Bernstein, die von dem Schicksal eines starken, heldischen Jünglings in der jüdischen Enge eines Landstädtchens berichtet. Da kommt ein wohlweiser Schwätzer vor, der gern zu allem seine talmudisch zugespitzten Sprüchlein macht; und in einer bestimmten Situation gibt er seinem Publikum das Rätsel auf: Warum ist Mendel Gibbor, der starke Mendel, so traurig? Aber siehe da, wie der Starke sich wieder sehen läßt, ist er wider Erwarten gar nicht traurig: es ist fast so etwas wie Lustigkeit in ihm; diese starken Naturen sind unberechenbar. So ähnlich könnte es uns gehn, wenn wir jetzt Coriolan nach allem, was wir gesehen und über seine Verfassung und Lage gesagt haben, nach der Ausstoßung beim Abschied von der Mutter, der Frau, den Freunden sehen. Er ist gar nicht zornig, der Zornige! Irgendwo in ihm ruht der Zorn und nährt sich; was in die Erscheinung tritt, ist gefaßte Gemächlichkeit und liebevoller Trost an die Teilnehmenden! Er hat sich ausgetobt und ist ruhig, mit einem liebenswürdigen Anflug von Humor; und vor allem: wie kann er zornig sein, da es nun seine Mutter an seiner Statt ist und da er überdies den Schmerz seines zarten, zagen Weibes sieht! Mutter Volumnia weiß gar nichts mehr davon, daß sie je mit ihrem Sohn unzufrieden war; es ist alles so gekommen, wie es ihre Klugheit widerraten, wie es eine tiefere Stimme in ihr aber unabweisbar vorhergesagt hat. Ihr ganzer Zorn gilt denen, die ihren edeln Sohn, auf den sie nie so stolz war, wie in diesem Augenblick, vertreiben. Coriolan hat nichts zu tun, als sie zu beruhigen. Für sich braucht er nichts mehr, keinen Zuspruch, keine Hilfe, kein Wüten und vor allem keine Begleitung. Er ist ganz gefaßt; etwas in ihm hat schon den Entschluß gefaßt. Daß er frische, ungebrochene Kraft in sich spürt, spricht er aus; und im übrigen: Solang ich atm’ in dieser Welt, sollt ihr Stets von mir hören, und nie andrer Art, Als je mir eigen war. Wie er aber nun weg ist, wie die beiden Frauen durch die Straßen Roms zurückgehen, und die beiden Tribunen ihnen, sehr gegen ihren Willen, in die Arme laufen, da wird auch Virginia, Coriolans stilles, ängstlich-schüchternes Weib, tapfer; den armen zurückgelassenen Frauen bleibt nichts als die Zunge; aber mit ihren leidenschaftlichen Worten und Wünschen sagen sie triumphierend voraus, was dann geschieht: daß Coriolan mit dem Schwert in der Hand seine römischen Feinde zu strafen kommt. Wie anders wird diesen Frauen die Wirklichkeit aussehen als ihr Wunsch! Sie können nur ohnmächtig und ohne Vorstellungskraft wünschen, Coriolans Feinde möchten gestraft werden; er aber wird’s tun, auf dem Wege, den die Wirklichkeit bietet, auf keinem andern; und mehr und mehr wird auch der Zorn, der jetzt noch schlummert, in ihm gegen die erwachen und wachsen, die hätten mannhaft zu ihm stehen sollen und ihn allein gelassen haben. Als armer Mann verkleidet tritt er in Antium in das Haus seines Todfeindes Aufidius. Jeder Einwohner dieser Stadt hat Grund, ihn niederzuschlagen. Aber er fürchtet nichts; alle Gefühle hat er tief drunten geborgen, oben in ihm lebt nur die Verwunderung über diese seltsame Welt und ihre Wandlungen: Ich hasse meine Wiege, liebe nun Die Feindesstadt! Für ihn gibt’s nun nichts zu tun; es ist fast, als ob bloß sein Körper da wäre; nachdem er seinen Entschluß, es zu wagen, gefaßt hat, ist alles Tullus Aufidius anheimgegeben; er selber ist in der Sache nichts weiter wert. Schlägt der ihn gleich nieder, so hat er recht; kann er im Vaterlandsfeind aber den Ebenbürtigen erkennen, ist da in Antium eine solche Stätte des Adels und des verstehenden Edelmuts, daß Platz für zwei solche Gleiche ist, dann ist er, wo er jetzt hingehört: dann dient er entschlossen den Volskern gegen Rom. Einen Gentleman, einen Adelsmann nennt er sich, wie der Diener den Zerlumpten fragt, wer er sei; und es ist so, wie der Diener höhnisch hinzufügt: „aber ein armer“! Auch in Lumpen ein Adliger, auch als Landesverräter ein Ritter, das ist Coriolan. Und dann steht er dem Feind gegenüber und offenbart sich ihm kühn. In diesem Augenblick kommt, für uns wie für ihn, zum ersten Mal klar heraus, was ihn über diese Schwelle gebracht hat: er spielt ~Va banque~. Irgendwie weiterleben und warten, bis die etwa da drinnen in Rom sich anders besinnen und ihn gnädig zurückberufen, das kann er nicht. Entweder -- oder. Entweder ist Tullus Aufidius zu dem Großen, Herrlichen imstande, dessen er sich von ihm versieht; dann auf zur Rache! Oder er, der Heimatlose, ist allein und waffenlos in die Stadt, in das Lager, in das Haus des Todfeinds gegangen: dann hat er den Tod gefunden, den er sucht. Der Römer bietet sich dem Feinde seines Vaterlands als Bundesgenossen an: Coriolan übt Verrat! Die Worte klingen, als bezeichneten sie eine ärgste, eine viel schlimmere Vergewaltigung des Edlen gegen sich selbst, als er sie früher zweimal versucht hat; zuerst, als er Consul werden wollte, das war fast harmlos gegen das Zweite, das sich daraus ergab, den furchtbar gescheiterten Versuch, den reuigen Sünder vorzustellen und Verachteten Achtung vorzumachen. Das hat ihn in die Verbannung getrieben; ist er jetzt bei der dritten, der äußersten Gewalttat gegen sich selbst? Sicher ist, damals litt er gräßlich darunter, daß er sich anders geben sollte, als er ist; jetzt ist er seinem eignen Gefühl von sich selbst nach in höchster Lust mit sich eins. Das offenbart sich uns in der Ruhe, der Größe, der Freiheit seiner Rede. Wer so dasteht, wie der Mann in diesem Moment, und sich Aug in Auge dem Tode stellt, wer Tage und Nächte einsam gewandert ist, mit keinem andern Gedanken als diesem Ziele zu, vor dem er jetzt steht, dem ist Rom, Vaterland und alles, was Namen führt, wie Kleid und Schuppen abgefallen, er steht nackt da in der Natur seines Heldentums und seiner ungebrochenen Kampflust, als einer, der voller Leben ist und zu sterben bereit ist. Ja, in diesem Augenblick lebt kein Rom in ihm, hat keine Mutter ihn geboren; er hat kein Vaterland, ist losgelöst von allem, wovon der Mensch sich nur freimachen kann, ohne aufzuhören, er selbst zu sein; und wüßten wir das nur, daß alles andre als eines, dem wir uns ergeben, in jedem Augenblick frei von uns gewählt und ergriffen wird, wie viel inniger, wie viel mehr wir selbst würden wir unsrer Sache uns hingeben! Er hat nur noch dies eine: seine heldische Natur; ein Schwert hat er und weiß einen Feind. So steht er vor dem Mann, der ihm zum Tod oder zu seiner allein noch gebliebenen Bestimmung helfen soll, und spricht: Nicht in der Hoffnung, -- Verkenn mich nicht -- mein Leben zu erhalten; Scheut’ ich den Tod, wohl keinen in der Welt Hätt’ ich geflohn wie dich; nein, bloß aus Trotz, Um völlig quitt zu sein mit den Verbannern, Steh’ ich vor dir nun da... Denn -- ich kämpfe gegen Mein krankes Vaterland mit der Erbittrung Von allen Höllengeistern. Doch wofern Du es nicht wagst und, mehr das Glück zu proben, Satt bist, so hör’s mit einem Wort: auch ich Bin fortzuleben herzlich müd und biete Die Kehle dir und deinem alten Grimm... Man braucht gar noch nicht in Betracht zu ziehen, daß Aufidius und sein Volk ein hohes Interesse daran haben, ihren furchtbaren Feind in ihren Dienst zu ziehen, Roms Helden und den Führer der gekränkten und auf ihre Stunde harrenden Adelspartei als Feldherrn im Kampf gegen Rom zu gewinnen; all solche Erwägungen kommen später entscheidend zur Geltung; für jetzt ist Aufidius von diesem tragischen Geschick und dieser tragischen Größe menschlich erschüttert: Mein Marcius -- bricht er aus -- Und hätten wir nichts gegen Rom, als daß Es dich verbannt, wir wollten alle mustern Vom zwölften Jahr zum siebzigsten und wütend Ins tiefste Mark des undankbaren Roms Wie kühne Flut einbrechen. Wie wäre es gegangen, wenn nicht die hohe Erschütterung, wenn die niedrigen Elemente die Entscheidung hätten treffen sollen und wider einander gestritten hätten: kluge Politik und eingefressener Haß? Keine leichte Wahl; und so sind denn auch diesmal die Interesse- und Haßpolitiker in Rom, die beiden Volkstribunen beim ersten Eintreffen der Nachricht nicht gleich einig. Der eine meint: sehr wahrscheinlich; das leuchtet ihm erschrecklich ein; der andre aber glaubt’s nicht; er glaubt nicht daran, daß die Klugheit über den Haß gesiegt habe: Er und Aufidius sind nicht mehr versöhnbar, Als wie der ungeheu’rste Widerspruch. Was da in Antium zwischen den beiden Helden vorging, war nicht das Wahrscheinliche, wie die Niedrigkeit nachrechnete, und war nicht das Unmögliche, das die andere Niedrigkeit aus dem eigenen Hasse erschloß; es war das Überwältigende. Und schon kommt Coriolan wie ein Wetterstrahl schnell und zündend bis vor die Tore Roms, ganz in Rache eingehüllt, er weiß von nichts anderm mehr, hat keinen Gedanken, kein Ziel, keine Vorstellung des Nachher; „eine Art von Nichts“ nennt er sich, und damit wissen wir schon, wie er sich bei den Volskern vereinsamt, unter Feinden und ganz fehl am Ort vorkommen würde, wenn er zur Besinnung käme. Nicht einmal einen Namen hat er mehr; Cajus Marcius? er darf nicht daran denken, zu welchem Geschlecht er gehört, wo er gegen die Stadt seiner Väter, seiner Mutter, seiner Frau und seines Sohnes zieht; Coriolan? das ist der Name, der Schimpf und Hohn für seine, ach ja, für seine Freunde in sich birgt. So fühlt er sich als einen aus der Menschheit Gestoßenen, Namenlosen, Bis er sich selbst geschmiedet einen Namen Im Brande Roms. Rom, die Stadt der Plebejer und der feigen Patrizier, die zugesehen haben, wie sein Held und Retter ausgetrieben wurde, soll brennen. Wie haben da inzwischen die Stimmungen gewechselt; wie sieht’s da jetzt aus! Wie die Boten die furchtbaren Nachrichten immer bedrohlicher bringen, ist die erste Wirkung eine innerpolitische: wie erheben die Patrizier, die sich ehrlich für Coriolans Freunde halten, deren Sache er geführt hat, die ihn aus Politik allein gelassen hatten, wie erheben sie das Haupt; was für eine kühne Sprache findet nun der bedächtige Menenius Agrippa! Ihr habt’s schön gemacht! Ihr seid schuld! Derlei bekommen nun die Tribunen mit derbem Schimpf und Spott zu hören. Und die Volkstribunen lassen die Ohren hängen und werden immer kleinlauter; und das Volk kommt in Angst; dem ist jetzt, als ob es gleich sehr ungern in Coriolans Verbannung gewilligt hätte. Coriolans Fluch, der den innern Zustand des Volks und seiner politischen Führer beschrieben hatte, will äußerlich in Erfüllung gehen. Aber dann, wie die Gefahr immer entsetzlicher wird, klingt aus den bösen, aufgebrachten Reden der Patrizier doch auch schon die Angst durch, und es kommt dahin, daß angesichts der Gefahr der Parteistreit zurücktritt: die Stadt muß gerettet werden. Aber wie? Zu verteidigen ist da nichts, wenn Coriolan vor den Toren steht, statt als Schützer auf den Wällen. Er muß zurückgerufen werden; er muß gebeten werden, abzuziehen; er muß um Schonung angefleht werden. Der Konsul Cominius versucht’s; umsonst. Coriolan weiß nichts andres als: Rom muß brennen. Hängt sie! hatte er, wie gewohnt, einmal unwillig vor sich hingebrummt; und die Mutter, um ihn freundschaftlich mahnend zur Besinnung zu bringen, hatte ironisch fortgesetzt: Und brennt sie! Nun soll Ernst daraus werden; Coriolan hat den roten Blick und sieht nichts mehr vor sich als Flammen. Cominius erinnert ihn wohl an seine nächsten Freunde und Angehörigen; er aber ist in der Verfassung des Würgengels, der keine Schonung, keine Unterscheidung mehr kennt: Torheit Wär’s, kränkenden Gestank nicht zu verbrennen Um ein, zwei Körner willen. Und der alte Menenius ächzt, wie er das hört: Eins von den Körnern bin ich; und seine Mutter, sein Weib, sein Kind! Für diese Volkstribunen sollen wir mitverbrannt werden! Er will’s aber, auch weil diese alten Männer, die Volksvertreter, jetzt so verschüchtert und manierlich bitten können, versuchen, ob ihm nicht glückt, was der Feldherr Cominius nicht über Coriolan vermocht hat. Er ist ein Pfiffiger, der alte Mann, und eitel dazu, und mit so einer Art physiologischer Psychologie redet er sich ein, man müsse nur den rechten Augenblick wählen, vielleicht habe Coriolan nüchtern vor dem Frühstück abgelehnt, was er ihm nach dem Mittagessen gutgelaunt bewilligen würde. Aber da urteilt die kleine feine Klugheit -- oder die Angst, die sich etwas einreden möchte, woran sie selbst nicht glaubt; die vehemente Glut des ungestümen Mannes Coriolan zwingt noch mehr unter sich als die Funktionen des Leibs. Er hat ein für allemal den Befehl gegeben, keinen aus Rom mehr vorzulassen; die da drin -- alle! -- sind schuld, daß er nun nicht mehr kann, wie er will, selbst wenn er umkehren wollte. Jetzt geht’s nicht mehr bloß um die Rache; die Ehre verlangt’s, daß er denen Treue hält, in deren Dienst er getreten ist. So schickt er auch den Menenius heim, der trotz aller Abweisung nicht weichen wollte und dem er in den Weg gelaufen ist: Weib, Mutter, Kind, sind fremd mir. Meine Pflicht Ist andern dienstbar. Hab’ ich schon zur Rache Besondres Recht, liegt die Vergebung doch Im Volskerherzen. Da ist der Zwiespalt; darum kann er nicht denken, sich nicht zureden lassen; das ist jetzt seine Härte. Er ist nie ein Mann des Triebs und der Laune gewesen; so sehr ihn die Leidenschaft verdüstern, umdunkeln kann, sie ist nie ohne Gesinnung in ihm; aber haben sie ihn nicht vaterlandslos und zum Landsknecht, zu fremden Landes Knecht gemacht? Er kann nicht mehr wie er -- gar nicht will -- -- sie sollen’s büßen. Eine so hohe Stimmung, die aus der erhabenen Öde gänzlicher Beziehungslosigkeit kam, wie Coriolan, als er zuerst vor Aufidius stand, sie hatte, kann nicht dauern, wenn der Mann erst, sei’s auch um dieser Stimmung willen, in die mannigfachen Bindungen des Lebens wieder eingegangen ist. Jetzt zerfällt Coriolan schon lange wieder in die obern und untern Bezirke, in das, was er denkt und sagt, um bei dem zu verharren, was er als den neuen Coriolan in die Welt getrotzt hat, und in jenes andre, was von innen erwacht, von außen alt und neu ihn mit vertrauten Stimmen ruft und was er, solange es irgend geht, nicht hochkommen läßt. Daß das kein Zustand ist, in dem der Edle bleiben kann, daß seine Verhärtung wegschmelzen muß, sowie gegen die künstliche Macht der Soldatentreue eine natürliche und ideale Macht ausrückt und unsäglich seelenvoll zu ihm spricht, das fühlen wir voraus. Und so sind wir bereitet zu einer der strahlendsten, innigsten, höchsten Szenen der gesamten dramatischen Literatur. Die Frauen kommen: seine Mutter; sein zartes, unkriegerisches Weib, sein „holdes Schweigen“, Virgilia die Sanfte, die neben ihm, dem Rauhen steht, wie Desdemona neben Othello; und den Knaben bringen sie mit, der sein Ebenbild ist. Und dazu bringen sie ihm, was mit Cominius dem Feldherrn und dem klugen Staatsmann Menenius Agrippa nicht mitgekommen war: das Vaterland. Sie kommen in Trauergewändern. Sie beugen sich, sie blicken zum Erbarmen auf ihn; sie knien hin; sie kommen näher. Sonst wohl, wenn einer aufs tiefste erschüttert ist, braucht bloß das Wort, das das Erlebnis ausdrückt, noch dazuzukommen, und schon fließen unhemmbar die Tränen. Der starke Coriolan macht’s umgekehrt; er klammert sich an Aufidius, der bei ihm im Zelt ist, und wiederholt dem und sich selbst alles in Worten, was seine Sinne gewahren, was auf sein Herz eindringen will; die Worte der Beschreibung sollen sich verbinden mit Worten des Gelöbnisses -- vor sich selbst und dem Oberfeldherrn der Volsker --, sollen ihn binden: nein, er wird nicht nachgeben. Und schnell, die Sprache ist dazu da, verwandelt er alles, was wie Trotz, Eigensinn, Gebundenheit aussehen könnte, in Gesinnung, in Freiheit, in das Prinzip der völlig ungebundenen, individualistischen Selbstherrlichkeit; gewaltsam, mit Worten, will er sich an den Ursprung des neuen Coriolan, des Namenlosen, an die Stimmung der weltverneinenden Öde anbinden; was geht ihn noch das Vaterland an? muß er, ein Mann, ein Ausgetriebener, ein vom Schicksal Adoptierter, noch Weib und Mutter kennen? Laß die Volsker Rom pflügen und Italien eggen, nie Folg’ ich wie’n Gänslein dem Instinkt; ich stehe, Als wär’ der Mensch Urheber seiner selbst Und keinem sonst verwandt. Aber dann klingt die Stimme seines Weibs: Mein Herr und Gatte! und die Mutter blickt ihn stumm an; da will er zwar im Öffentlichen ganz unnachgiebig bleiben; aber dies holde, lang entbehrte Weib wird er doch küssen dürfen; der Mutter den Gruß der Ehrerbietung zollen? Das erlaubt die Sache; und Aufidius geht’s ja wohl nichts an. Er preßt Virgilia ans Herz; er beugt das Knie vor der Mutter. Da heißt sie ihn aufstehn. Und dann beugt sie die stolzen, steifen Knie, und kniet vor ihm hin auf dem harten Stein, und spricht dabei bitter, scharf, mit einer Stimme, die noch härter als Stein ist, von der „Huldigung neuer Art“, die bisher ganz falsch verteilt War zwischen Kind und Eltern. Die Welt ist ja verkehrt worden; man muß sich danach richten und muß auf seine alten Tage umlernen: der Römer kämpft jetzt gegen die eigne Stadt, die Weib, Kind und Mutter birgt; so ist ja wohl auch das Grundprinzip der Republik, die Familie und die Oberherrschaft der Eltern aufgehoben: die Mutter, die den frühverstorbenen Vater vertritt, bittet das Kind! Wie ist diese große Frau immer dieselbe, und wie wechseln die Situationen und damit ihre äußere Stellung zum Sohn! Das erste Mal die herbe Unzufriedenheit, mit Angst gepaart, und die klug unbedenklichen Ratschläge, an deren Befolgung sie im geheimsten nicht zu glauben vermag; dann, wie er in der Tat gegen all ihren Rat und Unterricht und gegen seinen Vorsatz dem Willen seiner Seele gefolgt ist und schrankenlos seine Wahrheit herausgerufen hat, der Stolz, die Liebe, der Haß gegen seine Feinde in Rom, der Wunsch, er möchte sie ausrotten; und jetzt der letzte Versuch, die Stadt vor seinem tauben Grimm zu retten. Und immer um Roms, immer zugleich um seinetwillen, in dem Rom sich verkörpern soll! Und sie hebt zu bitten an; dem Inhalt nicht nur, auch der Disposition nach getreu nach dem Bericht Plutarchs; wer aber Shakespeares Seelen- und Sprachgewalt an einem ganz großen, wunderbaren Beispiel kennen lernen will, der soll diese Rede Volumnias in Plutarchs und in Shakespeares Fassung neben einander halten. Sie hält ihm, auf ihre Trauerkleider weisend, die Situation vor, die er kennt; das ist ihre stärkste Waffe, daß sie ihm nichts sagt, was er sich nicht selbst sagt. Vorhin hat er sich noch stark machen können, indem er, was seine gerührten Blicke sahen, in Worte versteckte; jetzt wickeln ihm die Worte einer Stärkeren, Redegewaltigeren nicht bloß seine Eindrücke wieder aus der Umhüllung aus, sie drehen ihm das Herz in der Brust herum. Was wird das Los dieser Frauen sein, wie die mörderische Schlacht auch ausgehe? Wenn er besiegt als Gefangener nach Rom kommt? Wenn er Rom in Trümmer gelegt hat? Und Frau, Kind und Mutter in den Tod getrieben? Ja, in den Tod! Denn ich, ich, Sohn, denk’ nicht zu warten, bis Der Krieg entschieden -- -- über den Leib seiner Mutter hinweg wird er zum Angriff auf Rom schreiten müssen. Und Virgilia, die schon früher gezeigt hat, wie ihr im Augenblick der Entscheidung Sprache und Tapferkeit kommt, fällt ein und erklärt für sich, schnell, kurz, eh’ die Tränen quellen, dasselbe; und der kleine Bursch, sein Sohn, redet drein: Mich soll er nicht treten; Ich lauf’ fort, bis ich größer bin, dann fecht’ ich! Das soll ein Mensch mit anhören, von Mutter, Frau und Kind? Er steht auf und will gehn. Die alte Römerin aber hält ihn fest. Die Mutter hat gesprochen und hat nichts mehr zu sagen. Sie hat ihm die Naturnotwendigkeit der Umkehr gemeldet; jetzt spricht die Politikerin und zeigt ihm die Möglichkeit, den Ausweg. Römer und Volsker sollen einen dauernden Frieden schließen; das soll sein großer Ruhm sein: die beiden Völker zu versöhnen. -- Und das Höchste und Letzte, was auf einen edeln Mann wirkt, fügt sie hinzu: Hältst du es ehrenhaft für einen Edlen, Der Kränkung stets zu denken? Er schweigt, schweigt immer noch, er kehrt sich ab, er kämpft furchtbar. Und wiederum knien die Frauen. Und nun umtönt ihn nur noch ein Wort, in immer neuen Wendungen: Rom! Und endlich hat die Mutter, hat die Sprecherin des Vaterlands, das mehr und andres ist als die zufällig gerade lebenden und sich vergehenden Einwohner, als alle Gemeinheit einer beliebigen Summe, sie hat gesiegt. O Mutter, Mutter! Mit diesem Wehruf gibt er nach. Was dann fieberhaft aus ihm redet, zu Aufidius, daß der’s doch einsehen müsse, daß es nun zu einem günstigen Frieden kommen werde, und alle Ausrufe der Erregung und Entzückung, das ist nicht er selbst. Einer in ihm kennt sein Geschick, ahnt gar den Weg schon, auf dem es kommen kann. Es kommt durch Aufidius. Einmal, als der Mann sich dem Manne gestellt, zu Tod oder Blutbrüderschaft, war über den die große Überwältigung gekommen. Zu mehr, zu einer Wiederholung und Umkehrung ist er nicht imstande. Zudem war das Verhältnis nicht so geworden, wie er sich’s gedacht: neben dieser überragenden Natur, neben Cajus Marcius Coriolanus ist er für seine eignen Landsleute immer nur der Zweite gewesen, und die Eifersucht hat schon an ihm genagt. Was da gekommen ist, was diesen „Coriolan“, der nun alles wieder vergessen und Römer werden will, so ergreift, was geht’s ihn an? Zu ihm hat Rom nicht gesprochen; seine Mutter ist Volumnia nicht. Verschärft ist da, was in Jahren des Krieges zwischen ihnen war: Feindschaft auf Leben und Tod. Es ist kein Krieg; aber der Feind ist in seiner Gewalt. Es fällt ihm leicht, gegen den „zwiefachen Verräter“ eine Verschwörung zustandezubringen. In dem aber, den sie so nennen, ist kein Funke böses Gewissen und kein Hader mit sich selbst. Seltsame Stille ist in ihm eingezogen. Nicht die unheimlich auf einen Punkt gespannte Gefaßtheit von ehedem; eine fast wohlige Entspannung scheint es zu sein. Wie süß ist es, zumal für diesen adligen Mann, in dem Unbändigkeit und Sachlichkeit so persönlich beisammen sind, sich überwinden zu lassen, sich gefangen zu geben; wie verwunderlich wieder, daß sich noch einmal alles umgekehrt hat und daß er, der Kriegsmann, jetzt die beiden Völker, denen er nun beiden angehört, zu einer dauernden, zu einer neuen Art Frieden bringen soll. Wie traumbefangen, wie einer, der leise auftritt, um das Schicksal und sich selbst nicht zu wecken, tut er alles, was die neue Pflicht ihm auferlegt. Die Zeit des Zorns scheint ganz für ihn vorbei; er geht vor, als könne noch alles sehr gut werden. Er verläßt die Volsker nicht; er denkt nicht daran, sich in Rom vor ihnen zu bergen; keineswegs verrät er sie im groben Sinne; er verhandelt mit den Römern als der Mann, der zur Vermittlung berufen ist, aber er geht davon aus, daß Rom wehrlos und daß er der Volskergeneral ist: was er den Volskern bringt, ist eine Demütigung Roms, freilich nicht die Vernichtung; es ist ein Vergleich, der Frieden für immer stiften soll. Er ist nicht mehr ein Kind seiner Zeit; er geht vor, als sehe er Möglichkeiten, an die sonst keiner glaubt; aber es sind nicht seine Gesichte, es ist ihm von sanftem, festem Zwang auferlegt worden wie in tiefe Schlafbetäubung hinein; er bewegt sich wie in seliger Zeitlosigkeit oder wie in ferner Zukunft wiedergeboren oder wie einer, der schon im Schatten des Todes steht. Es geht zu Ende mit ihm: sein Schicksal war entschieden, als er sich Roms Feinden verbündet und, ohne daß er’s wußte, sein Herz in Rom gelassen hatte. Damals hatte er sich Tullus Aufidius zum Tode gestellt; Aufidius und der Tod sind jetzt da. Volumnia konnte als Retterin und Erlöserin Roms, als Mutter Coriolans, von Jubelrufen umbraust, in Rom einziehen; bald darauf wird Coriolan bei den Volskern, denen er den Friedensvertrag gebracht hat, von der Schar der Verschworenen, die Tullus Aufidius führt, ermordet. Er war ihnen zu gefährlich, war auch ihnen zu groß, stand unter ihnen erst recht als ein Fremder da. Er war aus Rom und damit aus der Welt gebannt; als einer, den die Welt gebraucht hätte, den die Welt nicht dulden konnte, liegt er nun tot zu Boden. Sowie er nicht mehr auf den Füßen steht, sowie sein Schritt ihnen nicht mehr in den Ohren weh tut und seine stolze Sprache, sowie sie in dem Leichnam, der da liegt, nur das Bildnis des Helden vor sich haben, dieses adligen, stolzen, wunderschönen Mannes, da erkennen sie, daß ein Großer gefallen, der Kleinheit dieser Welt zum Opfer gefallen ist. Unter den Klängen eines strahlenden Totenmarsches wird sein Leichnam aufgehoben und fortgetragen. Diese Totenmusik, das Heldenleben, wie es Shakespeare gestaltet hat, ist wirklich zu Rhythmen und Melodien geworden in der Coriolan-Ouvertüre Beethovens, die freilich durch äußern Zufall zu irgend einem andern Drama Coriolan komponiert wurde, in Wahrheit aber ganz Geist vom Geiste Shakespeares ist, der in diesem Römerdrama -- ich wiederhole die Worte -- in die Seele der Geschichte hineingeleuchtet hat, indem er die Geschichte einer Seele gab. König Zymbelin und Das Wintermärchen Gewiß würde jedes der beiden Stücke, die ich hier zusammenstelle, eine besondere und eingehende Behandlung verdienen, das reichverzweigte und an seltsamen Schönheiten reiche Drama, dem König Zymbelin den Namen gegeben hat, und erst recht das tiefe und entzückende Wintermärchen; aber sie sollen gemeinsam behandelt werden, weil mir daran liegt, die Betrachtung fortzusetzen, die ich im Anschluß an Perikles und Timon begonnen habe. Zu einer solchen Zusammen- und Gegenüberstellung der beiden Stücke laden schon die Herausgeber der ersten Folioausgabe ein: sie haben Zymbelin an den Schluß der Tragödien und das Wintermärchen an den Schluß der Komödien gestellt; zu was für Betrachtungen kann dieses Verfahren schon an der Schwelle Veranlassung bieten! Denn die Stücke sind alle beide nicht einzuordnen; die Herausgeber betätigten aber in ihrer Reihenfolge auch diesmal einen feinen Sinn; Zymbelin ist eher eine Tragödie, das Wintermärchen eher eine Komödie zu nennen. Zymbelin aber ist aus zwei Stoffen zusammengesetzt, die der weniger seltsame frühere Shakespeare alle beide in der Komödie behandelt hätte: die Gegenüberstellung des verderbten Hoftreibens und des romantisch natürlichen Hausens in Wald und Höhle, wie sie so ähnlich in Wie es euch gefällt behandelt wurde; und andrerseits die Charakterkomödie von dem Ehemann, der mit der Wette über die Treue seiner Frau in mannigfachem Sinn sich selbst betrügt. Dagegen mutet die Haupthandlung des Wintermärchens ganz wie die Vorlage zu der großen Tragödie der Eifersucht an; und doch ist es wahr, daß der Dichter aus diesem düsteren, schneidenden Stoff das gemacht hat, was schon der Titel uns an Stimmung vermittelt: ein Wintermärchen, ein Spiel, das schwer lastende Umstände mit Heiterkeit überwindet. Zymbelin steht nach Sprache, Ernst der Durcharbeitung und Anlage der Charaktere, nach der Menge auch der rund gesehenen Gestalten weit über Timon (von Perikles gar nicht zu reden); aber dennoch ist es mir das bedeutendste und dazu seltsamste der Stücke, in denen Shakespeare eine Ergründung des inneren Lebens, der geheimen Menschlichkeit, des Seelenwesens der Gestalten höchstens begonnen, angelegt, skizziert, aber nicht vollendet hat. Ferner gehört dieses Drama wie Perikles und Timon in die Reihe der späten Stücke, in denen die Handlung besonders stark als Gelegenheit zur Weisheit benutzt wird: hier dient sie fortwährend zu herrlich tiefen und scharfen Reden und Aussprüchen über das Verhältnis von Natur und Hof als dem Gipfel von Unwahrheit, Künstlichkeit und Entartung, zu Satire und Polemik, wie zum Lob der Einfachheit, des Land- und Hirtenlebens. Wie Perikles (nicht wie Timon) hat überdies Zymbelin eine reiche, romantische und romanhafte, dramatisch kaum zu bewältigende, epische, märchenhafte, bunte Handlung; an die Stelle der Intensität der Seelenergründung ist die Extensität des geradezu fabelhaften Reichtums der Motive, die angeschlagen werden, getreten. Diese Art Stücke, und keines so wie Zymbelin, geben überdies dem Schauspieler gerade dadurch, daß das innere Wesen angelegt, aber nicht ausgeführt ist, Gelegenheit, durch eigene Erfüllung die Skizze des Dichters zum vollen Menschenbild zu ergänzen. Die Gedächtnisschwierigkeiten, die dieses Stück dem Leser und seiner unsinnlich arbeitenden Phantasie bietet, sind auf der Bühne, wenn der Regisseur mit scharf herausgearbeiteten Masken, Redeweisen, Kostümen, Schauplätzen seine Schuldigkeit tut, gar nicht vorhanden; und so könnte und müßte das Stück, wenn nur unsre Bühnen nicht mit Feigheit, Trägheit, Schlendrian und neuerdings sogar Glauben an den Philologen behaftet wären, eine ganz ungeheure Theaterwirkung tun und überdies Seeleninnigkeit wie Leidenschaftsgewalt wie stark eindringlichen Gegensatz der Sphären und Naturen in einer tollen Folge von Szenen, für die der Stil zu finden wäre, wundervoll zur Geltung bringen. Das Wintermärchen dagegen ist -- wenn wir vom Sturm als etwas einzigem absehen -- das Stück, das mit dem späten Stil Shakespeares, mit der seltsamen Verbindung von Sinnenschmaus und Sinnspiel, mit der Verwandlung der Tragödie in Spiel und romantische Ironie und mit der Weisheit und Polemik des Elements, das ich Sprache nenne, eine in Knappheit und Sicherheit unerhörte, ganz genialische Kunst der tiefen Charakteristik verbindet. In einem Teil der Handlung werden dabei aber die letzten Konsequenzen dieser Seelenenthüllung nicht so gezogen, wie es sonst Shakespeares Art ist: für einen früheren Stil Shakespeares hätte die Art, wie der Charakter des Königs Leontes angelegt ist, unweigerlich den äußern Untergang als Ausdruck der innern Unmöglichkeit, das Leben weiterzuführen, bedungen. In diesem tiefsinnigen Märchenspiel aber sehen wir den neuen Ausdruck der Tragik, von dem wir schon gesprochen haben und zu dem Shakespeare überleitet, in einer vollendeten Gestalt ausgebildet. König Leontes stirbt in der Tat, stirbt, wie seine Frau Hermione von ihm unschuldig in den Tod geschickt wurde, und ist tot, solange sie ihm und der Welt tot ist; er ist der Welt abgestorben; aber dieser Tod ist ein Tod im Leben, ist Erneuerung, ist Buße, ist Wachstum und Umkehr. Hier ist für Shakespeare der Weg vollendet, auf dem er die Gattung seiner eigenen großen Tragödie überwand und durch die starre, schon aus der Antike überlieferte Schablone eine Bresche schlug und Freiheit für die Dichter unsrer und der künftigen Zeiten schuf. Mit Ende gut, alles gut, mit Maß für Maß, mit Perikles, ja schon mit dem Kaufmann von Venedig und auch mit Troilus und Cressida hatte er diesen Weg beschritten: die Tragik ihren Gipfel und ihre Überwindung nicht in dem von der Antike überlieferten gewaltsamen Tod, sondern in der Erneuerung und Steigerung des Lebens finden zu lassen. Der Sturm ist diesem neuen Shakespearedrama, ist dem ganzen Werk Shakespeares die Krönung und Verklärung. Aber nicht nur einen Wesenszug der alten Tragödie, eine Gattung der Dichtung und Kunst erschüttert und wandelt Shakespeare mit diesen Werken; mit ihnen hebt er eine Reformation an, die größer ist als sein Werk und größer auch als das Werk Luthers, das wir die Reformation nennen. Er beginnt das Werk, das unsre deutschen Frühromantiker mit allzu schwachen Kräften als Shakespeareepigonen aufnehmen wollten: auf den Wegen der Kunst und des Spiels, mit dem, was romantische Ironie heißt, die Stellung des Menschen zum individuellen Leben umzugestalten. Das war es, was einen der Kunst und dem Spiel so fernen, so abgründlich ernsten Mann wie Fichte in engste Beziehung und Bundesgenossenschaft zur Romantik brachte: die Leugnung des Ich als einer ans Leben gebundenen, vom Tod zerstörbaren Substanz. Auf dem Weg zu einer neuen Religion, einer neuen Praktik, einer neuen Gestaltung des Lebens, der einzelnen wie der Gesellschaften, eines neuen Lebens der Menschheit, für deren Empfinden der Tod von Individuen eine nebensächliche Angelegenheit geworden ist, bedeutet dieser Romantiker Shakespeare eine wichtige Etappe. Eine vollendete Gestalt für den neuen Ausdruck oder die Überwindung der Tragik habe ich das Wintermärchen genannt, werde ich den Sturm nennen können. Das war Shakespeares Vollendung auf diesem Weg; die Kunst aber kennt allewege mehr als einen Gipfel der Vollkommenheit. Die Reihe Stücke, die ich genannt habe und die Shakespeare über mancherlei schwache Stellen und Irrpfade so hoch und rein hinauf geführt haben, sind, so viel Herrlichkeiten sie bergen, doch nur Anfänge und Verheißungen. Sie geben uns die Gewähr, daß -- gleichviel wann, in ein paar hundert oder ein paar tausend Jahren -- noch einmal ein Dramatiker kommen kann, der so Shakespeare hinter sich läßt, wie der bis jetzt der größte aller Dramatiker ist, die der griechischen Antike nicht ausgenommen. Fragen wir im lebendigen Gefühl, was Shakespeare ist, welche Kraft der Seele ihn zu dem gemacht hat, was er wurde, dann muß uns schwindlig werden, wenn wir an die Freiheit und Ausdrucksgewalt, an die Kühnheit des Mannes denken, der einst Shakespeare zum Zweiten machen soll. Shakespeare ist der Genius der Freiheit. Messen wir nicht an den verklärten Freien, die überwunden haben und die uns mehr Gestalten als Menschen sind, an Jesus oder Buddha, gedenken wir der Freiheit, die ringend und körperhaft dem Leben angehört und ihm entsteigt, so weiß ich keinen auf keinem Gebiet, nicht einmal Michelangelo, der so repräsentativ der Gestalter der Freiheit zu nennen wäre wie Shakespeare. Und mit seinem letzten Werk, auf dem Weg, dem Zymbelin und Wintermärchen Stufen sind, hat er, indem er noch einmal ein Beginnender wurde und das Werk der Tragik verließ, das er so glänzend abschloß, schon seinen Nachfolger und Überwinder vorbereitet, der höher steigen, tiefer wühlen, kühner befreien wird als er. Von Zymbelin kennen wir zwar keinen früheren Druck als den der Folio von 1623, aber aus einer Notiz im Tagebuch eines Zeitgenossen erfahren wir, daß das Stück 1610 oder 1611 aufgeführt wurde; um diese Zeit herum ist es gewiß auch entstanden. Das Datum des Wintermärchens können wir auf Grund äußerer Tatsachen mit Sicherheit zwischen zwei Grenzen festsetzen: das Stück kann nicht vor Herbst 1610 und nicht nach Mai 1611 entstanden sein. Beide Stücke gehören also, wie es auch aus inneren Gründen wahrscheinlich ist, der nämlichen Zeit an. Der Britenkönig Zymbelin und seine Söhne sind historische Gestalten, die in der Tat zur Zeit der Kaiser Augustus und Claudius gelebt und wegen der Tributzahlung Konflikte mit Rom gehabt haben. Wir wissen das aus Erwähnungen bei römischen Historikern und Dichtern, die Shakespeare kaum gekannt haben kann; seine Quelle für diese Teile kann Holinsheds Chronik gewesen sein. Der Teil der Handlung, der bei Shakespeare zwischen Posthumus Leonatus, Imogen und Jachimo spielt, stammt aus einem altfranzösischen Roman, von dem es eine Reihe Bearbeitungen gibt, die auch zu einer Novelle Boccaccios Veranlassung gegeben haben. Die Namen aber, die Shakespeare diesen Gestalten gibt, finden sich in keiner dieser Bearbeitungen, und ebensowenig die geringste Verbindung dieser Abenteuer mit der Geschichte des Königs Zymbelin. Ein Seitensproß dieses Handlungsteils, das Verhältnis Imogens zu ihrer Stiefmutter und deren Gift, ihr Scheintod bei seltsam von der Menschheit abgeschiedenen Höhlenbewohnern im Wald, kann an Schneewittchen und ähnliche Märchen gemahnen. Der alte Edelmann Belarius und sein Prinzenraub stellen einen ferneren Teil der Handlung dar, der an eine andere Novelle des Boccaccio erinnert. All solche Erinnerungen, zumal bei märchenhaften Novellenmotiven, die durch alle Völker und Zeiten wandern, beweisen aber gar nichts dafür, daß wir mit diesen Überlieferungen Shakespeares wirkliche Vorlagen haben. Die Annahme vielmehr, Shakespeare selbst habe diese ganz verschiedenen Geschichten zu einer fabelhaft bunten, gestopft vollen Handlungsgemeinschaft aufs kunstvollste verbunden, ist mir sehr zweifelhaft. Vielmehr erinnert das Ganze, wie es beisammen ist, so auffallend an die Geschichten von Geschichten mit immer neu sich hebenden Schleiern und immer neuen unerwarteten Wendungen, wie wir sie aus den orientalischen Märchen etwa von Tausendundeine Nacht, aus altfranzösischen, altitalienischen, spanischen Erzählungen und den deutschen Volksbüchern kennen, daß es mich sehr wahrscheinlich dünkt, daß diese Verknüpfung schon vorher in einer jetzt nicht mehr vorhandenen Erzählung dagewesen ist. Wesentliche Änderungen in der Motivierung, eine Menge Einzelzüge und vor allem das ganz fabelhafte Unternehmen, diese buntgedrängte Fülle der Gesichte in der Form des leibhaft für alle Sinne dargestellten Dramas, die fabulierte Unwirklichkeit, die Märchenhaftigkeit in Gestalt lebendig bewegter Wirklichkeit vorzuführen, dieses vorher wie nachher Unerhörte schreibe ich Shakespeare zu. Diese Märchen, Volksbücher und Abenteuerromane, die alle richtige Lese- und Schmökerbücher sind, haben es an sich, daß in ihnen nicht Bestimmtheit, Festigkeit, unverwischbare Einprägsamkeit ist, sondern in aller nüchtern sachlichen, nur Tatsachen referierenden Erzählung eine Art traumhaft musikalisches, wiegendes Weitergleiten, wo man ganz süchtig dem Erzähler hingegeben ist und es einem das wichtigste ist, daß immer neue Bilder, Überraschungen, Erregungen, Spannungen und Stimmungen auftauchen. Man will nicht eine Sache erfahren und diese dann stehen lassen, wie sie ist; sondern will sich der bunt wechselnden Dingwelt bedienen, um gerührt, betroffen, gestreichelt, gekitzelt zu werden; eine sehr objektive, chronikalische Darstellung ist das Mittel zu völliger Subjektivität schmachtender, lechzender Gefühle. Diese Art Roman ist bei uns aus doppelter Auflösung entstanden: aus der Auflösung der christlich ritterlichen Erotik ins Bürgerliche und aus der Auflösung der festen, rhythmisch gebannten epischen und episch-lyrischen Form in Prosa. Es ist beides dasselbe: Sehnsucht, die mit Dogma, Sitte und Form beschränkt und bemeistert war, ist in Schrankenlosigkeit zerflossen. Mit alledem hängt es zusammen, daß man diese Geschichten nur vernehmen und schlürfen, nicht behalten will; sie tragen Vergessenheit in sich: immer wieder Vergessen des Stofflichen wie Selbstvergessen des Hörers oder Lesers; man hat das Bedürfnis, diese Geschichten wie Musikstücke, die mehr als faßliche Melodie, die außen strömende und wallende Harmonie sind, immer wieder zu genießen. Das ganz Eigentümliche an Shakespeares romantischem Bühnenspiel ist nun, daß er solch ein völlig romanhaftes Gebilde zum Drama gemacht hat, daß das Unfeste, Schwimmende, Schimmernde der buntbewegten Abenteuerfolge zugleich mit der Bestimmtheit von Gestalten, die vor unsern Sinnen stehen, auf uns eindringt. Weder kann ich nun die lebendige Kenntnis der Handlung voraussetzen -- sie ist ebenso bunt und vielfältig und abenteuerlich und im Romanhaften zerronnen, daß man sie immer wieder vergißt -- noch kann es meine Aufgabe sein, sie hier ausführlich zu erzählen. Ich will nur an die Hauptpunkte erinnern, vorher aber noch einmal darauf hinweisen, daß, was fürs Gedächtnis des Lesers schwer zu behalten ist, dem Zuschauer ohne weiteres sinnenmäßig eingeht: das ist Shakespeares eigene Größe, daß seine Dramen zugleich im Bühnenmäßigen und im Sprachlichen gipfeln, daß sie lebendigste Natur und höchster Geist, daß sie Sinn und Sinnlichkeit sind. Das Stück heißt König Zymbelin, wie es Shakespeare immer liebt, getreu dem Prinzip der Gliederung oder Rangordnung -- ~ab Jove principium~ -- seine Darstellung eines großen Zusammenhangs nach dem Herrschenden zu benennen. Die Gestalt aber, die von innen her in dem Stücke herrscht, die die Einheit herstellt, um die sich alles dreht und die die verschiedenen Kreise mit einander in Berührung bringt, ist dieses Königs Tochter Imogen. Die Kompliziertheit der Handlung ergibt sich schon aus der ersten Personalangabe: König Zymbelin ist in zweiter Ehe mit einer Witwe verheiratet. Seine Söhne erster Ehe sind vor langer Zeit rätselhaft verloren gegangen; seine Tochter erster Ehe hat zu seinem Zorn einen Edelmann unter ihrem Stande geheiratet; die Ehe soll aufgelöst werden, sie soll den Sohn, den die zweite Frau aus einer früheren Ehe mitgebracht hat, Cloten, heiraten. Der Mann, Posthumus Leonatus, wird verbannt; er fährt nach Italien. In einer internationalen Gesellschaft wird er mit dem Italiener Jachimo bekannt und geht mit ihm eine gefährliche Wette ein: seine Frau, die Königstochter Imogen, sei rein und treu; jede Verführung müsse an ihr zuschanden werden. Hier sei gleich darauf hingewiesen, wie Shakespeare in Märchenstücken dieser Art mit voller Absicht und auch mit vollem Recht die Kulturelemente mischt: der Kaiser Augustus des Volksbuchs ist ein ganz anderer als der des Plutarch; und der Verfasser von Antonius und Cleopatra wußte, was er tat, als er diesmal zur Zeit des sogenannten Cäsar Augustus moderne Franzosen und Italiener einführte. Jachimo reist nach England; sein kecker Versuch, Posthumus zu verleumden, Imogen zu verführen, mißlingt. Nun verleitet ihn Gewinngier, Eigensinn, Ehrgeiz dazu, die Wette durch Betrug zu gewinnen: in einer Kiste, die er von innen öffnen kann, läßt er sich in Imogens Schlafzimmer tragen; er prägt sich die Einrichtung dieses Gemachs und intime Merkmale an Imogens Körper ein. Mit dieser Wissenschaft reist er nach Italien zurück; so überzeugt er schließlich Leonatus; die Wette war eigentlich darum gegangen, ob es Ehre und Treue beim Weibe überhaupt gebe; Posthumus war in der galanten Männergesellschaft mit seinem Glauben allein gestanden, der ihm jetzt zusammenbricht; Imogen ist ein Weib. Sein Vertrauter Pisanio soll sie ermorden; der rettet sie; als Knabe verkleidet kommt sie in Wales in eine Waldhöhle zu einem alten Mann und seinen zwei Söhnen; sofort entsteht seltsame Sympathie der drei jungen Menschenkinder zu einander; es sind ihre Brüder, die der Alte in ihrer Kindheit aus Rache und zum Pfand gestohlen hatte; Cloten in den Kleidern des Leonatus -- sie hatte einmal gesagt, ein Rock ihres Mannes wäre ihr lieber als der ganze Dümmling Cloten -- kommt sie zu suchen und gewaltsam an sich zu reißen; der eine Bruder gerät in Streit mit ihm, tötet ihn und schlägt ihm den Kopf ab. Derweile ist Imogen von all ihrem Leid krank geworden; sie trinkt eine Arznei, die sie von ihrer Stiefmutter erhalten hat; die Königin hält den Trank für Gift; der Arzt, der es gut meint, hat ihr aber nur ein Betäubungsmittel gemischt. Die Brüder halten den geliebten Jüngling Fidele -- ihre Schwester Imogen -- für tot, den Rumpf Clotens wollen sie fromm neben Fidele bestatten; die Leichenfeier halten sie ab; sie entfernen sich. Imogen erwacht; neben sich erblickt sie den Toten ohne Kopf in den Kleidern ihres Manns; sie ist verzweifelt; der Feldherr der Römer, der gerade im Kampf mit Zymbelin des Wegs zieht, nimmt Imogen-Fidele als Pagen mit. Derweile ist Leonatus in tiefer Reue über das, was er -- vermeintlich -- getan hat. Als römischer Offizier kommt er nach Britannien, hilft aber, als Bauer verkleidet, die Schlacht zugunsten seines Vaterlands entscheiden. In diesen Entscheidungskampf zur Rettung der Unabhängigkeit Britanniens greifen ebenso der Alte -- der verbannte Edelmann Belarius -- und die Söhne Zymbelins unerkannt ein. Mit dem Feldherrn der Römer kommt Imogen gefangen an des Vaters Hof, und so löst sich alles: Leonatus und seine Frau finden sich wieder, die beide einander als tot beweint hatten; Zymbelin erhält seine Söhne zurück; der reuige Betrüger Jachimo wird begnadigt. Hat man sich so den Gang der Handlung im groben vergegenwärtigt, wobei noch viele Episoden unerwähnt geblieben sind, so muß man wahrlich noch einmal ausrufen: Welch erstaunliches Drama! Wie begreift man jetzt, daß Shakespeare auch der Verfasser des dramatisierten Reiseromans Perikles ist, der nur eine leichte Vorarbeit zu diesem dramatisierten Volksbuch zu sein scheint. Gar nicht zu leugnen, daß dieses Stück nicht minder wie etwa Kleists Käthchen von Heilbronn in gewissen Teilen zum Gebiet der Schauerromantik gehört und daß die schnelle Aufeinanderfolge der immer auf Irrtümern und Verwechslungen beruhenden Verzweiflungsausbrüche das Kino vorwegnimmt. Es sieht aus, als habe es Shakespeare gereizt, eben das Fürchterlichste und Schaurigste immer noch ins Spiel der Romantik und des bloßen Scheins abzubiegen, die Tragik immer wieder auf die Schwelle treten zu lassen und ihr jedesmal den Eintritt zu verweigern. Überdies aber bot der Stoff eine Fülle von Gelegenheiten, in der Handlung und in dem aus ihr fließenden gesprochenen Wort die Zusammenhänge und Gegensätzlichkeiten zu behandeln, die dem Dichter besonders am Herzen lagen. Eines dieser Themen ist das allgemeine Mißtrauen der Geschlechter gegen einander, zumal des Manns, der sich als Herrn betrachtet, gegen die Frau. Entsprechend der Mode der Zeit, wie sie in der internationalen Novellenliteratur zum Ausdruck kommt, wird in den Kreisen, in die Leonatus in Italien kommt, als Regel vorausgesetzt, daß die Frau den abwesenden Ehemann betrügt. Und Hahnrei sein ist nicht bloß und nicht einmal in erster Linie ein privater Schmerz, sondern, wenn es bekannt und nicht gerächt wird, eine gesellschaftliche Schande: die List der Frau erweist sich dann stärker als die Herrengewalt des Mannes. Bei solchen Ehebrüchen trifft die Entehrung nur den Ehemann; der überwiesene Einbrecher verliert nichts an seiner gesellschaftlichen Geltung. Aus solcher Modegesellschaft und Konvention der Leichtfertigkeit heben sich nun Leonatus und Imogen als Ausnahmemenschen der Reinheit und des Adels; sie sind in Vertrauen und hohem Geist geeint. In der Entfernung aber, wie der Betrug ihm handgreifliche Beweise liefert, verzweifelt er und glaubt, Imogen sei, wie die Weiber alle sind; da kommt es zu einem ungeheuren Ausbruch der Verachtung gegen das weibliche Geschlecht. Die Situation, in der sich Leonatus da findet, ist in der örtlichen Entfernung von seinem Weibe genau dieselbe wie die Othellos, der mit Desdemona zusammen und doch so vielfach von ihr geschieden ist: Leonatus lebt nicht mehr in der Sicherheit des Wissens vom Innern dieses fremden Menschen, der dem andern, dem ewig unbekannten Geschlecht angehört; und die Verstrickung durch die Lüge ist so, daß Imogen überführt ist; denn wie kann Leonatus annehmen, daß ein geachteter Mann, gegen den nichts vorliegt und der keinen Grund hat, ihn zu hassen, um einer Wette willen ihn so raffiniert umgarnt! Es ist wieder die Wahl, ob der Ehemann einem ehrlichen Mann oder der Frau, die er nur durch seine Liebe kennt, glauben soll; und wieder fällt die Entscheidung gegen die Frau aus. Eine sonderbare Vorstellung von dem Dichter Shakespeare würde man sich nun machen, wenn man nicht annähme, er habe bei diesen Teilen der Handlung und bei den entsprechenden im Wintermärchen ebenso an seinen Othello gedacht, wie wir es tun. Beide Male entscheidet der Mann wie Othello: das Weib muß sterben; und beide Male glaubt der Mann, die Tat der Rache auszuführen. Beide Male aber geschieht diese Ausführung im Wahn; der Mann überlebt seine Tat, bereut sie, wünscht sie sehnlichst ungeschehen; und zum Schluß zeigt sich: es war alles nur wie verzerrter Traum und Fieber; die Tat ist in der Ausführung ins Reich des Spieles gefallen; die Umkehr des Ehemanns und sogar des Betrügers steht nicht im normalen Kausalzusammenhang mit der Rettung der verleumdeten Unschuld: das Schicksal hat auf abenteuerlichen, wunderbaren Wegen eingegriffen, und Natur und Gottheit haben wieder gutgemacht, was die schnelle Rachetat schon vollendet glauben mußte und was die Reue nicht mehr wenden konnte. Das üppige Gedränge der Geschehnisse läßt dem Dichter gar nicht den Raum, das Innere seiner Gestalten so zu eröffnen und sie so in schaudernder Wirklichkeit aus Seelengrund heraus leben zu lassen, wie in seinen Tragödien des früheren Stils; Leonatus lebt uns nicht wie Othello, und Jachimo nicht wie Jago; und auch Imogen, obwohl ihr des Dichters besondere Liebe gilt, ist uns keine Desdemona: die Charaktere sind nicht ausgeführt, und wir brauchen die Erinnerung an jene andern Stücke Shakespeares, wenn wir die Lücken in der Seelenenthüllung, die skizzenhaft bleibt, ausfüllen wollen. Auch Cloten, der Dümmlingsprinz, steht nicht fest in seinem Charakter; je nachdem die Handlung eine Gelegenheit zu Weisheit und Polemik bietet, läßt der Dichter ihn manchmal erstaunlich kluge Sätze der Erfahrung sprechen. Es ist aber offenbar Shakespeare bewußt, daß er es diesmal anders macht; wenn uns seine Offenbarungen aus dem Reich der Affekte unendlich wertvoll sind, so ist doch deutlich zu erkennen, daß er in diesen Stücken gerade dieses Gebietes überdrüssig war: er hatte genug von Haß, Rache, Mordwut, Umdunkelung und Gier; in seinem Timon ließ er einen Menschen in Haß und Grimm losbrüllen; was er aber haßte, war die Gemeinheit der ichsüchtigen Menschen; für sich wollte er nichts; Rache übte er im Namen der verratenen Menschheit an eben dieser verräterischen Menschheit; und seine Rache kam so grotesk übertrieben heraus, daß sie ganz unwirklich und nur Bildersprache eines Phantasiemenschen wurde; und was der Dichter so überwunden hatte und wessen Überwindung durch eine nicht den Dämonen unterworfene, sondern geisterfüllte, göttliche Natur und Vorsehung er gerade zeigen wollte, das wollte oder konnte er auch nicht mehr mit intensiver, erbarmungsloser Kraft darstellen. Nicht zu leugnen, daß diese Teile im Zymbelin, zum Beispiel des Leonatus Posthumus Monolog, in dem die Wut gegen das ganze weibliche Geschlecht ihn übermannt, von dem virtuosen Dichter aus Erinnerungen an früher aus dem Tiefsten geschöpfte Ausbrüche gespeist werden. Um so wunderbarer, wie er im Wintermärchen in einigen Szenen noch einmal mit voller Kraft zur Tragödie zurückkehrt, um dann die Szenen des Spiels, der Heiterkeit, der Überwindung sich ganz rein und leicht dagegen abheben zu lassen. Im Zymbelin ist eines ins andre gemischt, und Shakespeare rettet sich da vor der Tragik, die ihm Unlust und Qual zu bereiten scheint, vor allem in die äußerliche Romantik der sich überstürzenden und aller Wirklichkeit spottenden Abenteuer- und Wunderhandlung, die freilich das Element des Spiels und vor allem der in starken Gegensatz zur Zivilisationsverderbnis gestellten reinen und unschuldigen Natur schon in sich birgt. Ganz entzückend sind die Szenen im Walde, wie Imogen, die sich schon immer vom Hofe weg in ein Leben der Einfachheit und Natur gewünscht hatte, auf der Flucht in Knabentracht zu ihren jungen Brüdern und dem alten Mann kommt, der die Knaben dem Hof geraubt und in der rauhen, gesunden Wildnis hat aufwachsen lassen. Dreierlei kommt da teils zur Sprache, teils zur Gestaltung: der Gegensatz zwischen der Einfachheit und Redlichkeit der Natur und der höfischen Lüge; der angeborene Adel und heldenhafte Sinn, das Königsblut, das sich in den beiden Prinzen meldet, obwohl sie nichts von ihrer Herkunft wissen; und schließlich die Stimme des Bluts, das die Geschwister in sofortiger, zwingender Liebe zu einander zieht, wiewohl sie sich nicht kennen. In diese Szenen hat der Dichter eine Fülle der Kraft, der Polemik, der Weisheit und der Zartheit gestreut. In all den Stücken dieser Art bekommt man den Eindruck, Shakespeare habe seine Werke vor allem für die jungen Herren vom Adel aufgeführt und es habe ihm Freude gemacht, ihnen immer wieder anschauliche Lehren zu erteilen. Sofort zu Beginn dieses Teils, mit dem eine ganz neue Handlung einsetzt, wird das niedrige Tor der Höhle mit den hohen prächtigen Türen in Königsschlössern verglichen: Bückt euch, ihr Knaben: Das Tor lehrt euch den Himmel ehren, gebeugt Zu frommem Frühdienst. Königstore sind So hoch gewölbt, daß Riesen durchstolzierten Samt ihrem frechen Turban, ohne Gruß Der Morgensonne. -- Heil dir, schöner Himmel! Wir hausen hier im Fels, doch wir begegnen Dir nicht so hart, als die in Schlössern wohnen. Und wie dann der Alte die Knaben auf die Jagd den Berg hinauf schickt, gibt er ihnen sofort wieder eine Lehre: Ich bleib’ im Tal. Seht ihr von oben mich Wie eine Krähe, denkt, der Platz nur macht Uns klein und groß; bedenkt, was ich erzählt Von Höfen, Fürsten und von Kriegeslist. Die Jungen aber wollen in die Welt; sie wollen sich nicht mit Erzählungen belehrend moralischer Art und Warnungen abspeisen lassen; sie wollen selber ihre Erfahrungen machen, um auch einmal so ein weiser Alter zu werden. Da bietet sich dann gleich wieder Gelegenheit zu einer Beschreibung der argen Welt: Wucher in den Städten; künstliches, geschmeidiges Treiben am Hof; Bevorzugung des Schlechten und Unechten auch im Kriegswesen. Wie nun Imogen als Knabe Fidele dazu kommt, verbindet sich mit dieser Reinheit des Naturlebens, die auch sie sofort als Gegensatz zum Hof empfindet, der Zug der Liebessympathie: die drei jungen Menschen nennen sich, ohne zu ahnen, wie wahr es ist, unter einander Bruder, und Imogen erweitert diese Liebe zum Wunsch allgemeiner Menschenverbrüderung: „Sind wir nicht Brüder?“ Mensch und Mensch sollt’s sein! Doch sieht der Lehm in Würden stolz auf Lehm Herab und ist doch all ein Staub! Wunderschön, groß und rein ist dann, wie nach dem vermeintlichen Tod Fideles da tief im Waldesinnern das Natur-Requiem angestimmt wird; und auch hier wieder wählt Shakespeare den seltsamen Weg, Tragik in Spiel zu wandeln, daß er uns vorher wissen läßt, die Trauer sei echt und rein, doch Grund zu ihr sei nicht da: was da als tot beklagt wird, lebt noch! Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit verkündet dieses Natur-Requiem als Lehre der idyllischen Natur und des nivellierenden Todes, eines Todes, der nur Schein und Maske tötet, aber nicht das Wesen: der Tod macht frei; der Tod macht alles gleich; vor dem Tod sind wir Brüder: Scheu nicht mehr das Machtgebot; Fern von des Tyrannen Streich, Sorg nicht mehr um Kleid und Brot, Dir ist Schilf und Eiche gleich. Zepter, Weisheit, Heilkunst werden All auf einem Weg zu Erden. Vieles im Wintermärchen erinnert an Zymbelin: auch da in der Mitte eine adlige, seelenvolle Frauengestalt; unbegründete, jäh ausbrechende Eifersucht des Mannes gegen sie; das allgemeine Milieu wieder die Hahnrei-Mode und Frauenverachtung, Frauendienstbarkeit; der Gegensatz von Hirtenleben und Hof; die märchenhafte, romantisch abenteuerliche Sphäre der Handlung. Aber es darf nicht geleugnet oder verschwiegen werden, daß das Wintermärchen das Werk eines Meisters, König Zymbelin aber trotz wunderbar schönen und tiefen Einzelzügen das Werk eines wirren oder müden Suchenden und in elenden und gänzlich mißratenen Einzelzügen das Werk eines Pfuschers ist. Der Unterschied zwischen den beiden zeitlich und stofflich so benachbarten Werken ist viel größer als der zwischen Clavigo und Götz; er ist so groß wie zwischen dem Großkophta und dem Egmont oder zwischen Claudine von Villabella und Iphigenie. Damit aber, daß ich an diese ungeheuere Verschiedenheit im Werk Goethes erinnere, verfolge ich noch einen Nebenzweck. Goethes Leben ist historisch, ist von Tag zu Tag bekannt; Shakespeares Leben ist mythisch; von ihm als Menschen wissen wir eigentlich, wenn unter Wissen völlige Sicherheit zu verstehen ist, nichts. So wenig aber, wie eine Möglichkeit vorliegt, Goethe ein Werk darum abzusprechen, weil es seines Idealbildes nicht würdig ist, weil es tief unter seinem Besten zurückbleibt, so wenig dürften wir Shakespeare für unfähig halten, sich hie und da recht von Herzen oder herzlos gehen zu lassen oder in die Irre zu gehen oder auch etwas zu schreiben, was durch geheimnisvolle vergängliche Beziehungen, die wir nicht mehr nachfühlen können, seiner Zeit viel bedeutete, uns aber zu großem Teil nichts als abstrus ist. Daß Zymbelin von Shakespeare stammt, ist freilich noch nie bezweifelt worden; aber auch bei diesem Werk hat man, obwohl nichts dafür und alles dagegen spricht, von einer Bearbeitung einer Jugenddichtung reden wollen und hat auch da wieder den Versuch gehabt, solche Teile, die einem besonders mißfielen, flugs für Einfügungen von andern zu erklären, obwohl in Wahrheit die Handlungsteile und selbst die Intermezzi so alle mit einander verzahnt sind, daß sich gar nichts herausnehmen läßt. Daß doch die Leute immer einen Normaltypus brauchen! Da sie Shakespeare zum Durchschnittsmenschen nicht machen können, muß er der unentwegt Große und Fehlerlose sein. Er war aber weder der betrunkene Wilde, als den ihn die französischen Kunstrichter sahen, noch wird je die Sorte Klassiker aus ihm werden, zu dem ihn die Klassenlehrer machen wollen. Ich glaube das Große, Neue zu ahnen, zu dem Shakespeare mit König Zymbelin unterwegs war, und habe versucht, es auszusprechen; wie der Schluß, den wir heute von Goethes Faust haben, auf dem Wege der Resignation entstand, weil der Dichter ungeheuer viel Größeres, von dem wir Proben in den Paralipomenen haben, nicht hat bewältigen können, so ist das Wintermärchen im Vergleich zum Zymbelin darum wieder meisterlich, weil Shakespeare sich da in seinem Suchen nach dem neuen Ausdruck einer neuen Lebensstimmung beschränkt hat: er hat im einen Teil die alten bewährten Methoden seiner großen Tragödie, und im andern Teil die gleichfalls bewährten Methoden des romantischen Lust- und Schäferspiels angewandt und hat das Schwerste des Schweren, die Verbindung dieses Zweierlei zu einem neuen Stil, wozu er im Zymbelin und im Timon und im Perikles lauter verschiedene und im großen Ganzen nicht gelungene Anläufe genommen hatte, aufgegeben. Auf dem Wege über die Zweiteilung des Wintermärchens ist ihm dann zwar nicht das Ungeheure, unaussprechlich Neue, nach dem er gerungen hat, aber doch eine edle, reife Einheit gelungen in seinem Schwanengesang, dem Sturm. ~The Winter’s Tale~ heißt in der Tat das Wintermärchen; die Übersetzung ist ganz richtig. Die Erklärung findet sich in der entzückend lieblichen Szene, wo der junge Prinz, Leontes’ und Hermiones Sohn, in der traulichen Frauenstube von den Hofdamen verhätschelt wird und nun anfängt, seiner Mutter und den jungen Damen ein Märchen zu erzählen. Traurig soll es sein, meint er: Ein traurig Märchen Paßt besser für den Winter. Das Schöne ist nun, daß wir hier in diesem traurig ernsten Drama ganz im Märchen und dabei ganz im Menschlichen sind; das Märchenhafte wird nicht mit den üblichen Mitteln und Requisiten hergestellt. Der Prinz wollte ein Märchen von Gespenstern und Kobolden erzählen; in dem Stück aber greift, wenn man von dem nebensächlichen Orakel von Delphos (die Insel Delos ist gemeint) absieht, gar keine Geistermacht ein. Das Märchenhafte liegt ganz in der Stimmung des Ganzen, in dem, was die Romantiker im feinsten, duftigsten Sinne Ironie genannt haben: in aller menschlichen Ergriffenheit verlieren wir nie das Gefühl: es ist ein Spiel. Und gelenkt wird das Spiel von einer Frau, die zugleich die böse und die gute Fee ist, von Paulina, der Freundin Hermiones: sie rächt die Frau am Zorneswahn des eifersüchtigen Mannes. Das Wintermärchen ist nächst dem Porzia-Stück, das Der Kaufmann von Venedig heißt, das frauenhafteste Drama Shakespeares: Hermione, Paulina und Perdita sind in ihren verschiedenen Tönungen die Vertreterinnen lieblich ernster, natürlicher, fein gebildeter, denkender Unschuld. Und Paulina ist so herzhaft, tapfer, konsequent bis zur Unerbittlichkeit, so stark und scharf in ihren Reden, man fühlt so lebhaft, wie sie -- so sagt man ja wohl -- „ihren Mann steht“, daß man -- es ist ja doch ein Spiel, ein Spiel mit dem bösen Popanz von Mann, und ein anmutig tiefsinniges Spiel mit uns Zuschauern -- daß man den Bericht von Hermiones Leben in Verborgenheit und den sechzehn Jahren, die sie so zur Strafe für den Wüterich fern war und für tot galt, gern hinnimmt: daß diese Flucht aus der Ehe und aus dem Leben psychologisch so trefflich aus der tiefgekränkten Seele der Frau heraus motiviert ist, ist uns wichtiger als die Frage nach der äußern Wahrscheinlichkeit; ja wir sind sogar lächelnd bereit zu helfen und sagen -- es ist ein Märchen, sechzehn Jahre sind’s, damit Perdita inzwischen heranwächst; im übrigen mag’s wohl kürzer dauern. Was sonst die Anachronismen und geographischen Freiheiten angeht, so ist das Nötige darüber schon vorhin bei Gelegenheit von Zymbelin gesagt worden: der Dichter braucht diese Aufhebung der von Zeiten, geographischen Wirklichkeiten und Kulturen gesteckten Grenzen für die Märchenstimmung. Und überdies haben die rechtes Unglück, die aus so einem Fabelland wie dem am Meer gelegenen Königreich Böhmen Shakespeares Unbildung beziehen wollen: diese und ähnliche Angaben übernahm Shakespeare aus seiner Quelle, einer Novelle von Greene, der ein akademisch graduiertes gelehrtes Haus war. Die zwei Teile des Märchens werden von der Zeit, die dazwischen als Chorus auftritt, getrennt; der erste Teil besteht aus drei Akten, die aber zusammen kürzer sind als die beiden letzten, und die ersten zwei sind besonders kurz; durch ein überhitztes Fiebertempo müssen sie noch zu besonders raschem Verlauf gebracht werden, während die beiden letzten mit den Schäfer-, Spitzbuben-, Liebes- und Erwartungssehnsuchtsszenen breit, behaglich und dann wieder schmachtend ausladen müssen. Dieser zweite Teil mutet an wie eine Verbindung von niederländischer Malerei und Romantik; wie wenn auf einer Kirmeß von Teniers eine sehnsuchtsvolle Musik, die nicht enden will, gespielt würde. So falsch es ist, in Othello den Vertreter der Eifersucht zu sehen, so wahr ist, daß König Leontes an typischer Eifersucht, an Eifersucht als Gewohnheit und Wesenszug erkrankt ist. Wie er im Grunde ist, wenn diese Wahnsinnswut ihn nicht umklammert, sehen wir ihn erst spät; beim ersten Auftreten, beim ersten Wort ist verzehrende Eifersucht in ihm. Der Grund ist einmal, was wir vorhin bei Zymbelin sahen, die allgemeine Mißachtung der Frau, die gesellschaftliche Bereitschaft, ihr nicht zu trauen. Der Kampf der Geschlechter wird nicht aufhören, solange die Welt steht; kennt kein Mensch mit ganzer Sicherheit den andern Menschen, so noch weniger je ein Mann eine Frau und die Frau den Mann; die Ehe also ist ein Bund besonderer Vertrautheit auf dem Grunde besonderer Fremdheit. Kommt dazu das männisch-befehlshaberische Regiment im Formalen des Hauses und Staates und die Lockerung der Zügel im tatsächlichen Leben der Zivilisation, so daß Frauenanmut und Frauenwitz öffentlich hervortreten, so bilden sich die Zustände in der Gesellschaft aus, die diesen Stücken die Voraussetzung liefern. Überdies aber kennt der König etwas nicht, was in solcher Zivilisation der Renaissance sich frei an die Öffentlichkeit traut und was Hermione in wundervoller Unbefangenheit kennt und übt: Freundschaft zwischen Mann und Frau. Sie gesteht, unvorsichtig genug, frei und groß, daß sie den Jugendfreund ihres Mannes, den König Polirenes von Böhmen, liebe, wie es ihr Recht und ihre Pflicht sei. Ausdrücklich läßt Shakespeare sie diese Freundschaft Liebe, ~love~ nennen, obwohl nicht die leiseste Spur Begier oder Sexualität darin ist; Shakespeare weiß aus ernstem und tiefem Freundschaftsleben, aus seiner ganzen starken innigen Menschlichkeit, daß der Eros, aber darum noch lange nicht die Geschlechtlichkeit, überall ist, wo Menschen sich in Sympathie zu einander neigen und finden. Ich liebt’ ihn, wie sein Wert es forderte, Mit solcher Art von Lieb’, als einer Frau Wie mir geziemte. Auch Desdemona, wiewohl sie noch ganz ein Mädchen und von Natur und Liebe aus viel mehr zur Unterwürfigkeit geneigt ist als die reife, selbstbewußte Hermione, die ihren Gatten nicht mehr ehrt als sich selbst, hatte ihren Trotz und ihre Unschuld darein gesetzt, Cassio freundschaftlich zugetan zu sein und es ihrem Mann und aller Welt zu zeigen; Hermione geht weiter und macht geradezu zur Bedingung ihrer Ehe und ihres Lebens, daß sie in der Freiheit und freien Äußerung ihres Gefühls nicht beschränkt werde. Er aber, der eifersüchtige Narr, beobachtet unter Qualen jedes Lächeln und gar den Händedruck, das Streicheln und dann den Erfolg ihrer liebreichen Bitten, zu denen er selbst sie veranlaßt hat, der Freund möge noch bleiben. Es ist wahr, daß Hermione sehr weit, bis an die äußerste Grenze geht und die Mißdeutung nicht scheut; es ist wahr, daß ihr Verhalten eine Probe und eine Prüfung für den Gemahl ist. Daß ihre Reinheit ihr dazu aber das Recht gibt, das sehen wir daran, daß der König -- wie ganz anders als in dem Stück von Othello und Jago! -- keinen einzigen Menschen findet, der seinen Wahnsinn teilt oder begünstigt: alle ehren sie die wundervolle Frau; Camillo, sein treuer Minister, tritt dem Herrn scharf entgegen und verrät ihn schließlich lieber, als daß er im Dienst seiner Narrheit dem unschuldigen König von Böhmen ans Leben geht. Nur Leontes -- vielleicht im Gefühl, daß er sie nicht verdient -- hat kein Vertrauen mehr; es bohrt und wühlt in ihm, bis die volle Wut ausbricht; nun war sie von allem Anbeginn an niedrig und treulos: sein Sohn ist nicht von ihm, und das im Gefängnis neugeborene Mädchen gewiß nicht: die Zeichen treffen ein, neun Monate gerade ist der König von Böhmen in Sizilien zu Gast. Wie er dann anfängt zu toben -- wir haben es kommen sehen, es hat sich lange genug vorbereitet, hat sich so lange in ihm eingedrückt und ihn wie eine Feder zusammengepreßt, daß er mit einem Mal losbrechen muß --, wieder der Frau, der Hochschwangeren den schlimmsten Schimpf ins Gesicht sagt, da ist es himmlisch, wie sie, aufs tiefste verletzt, fest und mild erwidert. Kaum versteht sie, was er Fürchterliches meint, so denkt sie schon an ihn: Wie wird Euch dieses schmerzen, Wenn Ihr zu hell’rer Einsicht kommt, daß Ihr Mich also habt beschimpft! -- Liebster Gemahl, Ihr könnt mir kaum genug tun, sagt Ihr dann, Daß Ihr Euch irrtet. Sehr zu beachten ist aber, daß sie, die beschimpft und tödlich beleidigt ist, die das Vertrauen ihres Gemahls verloren hat, die ins Gefängnis abgeführt wird und gerichtet werden soll, nicht da getroffen wird, wo Seele und Körper an einander grenzen: sie ist nicht gebrochen oder außer sich; es kommen ihr, und sie weist selbst darauf hin, keine Tränen; so himmlisch mild ist sie nicht von der Sphäre des Naturtriebs und des Körpergefühls her; in ihr lebt der göttliche Funke des Geistes; ihre Milde kommt daher, daß sie das Wesen des gepeinigten Mannes mit einem weiten Blick übersieht; der Überblick über den Zusammenhang macht es ihr möglich, den schweren Fehler dessen, über den dieser Zusammenhang bis zur Verblendung und Betäubung zusammenschlägt, übersehen, nachsehen zu können; nur für solche geistige Naturen ist im Verstehen das Verzeihen inbegriffen. Zum Verzeihen ist sie im voraus geneigt für den Zeitpunkt, wo er wieder zu sich, wo er zur Erkenntnis kommt; mit dem, der er jetzt ist, zu leben ist ihrer Würde unmöglich. Bis dahin übernimmt die Führung ihre kluge, resolute Freundin Paulina, die Verstand, Mutterwitz in hohem Maße, aber nicht diesen schon fast nicht mehr menschlichen Geist der verzeihenden Milde besitzt. Sie läuft vor allen Dingen zum König; ihm muß die Meinung gesagt, muß der Kopf zurechtgesetzt werden. Solch ein Narr! Solch ein Wüterich! In all ihrer Herzhaftigkeit hat sie etwas entschieden Humoristisches, den Durchschnittsmenschen gegenüber lustig Überlegenes an sich. Diese Höflinge! Was für Mannesseelen! Wie sie sich den Mund selber verbinden, wie sie brav schlucken können, diese armen Schlucker! Muß erst eine Frau kommen und tapfer die Wahrheit heraussagen? Wir finden Antigonus, ihren Mann, und die andern Herren vom Hof verhältnismäßig tapfer, im Verhältnis nämlich zu dem wütenden Tyrannen, zu dem die Eifersucht diesen König macht. Paulina aber, in zärtlicher Bewunderung für die herrliche Frau und innigem Mitgefühl, hat nur Sinn für das Verhältnis zur Reinheit und Hoheit Hermiones. Wie es dann zu der abscheulichen Gerichtsfarce kommt, noch mehr, wie das Kindlein ausgesetzt wird und ihr eigener schwacher Mann sich dazu hergibt, dies Entsetzliche zu besorgen, wie die Königin in tiefer Ohnmacht totengleich daliegt, da ist Paulina entschlossen: mit diesem Mann, für diese Untat muß die Männerwelt bestraft werden, die eine Hermione nicht verdient. In ihr leben kann auch Hermione nicht mehr; für ihre Ehre ist sie in großer Haltung, tapfer auf Freiheit und Menschenrecht bestehend eingetreten, solange es not tat; nun die Ehre durch den Orakelspruch des Gottes gerettet ist, muß sie tun, was ihre Seele schon immer begehrte: sich zurückziehen aus dieser Welt. Ihr Sohn, der Erbe ihres Geistes, dieses phantasievolle Kind, ist, weil er sich die Kränkung seiner Mutter und den Riß, der seine Eltern trennte, zu lebhaft vorstellte, gestorben; ihr neugeborenes Mädchen ist in der Wildnis ausgesetzt worden; sie hat keine Wirklichkeit mehr, nur noch die Hoffnung auf das Wunder, daß dieses Kind irgendwo lebt und ihr wiederkehrt; das ist das einzige, was sie im Leben hält. So der Abgeschiedenheit geweiht ist aber von nun an auch Leontes, ihr Gemahl. Jetzt, wo er sich in einer nicht wütigen, in einer ganz stillen Reue verzehrt, wo er die Frau für tot, an ihm gestorben halten muß, erkennen wir ihn erst in seinem wahren Wesen. Aber wir ahnen das beinahe nur; das tragische Schattenspiel verschwindet; die alte Welt dämmert in ihrem Todleben dahin; wir leben mit der neuen Generation. Der Übergang ist, wie es dem Sinnspiel taugt, märchenhaft: Antigonus, der das Kind in einer Wüste aussetzen sollte, wird mit dem Schiff an Böhmens Küste verschlagen, im Traum naht sich ihm die Gestalt Hermiones, die er, da er wohl von Gespenstererscheinungen, aber nichts davon weiß, daß der Geist einer Mutter aus ihrem Körper steigen und in Angst und Sorge dem Kinde nachgehn kann, für tot halten muß; die Frau, die, als ihr Gemahl sie bitter kränkte, ob diesem Einsturz des gesellschaftlichen Gefüges, der Ehe nicht hat weinen können, vergießt jetzt, wie sie um die Frucht ihres Leibes sich härmt, strömende Tränen; sie fordert, daß Antigonus das Kind in Böhmen lasse, und gibt dieser Tochter den Namen Perdita. Dann verschwindet die Erscheinung; bleibe es ganz dahingestellt, ob Shakespeare hier ein Märchen gedichtet oder mit vielen Denkenden unter unsern Zeitgenossen an eine solche Fernkraft und Reisegabe der Seele geglaubt hat. Das Schiff, das das Kind hergebracht hat, scheitert und geht unter; Antigonus wird von einem Bären zerrissen; Perdita von einem Schäfer in Pflege genommen. Nun räumt die Zeit die sechzehn Jahre weg: wenn der Vorhang sich wieder öffnet, ist in der neuen Generation aus der edeln Freundschaftsliebe zwischen Sizilien und Böhmen die echte innige Liebe zwischen Mann und Weib geworden, wo Naturtrieb, Seeleninnigkeit und geistige Achtung in einem beisammen sind: Perdita, die Schäferin, und Florizel, der Sohn des Königs von Böhmen, haben sich in Liebe gefunden. Nun entsteht aufs feinste und natürlichste, so daß es nicht eigentlich in die Aufmerksamkeit unsres Verstandes, nur in unsre Ahnung und unsre Lust eingeht, in allem, was in Böhmen geschieht, ein Gegenstück zu dem, was vordem auf Sizilien vor sich ging. Hier in Böhmen sind wir in der freien Natur, im ländlichen Leben, in Spiel und Tanz; wieder, wie einst am Königshof, kommt die Wut und stört die Liebe; die Wut des Königs von Böhmen ist es diesmal gegen den Prinzen Florizel, seinen Sohn, der eine Schäferstochter liebt und heimlich heiraten will; wie aber im ersten Teil Konvention, Pathos und Tragik walten, so hier durchaus Freiheit, Heiterkeit und Komik. Wir wissen von Anfang an, daß diesmal Natur und Adel vereint sind, daß Perdita die vermeintliche Schäferstochter ihrem Geliebten ebenbürtig ist; wir wissen, daß die Wut diesmal nicht zu tragischem Konflikt führen kann. Es ist diesen Stücken eigentümlich, daß Maske und Verkleidung gewählt wird, um gewagten Ernst aussprechen zu lassen. Im Zymbelin wird das gesunde Bauerntum den verderbten Höflingen gegenübergestellt, und die Bauern sind es, die das Vaterland retten; schließlich aber waren es doch nur verkleidete Bauern, waren es Ebenbürtige, war alles nur warnendes Spiel. Hier im Wintermärchen wird jede Gelegenheit benutzt, um von dem alten Schäfer und seinem Sohn in treuherzigem Ernst, von dem lustigen Spitzbuben Autolykus in überlegenem Spott, von Perdita in natürlichem Selbstgefühl am Hof und seiner Überhebung Kritik üben zu lassen. Stolz und freimütig ist dieses Naturkind Perdita; kaum kann sie sich enthalten, dem König ins Gesicht zu sagen, Die selbe Sonn’, die seinen Hof bestrahlt, Verberg’ ihr Antlitz unsrer Hütte nicht, Nein, schau’ auf beide; aber sie ist damit das echte Kind ihrer Mutter; es kommt nicht zum wahren Gegensatz und zur wahren Ebenbürtigkeit der Bäuerin und des Fürsten; darf in diesen Dramen nur in Maske und Spiel Rousseausche Naturstimmung nicht zu Ereignis, bloß zu Wort kommen? Zu starkem, innigem und leidenschaftlichem Wort freilich; auch die Handlung läßt sich so an, als ob die Natur über die Standesunterschiede hinwegschritte, bis dann die letzte Wendung kommt. Der Prinz ist bereit, um seiner Liebe willen auf alle Vorrechte zu verzichten, es genügt ihm, sein Liebesgefühl zu erben und weiter nichts; der Minister Camillo ist gewillt, ihm zur Ehe mit dem Schäferkind zu verhelfen. In der Tat ist für Shakespeare der Adel, der Geblüt heißt, und der Vorrang, der diesem Geblüt zukommt, nicht bloß eine gesellschaftliche, sondern eine Naturtatsache. Dieser Adel, diese natürliche Auszeichnung vererbt und kumuliert sich, kann also nicht ohne weiteres für nichts, für bloße Konvention erachtet werden. Die ganze Schärfe von Shakespeares Kritik richtet sich gegen die Vertreter des Adels und Fürstentums, die nicht erwerben wollen oder können, was sie als Vätererbe besitzen; in den Waldszenen Zymbelins und verwandter Stücke, in den Dorfszenen des Wintermärchens kritisiert er nicht den Adel als Vererbung, sondern den Adel als Milieu, zeigt er, wie Leben und Erziehung in Natur und ländlicher Einfachheit so unsäglich viel gedeihlicher ist als in der Verderbtheit des Hofes. Manche seiner Gestalten gehen weiter und sind zu der Anschauung bereit, daß diese Verderbnis schon erblich, schon Verfall geworden ist, daß also der angeborene Adel Ausgenommener, Vornehmer nicht mehr in der Natur existiert; der Dichter selbst tut diesen Schritt noch nicht; vielleicht mußte er auch nur von späteren Generationen getan werden, weil das Leben des Adels, gegen das der Dichter seine Polemik richtete, in der Folgezeit nicht besser, nur schlimmer wurde und den natürlichen Vorzug der Privilegierten, der einmal Wirklichkeit war, allmählich in diesen Jahrhunderten vernichtete. Da der Geburtsadel in Shakespeares Zeit noch etwas anderes war als in unserer, da die Rückwirkung des Lebens auf den Keim noch nicht so verderbend gewirkt hatte, bot dieses Stück Natur ihm auch noch Probleme, die wir nicht ganz mehr so lebendig erfassen wie seine Zeit. Da ist vor allem das Problem der Auffrischung des Adels durch Volksblut, das Problem der Bastards, das Shakespeare immer wieder gereizt hat. Hier im Wintermärchen ist es wunderfeine Ironie, wie der, der bald zum Wüterich gegen seinen Sohn werden soll, König Polixenes, dem Landmädchen, das, ohne es zu wissen, eine Fürstin ist, von dem er aber demnächst vermeinen muß, sie verführe seinen Sohn den Prinzen zu einer unadligen Vermischung, Unterricht über den Wert der Bastardierung erteilt. In Perdita wie in den Söhnen Zymbelins bricht das fürstliche Blut immer durch; sie weiß nur nicht, was es ist, und nimmt es für Natur schlechtweg. Ihr vermeintlicher Vater, der alte Schäfer, schilt sie aus über ihre vornehmen Manieren; und wie sie sich dann entschließt, bei dem Fest und der Bedienung der Gäste mitzuhelfen, wählt sie die adlige Weise: sie begrüßt die Gäste mit Blumen. Da kommt nun die Rede auf eine Blume, die sie in ihrem Garten nicht duldet: der gestreifte Sommerveiel, den manche, sagt sie, auch den Bastard der Natur nennen: Ich hörte, Nicht bloß die große schaffende Natur, Auch Kunst hab’ Teil an ihrer Buntheit. Da belehrt er sie: Immer bleibt Die Kunst, von der Ihr sagt, sie woll’ Natur Verbessern, von Natur geschaffne Kunst. Ihr seht, holdselig Mädchen, wir vermählen Ein mild’res Pfropfreis mit dem wilden Stamm, Befruchten eine Rinde schlechter Art Durch edle Knospen. Dies ist eine Kunst, Die die Natur verbessert, nein, verändert; Doch diese Kunst ist selbst Natur. Solche Blumen, solche Züchtungen, ermahnt er, solle sie nicht Bastarde nennen. Vielleicht müssen wir uns selbst mit unserer Phantasie einer vergangenen Zeit aufpfropfen, um den ganzen holden Liebreiz dieser Szene zu empfinden, wo derselbe Mann die Bastardierung rühmt, der dann, wo’s ihm und seinem Geschlecht ans Blut geht, wütend aufbegehrt, und wo wir doch als Eingeweihte im voraus wissen, daß die, die er mit Auge und Herz erst so hold und dann mit Konvention und Verstand so verächtlich findet, in jedem Betracht eine adlige Natur ist: dem Geblüt nach adlig und nicht vom verderbten Adelsleben, sondern von der Natur erzogen. Vielleicht aber wird es uns auf unserm Weg zur Zukunft hin gut tun, wenn wir uns lebendig auf diesen Standpunkt Shakespeares versetzen? Vielleicht ist unsre Zeit, die nichts von Züchtung und Erlesenheit weiß, nur ein Übergang und eine Zwischenstufe? Will die Aufführung mit der Wiedergabe dieses zweiten Teils dem Sinn der Dichtung gerecht werden, so ist es nicht genug, in diesem vierten Akt, in den Szenen der weltunerfahrenen Bauern, des gerissenen Spitzbuben, des holden Liebespaars Anmut, Derbheit und Lustigkeit zu vereinigen und darüber dann die Wolke der Königswut streichen zu lassen. Es muß vielmehr, wie es fortwährend in Worten geschieht, so auch in der Stimmung dieser Szenen der Gegensatz zwischen der natürlichen Freiheit, die hier waltet, zu der gepreßten Hofluft des ersten Teils enthalten sein. Wir müssen nachträglich spüren, daß zwischen der konventionellen Hahnrei- und Despotenwut des Königs Leontes und den konventionellen Lastern des Hofes ein Zusammenhang besteht. Wir müssen begreifen, warum es Prinz Florizel auch am Hof seines Vaters nicht aushält und zu den Schäfern gegangen ist, warum Autolykus, der einst eine gute Stellung am Hofe und seine wohlgekleidete und -genährte Sicherheit hatte, lieber durchs Land streicht und sich mit Gaunereien durchhilft, als seine Freiheit und Heiterkeit wieder einzubüßen. Die Teile dürfen nicht von einander getrennt sein; der Dichter hat zwischen allen einen Zusammenhang hergestellt; es hat seinen guten Grund, warum Autolykus der freie Vagabund den Prinzen, der dem Hof entflieht und den Menschenadel in der reinen Natur sucht, lieb hat und seine Schelmenstreiche nur für ihn, nicht gegen ihn anlegt. Kommen wir von dem Gebiet der Freiheit, in dem Perditia und Florizel sich fanden, zum Hof des Königs Leontes zurück, so mutet uns die Wandlung, die dort, die vor allem in der Seele dieses Königs vorgegangen ist, an, als ob sie dieser Natur und Heiterkeit, von der wir herkommen, verwandt wäre. Indem wir, nach der argen Pressung in der wütigen Gewalttätigkeit, jetzt bei Tanz und Lied und Spiel und derber Schelmerei und Ironie waren, erlebten wir in der erleichterten Behaglichkeit, die in uns einzog, etwas, was der Befreiung des Konventions- und Affektsklaven entspricht, die in all der Zwischenzeit in unsrer Abwesenheit geschah. Wir glauben an sie, weil wir selbst in derselben Richtung entspannt wurden; weil die Freiheit der Natur das äußere Bild und die Vertretung der moralischen Freiheit ist. So löst sich nun alles: der Minister Camillo, einer der seltenen Ehrenmänner, die am Hofe aufrecht und selbständig bleiben, und Autolykus, der das Intrigieren, das er am Hofe gelernt hat, gern in Freiheit besorgt, bringen die Handlung in Gang: das Liebespaar flieht nach Sizilien, der König folgt ihm nach, und dort wird Perdita an den Gegenständen, die ihr Pflegevater bewahrt hat, und vor allem an der Ähnlichkeit mit der Mutter erkannt. So ist denn das Wunder geschehen, um dessentwillen Hermione in Abgeschiedenheit, ohne an einem Leben teilzunehmen, am Leben geblieben war: das Kind ist da, eine neue Zeit ist gekommen, eine neue Generation, eine neue Art Fürst, der den Adel in der natürlichen Freiheit aufgerichtet hat, und von innen, von Reue und Liebe und Vernunft her, ist Erneuerung und Befreiung auch über den König, ihren Gemahl gekommen. Der hat gelernt: der Jugendfreund, dem seine Eifersuchtswut galt, ist ihm jetzt der Bruder; und wie nun Hermione, von den liebenden Blicken dieses Freundes zuerst als lebendig erkannt, sich aus der Starrheit der Statue löst, da ruft Leontes, selbst wie ein aus langem, bösem Zauber Erlöster, den beiden, seiner Frau und seinem Freunde, zu: O vergebt, Daß zwischen eure heil’gen Blicke je Ich schnöden Argwohn warf. Hermione aber scheint Blicke und Sprache nur noch für eines zu haben: für ihr Kind, auf das sie geharrt hat, das ihr aus der Freiheit geschenkt wird und in der Freiheit den Geliebten fand. Was immer auch dieser Verlorenen, dieser Perdita das Leben bringen wird: sie wird ein Weib sein, das, in sich den ererbten Keim des Adels tragend, in Freiheit aufgewachsen, von der Natur erzogen, ebenbürtig neben ihrem Gemahl stehen wird; in dieser Generation gibt es beim Mann nicht die Knechtschaft unter rohe Triebgewalt und Konvention, beim Weibe nicht die Versklavung unter den Mann; Mann und Weib, ein Paar in Natur, Freiheit, Adel. Das Märchen, das uns diese Dinge anschaulich und in Stimmung und in manchem Wort der Weisheit und Polemik zeigt, ohne je der Abstraktion oder Allegorie zu verfallen, das Wintermärchen ist zu Ende; mit kaltem Grauen hat es begonnen, mit Frühlingshoffnungen, durch die noch ernste Trauer webt, schließt es: das Märchen von Männerwut, Frauenheiligkeit, Frauengeist, Frauenklugheit und Frauengericht; das Märchen von den Sklaven der Affekte und Satzungen und von den Freien der Natur und des Adels. Es ist uns nicht im entferntesten so ausgelassen zumut wie dem frech gemeinen Klassenlosen und Enterbten Autolykus; aber das spüren wir doch, wie er’s beim ersten Auftreten fast im Jubel gesungen hat: es sprießt wieder unterm Schnee, die Liebe und die süße Zeit wollen wieder ins Land kommen, und das rote Blut herrscht allmächtig in der Blässe des Winters. Der Sturm Mehr als einmal in diesen Betrachtungen habe ich Grund gehabt, Übersetzungen Schlegels als ungenügend oder falsch zu bezeichnen; oft habe ich auch stillschweigend bei ihm wie bei andern den Text von Stellen, die anzuführen waren, selbständig oder durch Aushilfe bei andern Übersetzern verbessert. All die Ungenauigkeiten, Irrtümer, Lässigkeiten und Abschwächungen, die man bei Schlegel gefunden hat und noch findet, ändern aber nichts daran, daß er der größte, daß er der wundervolle Übersetzer Shakespeares in die deutsche Sprache ist. Es bleibt ein noch immer unersetzter Verlust, daß er nicht alle Stücke Shakespeares übersetzt hat; lange schon haben wir ihn vermißt; in der Folge von Stücken, die hier behandelt werden, war Hamlet das letzte, dessen deutsche Fassung von ihm stammt. Der Sturm aber ist wieder von Schlegel übersetzt, und in den entscheidenden Höhepunkten wenigstens ist diese Nachdichtung ganz so trefflich wie seine andern Übersetzungen; in den lyrischen Partien freilich fehlt dem deutschen Ausdruck manchmal die Sicherheit und Notwendigkeit, der feste Sitz des Bildes und der Stimmung im Rhythmus. Aber selbst wenn diese oder sonst eine deutsche Fassung so gut wäre, wie sie irgend sein kann, sollte jeder, der dazu imstande ist, mit oder ohne daneben gelegte Übersetzung den Sturm im Original lesen: diese Mischung von Zartheit und Derbheit, Roheit und Lieblichkeit, Feinheit und Gemeinheit, Naturgewalt und Geistesschärfe, inniger Lyrik, plumper Prosa und schließlich noch dämonisch elementarer Schlechtigkeit im hohen Ton der Verssprache ist ganz unnachahmlich. Die Tradition sagt, der Sturm sei Shakespeares letztes Stück; es spricht nichts dagegen, unser Wunsch spricht dafür, beweisen läßt es sich nicht; der Zymbelin, das Wintermärchen, auch Heinrich VIII. stammen aus derselben Zeit, den Jahren zwischen 1610 und 1612. Die Herausgeber der Gesamtausgabe von 1623 haben den Sturm als erste in der Reihe der Komödien gebracht und damit an die Spitze der ganzen Ausgabe gestellt; auch diesen Umstand können wir, da das Gedicht in der Fassung, in der es uns einzig vorliegt, ein ganz spätes Stück sein muß, so deuten, als hätten Shakespeares Freunde diese erste Gesamtausgabe mit seinem letzten Drama als seinem Vermächtnis und einem weihevollen und tief persönlichen Dokument beginnen wollen. Was unser Wissen auf Grund von äußeren Tatsachen angeht, so steht eigentlich nur fest, daß der Sturm im Jahre 1613 schon vorgelegen ist: da wird er von Ben Jonson polemisch erwähnt. Daß Shakespeare wahrscheinlich eine Stelle in Montaignes Essays benutzt hat, deren englische Übersetzung 1603 erschienen ist, sagt uns für die Abfassungszeit so gut wie nichts; und daß er den Bericht Silvester Jourdans über eine Entdeckung der Bermudas, sonst die Teufelsinseln genannt, vorher gekannt habe und nicht vor 1610, wo er im Druck erschien, gekannt haben könne, ist eben auch nur wahrscheinlich. Und gewisse Dokumente, die Nachrichten über Aufführungen bei Hof 1611 und -- zur Hochzeit des Winterkönigs -- 1613 bringen, stehn im Verdacht der Fälschung. Wir wissen gar nichts davon, wo Shakespeare den Stoff her hat. Aber es besteht eine Ähnlichkeit, die nicht zufällig sein kann, zwischen Handlungsteilen des Sturm und der „Komödia von der schönen Sidea“ des im Jahre 1605 schon gestorbenen deutschen Dramatikers Jakob Ayrer. Was uns von der Handlung dieser Komödie angeht, ist folgendes: Der Fürst in Littau, Sideas Vater, ist vom Fürsten in der Wiltau seines Reichs beraubt und in die Wildnis getrieben worden. Mit einem Zauberstab bannt er den Teufel Runcifall, der ihm prophezeit, er werde dadurch wieder zur Macht gelangen, daß er den Sohn seines Feindes gefangennehme. Dies geschieht denn auch mit Hilfe des Zauberstabs; der gefangene Sohn des Feindes wird streng gehalten, muß Klötze schleppen und Holz hacken; Sidea ist seine Wärterin, die bald Mitleid mit ihm empfindet und sich von ihm entführen läßt. Nach allerlei Abenteuern, die mit Shakespeares Stück keine Berührung haben, werden sie vermählt; es kommt zur Versöhnung und zur Wiedereinsetzung von Sideas Vater in sein Reich. Das Stück enthält sonst noch eine Menge meist komische Dinge, die nichts mit dem Sturm zu tun haben. Daß Shakespeare nun dieses Stück gekannt und daraus den Stoff zu seinem Gedicht bezogen habe, ist sehr unwahrscheinlich; der Weg eines Dramas, und gar eines noch ungedruckten -- erst 1618 erschienen Ayrers Theaterstücke im Druck -- von Deutschland nach England war bedeutend weiter als von England nach Deutschland. Überdies gibt es eine Novelle in einer Sammlung des Spaniers Antonio de Eslava, die ähnliche wunderbare und zauberhafte Vorfälle an den Streit eines Königs von Bulgarien und eines Kaisers von Konstantinopel anknüpft; diese Erzählung wurde 1609 oder 1610 gedruckt, und insofern spräche nichts dagegen, daß Shakespeare, Ayrer und dieser Spanier aus einer gemeinsamen Quelle, einer uns unbekannten Novelle geschöpft haben. Den Schauplatz und den Namen der Fürstenhäuser bei einer solchen Benutzung einer Vorlage jedesmal zu verändern, war in der Zeit bei Dichtern und Handwerkern allgemein üblich. Nun spricht mir aber einiges dafür, daß der Zusammenhang noch komplizierter ist. Ich möchte mich einer Vermutung anschließen, die Tieck geäußert hat: daß der Nürnberger Ratsschreiber Jakob Ayrer von einem aus England stammenden Stück angeregt wurde, das er von den sogenannten englischen Komödianten in deutscher Sprache gehört haben kann. Der Teufel, der bei Ayrer in den Dienst des Zauberfürsten gezwungen wird, heißt Runcifall, und dieser Name weist auf englische Herkunft hin: Runcival, von Ronceval aus der Rolandsage stammend, heißt im Englischen Riese; und Ayrers Teufel hat nichts Geistiges oder Ätherisches an sich wie Ariel, sondern ist ein ungeschlachter Kerl mit Riesenkräften. Sind wir aber von Ayrers Stück her erst auf die Vermutung geführt worden, daß es vor unserm Sturm ein englisches Stück gab, das die nämliche Hauptfabel behandelte, so können wir der Annahme nicht wohl ausweichen, daß nicht bloß der Deutsche Ayrer, sondern vor allem der englische Schauspieler und Theaterdichter Shakespeare mit diesem früheren Zauberstück etwas zu tun hatte. Wir reden da freilich nur von Möglichkeiten, und mit jeder weiteren Vermutung, die wir auf eine Vermutung bauen, wird unser Weg luftiger. Nachdem ich das aber gesagt habe, darf ich den Mut haben, noch weiter zu muten: für ganz ausgeschlossen kann ich’s nicht halten, daß das Stück, dessen Bearbeitung Ayrer vielleicht kennen gelernt hat, ein verloren gegangenes Stück des jungen Shakespeare war, daß also unser Sturm die reife Bearbeitung eines Jugendwerks wäre. Was mich dazu bringt, mit dieser Möglichkeit zu spielen, ist einmal das Stück, das Meres 1598 in seiner „Palladis Tamia“ neben zwölf andern, darunter der Verlorenen Liebesmüh’ als eine von Shakespeares Komödien rühmt: ~Love’s labour’s won~, Gewonnene Liebesmüh’. Dieser Titel würde für eine jugendliche Behandlung des Zaubermärchens ausgezeichnet passen; und die Versuche der meisten Ausleger, ihn einem der vorhandenen Lustspiele Shakespeares zuzuschreiben, das der Dichter später anders benannt hätte, wollen mir nicht recht einleuchten; Titel wie Wie es euch gefällt oder Ende gut, alles gut oder Viel Lärm um nichts deuten darauf hin, daß Shakespeare sich für Stücke dieser Art gern mit einem Namen begnügte, auch wenn er nicht viel besagte; wenn zum Beispiel, wie meist angenommen wird, Ende gut, alles gut früher Gewonnene Liebesmüh’ geheißen hätte, würde ich nicht recht einsehen, was Shakespeare dazu gebracht haben könnte, diesen ausgezeichneten Titel, unter dem sein Stück schon so früh Berühmtheit gefunden hätte, wieder aufzugeben. Dagegen wäre mit meiner Annahme durchaus erklärt, warum das schon 1598 berühmte Stück Gewonnene Liebesmüh’ von dem Herausgeber der Gesamtausgabe nicht aufgenommen wurde: weil es nur eine unvollkommene erste Fassung eines so vollendeten Stückes wie Der Sturm wäre. Überdies aber finde ich in unserm Sturm eine Stelle, über die ich nur mit Hilfe der Annahme hinwegkomme, daß sie ein Rest aus einer früheren Fassung ist. Es ist sehr wahrscheinlich, daß in der Vorlage, nach der Ayrer arbeitete, die beiden Fürsten, deren einer den andern entthronte, keine Brüder waren; der biedere Mann hätte gewiß eine solche Steigerung des Konfliktes, wenn er sie vorgefunden hätte, nicht getilgt; sowohl bei ihm wie bei dem spanischen Erzähler handelt es sich um einfache, nicht durch Verwandtschaft und besondere Ruchlosigkeit komplizierte Feindschaft. Die Stelle, die ich meine, deutet mir nun darauf hin, daß erst der reife Shakespeare diese Änderung der äußern Handlung vorgenommen hat und sich so die Gelegenheit verschafft hat, nochmals auf das Rachethema seines Hamlet zurückzukommen, und daß in seinem eigenen Stück die Feinde anfangs keine Brüder waren. Jetzt ist es so, daß an der ruchlosen Entthronung und Aussetzung Prosperos, des Herzogs von Mailand, zwei Fürsten beteiligt sind: sein Bruder Antonio und Alonso, der König von Neapel. Dieser Alonso hat einen Sohn Ferdinand, und dieser bringt mit seiner von Prospero geförderten Liebe zu Miranda die Feindschaft zur Aufhebung und Versöhnung und brüderliche Menschenliebe zum Sieg. Sowie Shakespeare die Feinde zu Brüdern machte, konnte der Jüngling, der beim ersten Blick in Liebe zu Miranda fiel, nicht mehr der Sohn des Usurpators von Mailand sein, weil er sonst der blutsverwandte Vetter seiner Geliebten gewesen wäre, und das ging nicht an; der Sohn des Feindes wiederum mußte er aber sein, und so mußte ein zweiter Feind in Gestalt des Königs von Neapel erfunden werden, unter dessen Lehnsoberhoheit der Usurpator Mailand verräterisch gebracht hatte. Diese Entwicklung der Fabel folgere ich aus der Tatsache, daß nur bei Shakespeare von Bruderfeinden die Rede ist, und aus der einzigen Stelle, die ich jetzt zu nennen habe. Wie Ferdinand zum ersten Mal vor Prospero erscheint, erwähnt er in dem Bericht von dem Schiffbruch, den er erstattet, einen Sohn des Herzogs von Mailand, der auch mit untergegangen wäre: Der Herzog Mailands und sein guter Sohn Auch unter dieser Zahl, -- worauf Prospero, der nur sich als echten Herzog von Mailand anerkennt, beiseite bemerkt: Der Herzog Mailands Und seine beßre Tochter könnten leicht Dich widerlegen -- -- Wir wissen aber, daß in Wahrheit niemand untergegangen ist; feierlich versichert Prospero seinem Kind von vornherein, Daß keine Seele, nein, kein Haar gekrümmt Ist irgend einer Kreatur im Schiff --. Wo ist aber dann dieser Sohn des Usurpators von Mailand, dieser Neffe Prosperos hingekommen? Nur dies einzige Mal wird er erwähnt; wir finden ihn nicht bei den Gestrandeten, er existiert gar nicht, die Stelle ist nur aus Versehen stehen geblieben. Sie zeigt mir aber, daß Shakespeares Fabel zuerst so aussah wie die Ayrers: zwei Feinde, nicht verwandt, der eine hat einen Sohn, der andre eine Tochter, die zwei werden mit Hilfe mächtigen Zaubers ein Liebespaar. Als dann die Feinde Brüder wurden, mußte ein neuer Sohn und zu ihm, da er durchaus der Sohn eines Feindes sein mußte, ein neuer Feind als Vater erfunden werden; der ursprüngliche Sohn blieb zuerst auch noch im Stück; späterhin aber -- vielleicht, als aus wichtigem inneren Grund noch ein neuer Bruder, der Bruder des Königs von Neapel, Sebastian eingeführt wurde -- konnte Shakespeare mit dem ersten Sohn nichts mehr anfangen, und so existiert er nur noch in dieser einen Erwähnung, die merkwürdigerweise aus dem Munde des andern Sohnes kommt, der ihn verdrängt hat. Ist aber diese meine Erklärung der rätselhaften Stelle richtig, wie mich wahrscheinlich dünkt, weil sie die Veränderung, die Shakespeare mit der überlieferten Fabel vornahm, auf Gründe innerer Handlung zurückführt, so muß man annehmen, daß Shakespeares Stück auf einer früheren Stufe eine Handlung hatte, die der von Ayrer behandelten einfacheren Fabel entsprach, und so findet die Annahme, Ayrers Vorlage könnte ein Stück des jüngeren Shakespeare gewesen sein, eine Stütze. Ich wiederhole: von alledem wissen wir nichts. Es kann so sein, und es ist sogar einer der ausphantasierten Zusammenhänge, in die ich ein wenig verliebt bin; aber würden irgendwelche bestimmte Daten entdeckt, so wäre die plausible Phantasie vielleicht widerlegt. Denkt man aber daran, wie allgemein üblich es in der Shakespearephilologie ist, auf eine nicht ganz sichere Vermutung oder nicht ganz eindeutige Tatsache ganze Häuser zu bauen, so möge man meine mit geziemender Vorsicht vorgebrachte Hypothese, wenn man nicht an sie glaubt, wenigstens zur Erschütterung anderer Hypothesen benutzen, die nicht besser begründet sind. Daß der Geist dieses Stückes nur von Shakespeare, und nur vom reifen Shakespeare stammt, ist sicher, und so gut wie sicher, daß viele Einzelzüge der äußern Handlung, die zur Motivierung und zur Gegenüberstellung der drei Reiche dienen, wie die Gestalten Calibans und Ariels, die Repräsentanten der niedern Sphäre Trinkulo und Stefano, der Rat Gonzalo, der neue Brudermordversuch, von ihm gedichtet sind. Immer hat man in dieser Komödie etwas besonders Weihevolles und eine tiefere Bedeutung gefunden; hat man schon Hamlet mit Goethes Faust verglichen, so hat man, wozu sehr viel Grund besteht, den Sturm wiederum mit Hamlet und auch mit Faust in Parallele gesetzt; Strindberg, dem der Sturm mit seinem Geist der Vergebung und Versöhnung in seiner letzten Zeit besonders nah gehen mußte, hat sogar daran erinnert, daß der Name Prospero eine ähnliche Bedeutung hat wie Faustus: der Begünstigte, der Götterliebling, der Gedeihliche. Immer hat man bei diesem Geistesfürsten auch an eine besondere Beziehung zu Shakespeare dem Dichter und zu seinem Abschied von der Produktion gedacht; und auch dazu besteht Grund genug. In der Tat darf man sich bei dem Drama von Prospero, dem Fürsten der Geister, der sein letztes und höchstes Werk, das Werk der Versöhnung anstatt der Rache tut, an Shakespeare und die Werke seiner letzten Periode gemahnen lassen, an die alles verzeihende Milde am Schluß des Zymbelin, an das Wintermärchen, an die Gestalt Katharinas in Heinrich VIII.; an Shakespeare bei dem Geisterkönig, der nun den Zauberstab in die Erde versenken und sich zur letzten Ruhe bereiten will. Und man darf noch weitergehn, man darf im allgemeinen bei dem Stück im Sinne haben, daß dieser Dichter in seinem Denken, Wollen, Phantasieren, im Gefühl seines Könnens und seiner Berufung immer mit den Dingen des Regiments, der Ordnung, der Gesellschaft, des Staats zu tun hatte und daß ihm doch so gut wie jede tatsächliche Einwirkung, jede Stellung gebieterischer Art genommen war. Dichten ist immer Resignation, das Phantasieland immer ein Exil, Form immer Beschränkung, Metrum der Verse und Maß der Gesinnung beim genialen Menschen immer nur der Maßlosigkeit abgerungen, und Shakespeare, wie jeder überragend große Mann des Geistes, fühlte sich von seinen Zeitgenossen, von den Gewalthabern der Öffentlichkeit in die Einsamkeit verbannt und wie auf eine Insel gestoßen. Von dieser seiner von Wildheit umbrandeten Insel des Geistes aus hat er dann, wie mit Zaubermitteln, die aus der Entfernung wirken, alle Elemente der Natur und alle Geistermacht in Bewegung gesetzt und dann doch noch, tief in die Seelen hinein gewirkt; ohne irgend welche physische, tödliche Macht, nur durch die Gewalt des Worts, durch eine geistige Magie ohnegleichen hat er gezwickt, geplagt, geneckt, bloßgestellt, entlarvt, vergolten und gestraft: und nun, ganz reif, ruhig, friedfertig, müde geworden hat er nur noch Werke der Liebe, der Versöhnung, des zauberischen Spiels getan, um schließlich den Zauberstab niederzulegen, sich von allem zurückzuziehen und zum Sterben zu gehen. All das darf und soll uns das Stück in seinen Höhepunkten immer wieder umschweben, darf die seltsamen Vorgänge mit Weiterem, Tieferem, dessen Zeichen und Ausdruck sie sind, in Verbindung bringen; doch mehr auch nicht. Abgesehen von einer kleinen festlich-lyrisch-mythologischen Einlage, in der sich Shakespeare dem Zeitgeschmack anbequemt, ist er auch in diesem mit Bedeutung geladenen Drama keineswegs ein Allegoriker; die Vorgänge enthalten die Bedeutung in sich; sie weisen nicht auf Bedeutungen hin, die irgendwo draußen wären. Keineswegs dürfen wir meinen, es seien Rätsel oder Chiffern zu raten, und Ariel, Miranda, der Liebesbund, Caliban usw. bedeuteten das und das. Diese Gestalten und Vorgänge bedeuten sich selbst; die gesamte Handlung, die äußere wie die innere, erleben wir in aller Märchenhaftigkeit als Wirklichkeit und gewahren so mit allen Sinnen, im Gemüt und im Denken ein sinnvolles Spiel von der Überwindung und Rache für Gewalttat nicht durch Blut und Mord, sondern durch Geistesmacht, der die Natur mit all ihrem Bösen und Guten dienstbar ist. Und so viel wir uns durch eine allegorische Deutung nehmen, beeinträchtigen, fälschen würden, so verkehrt wäre auch der Versuch einer rationalistischen Erklärung. Zu solcher natürlichen Erklärung der Wunder dieses Schauspiels gäbe sich mancherlei her: verhärtete Leute, die schlimme Dinge auf dem Gewissen haben, sind, könnte man sagen, an einer Fieberinsel gestrandet; in der Krankheit kommen allerlei Wahnvorstellungen und Besessenheiten über sie, die alten Sünden erwachen und nehmen die Form von Halluzinationen an. Auch hier ist es so, daß wir all dessen gedenken, daß uns solche Begleitvorstellungen auftauchen dürfen; die Welt der Seele ist in allen Formen und Verkleidungen, seien sie Musik oder Begriffssprache oder Märchen oder Krankengeschichten, dieselbe; aber Shakespeares Ganzes und Echtes haben wir nur, wenn wir ins Land seiner Dichtung gehen und diese Zauberwelt drei Stunden lang als Wirklichkeit nehmen. Auch darnach brauchen wir, hier so wenig wie anderswo bei Shakespeare, viel zu fragen, wie weit er an solche Geister und Dämonen geglaubt hat. Daß er in Glaubensvorstellungen irgendwelcher bestimmten Einkleidung nicht befangen, daß er nicht ihr Sklave war, daß sein die Religion als Kunst war, die unsre Romantiker als Ironie begründen wollten, geht daraus hervor, daß Vorstellungen abergläubischer Art sich ihm niemals da einschlichen, wo sie nicht hingehörten. So war es für seine Ausdrucksgewalt, für den Reichtum seiner Motive, für die Selbstverständlichkeit, mit der er sich in den Mythologien der Antike, der Christenheit, der Naturvölker und niederen Stände bewegte, ein bedeutender Vorteil, daß solche Vorstellungen zu seiner Zeit im Volk wie in der gelehrten Literatur völlig lebendig waren; der Zeitgeist im allgemeinen glaubte an Hexen, Teufel, Geister, Elfen, magische Bücher und Beschwörungsformeln und an die ausnahmsweise Möglichkeit des Verkehrs zwischen Menschen und dämonischen Mächten. Ich habe schon früher gezeigt, wie dieser Glaube mit der Naturwissenschaft, mit dem Versuch, das neue Wissen zu einem ungeheuern Können zu steigern, die Religion durch die Wissenschaft zu erneuern und zur übergewaltigen Macht des Geistes zu erheben, in engster Beziehung stand; es darf hinzugefügt werden, daß unsre strenge, kahle, logische Scheidung zwischen einer berichteten Tatsache, an die man glaubt, und der tieferen Bedeutung, dem Sinn, den ein solcher Bericht, etwa ein heiliges Dogma ausdrückt und der diese geglaubten Tatsachen von den Gefühlen unendlichen Hinüberlangens, Ausgreifens und Aufschwebens begleiten läßt, so daß ein Jauchzen und eine Gewißheit, die selige Schau der Wahrheit in uns ist, -- daß diese Scheidung und dieses Unvermögen zum Mythos dem Zeitalter des Glaubens, dem die Renaissance gerade noch angehört, so fremd waren, wie uns in Wahrheit dieser echte Glaube fremd geworden ist: wir kennen nicht mehr die Erschütterung und Durchdrungenheit durch das Epische, durch die Erzählung von Geschehnissen, in der sich der Sinn und die Hinweisung auf ewige, über die Sinnenwelt hinausführende Bedeutung birgt. Shakespeare steht dieser Welt des Mythus, des Dogmas, des Kultus als ein Bewältiger gegenüber, der gerade noch fähig ist, sich überwältigen zu lassen; als ein Heller, der, wie im Licht, so noch in der Flamme steht; als ein Freier, der die Ehrfurcht noch nicht verlernt hat; als ein Weiser schließlich, der noch ein Kind sein kann. Er steht der Zeit noch nahe, in der in Deutschland jener Georgius Sabellicus durchs Land zog, der sich den jüngeren Faustus nannte; und sein Zeitgenosse war Giordano Bruno, -- mit dem er in jungen Jahren sogar persönlich verkehrt haben könnte. Wie in der Luther- und Faust- und Hamletstadt Wittenberg, so auch in London hat der italienische Genius des Lichts und der Flamme längere Zeit gelebt; der junge Shakespeare war damals schon in London, und es spricht gar nichts dagegen, daß Bruno, der dem Philipp Sidney ein Buch gewidmet hat, den jungen Dichtersmann persönlich kennen gelernt haben könnte. In ihm wäre Shakespeare dem genialsten Vertreter des Typus, der zugleich Ketzer und Magier, Gläubiger und Naturforscher, Philosoph und Mystiker war und dem das Element des Geistes mit Spiel und Neckerei und satirischer Plage der Bösen und Dummen in engster Beziehung stand, nahe getreten; dem Vertreter des Typus, der mit Faust und Prospero zur dichterischen Mythusgestalt erhoben worden ist. Eines aber bringt Shakespeares Sturm und die Stellung seines Prospero in Gegensatz wie zu der Rolle der Geister und Elementardämonen in Macbeth und Sommernachtstraum so zur Faustsage noch in ihrer letzten, höchsten Gestalt bei Goethe. Im Macbeth und im Sommernachtstraum kommt es zu keinem Bunde der Geisterwelt mit den Menschen, zu keiner Dienstbarkeit: was innen in den Menschen schon dämonisch, lockend, verführerisch, irreführend da ist, scheint draußen in der Natur noch einmal, parallel, wie eine Spiegelung, zu leben; das Reich der Geister ist dem Seelenleben des Menschen wie eine Verstärkung oder wie das Quellgebiet, aus dem all seine wilden Triebe zu fließen scheinen. Im Sommernachtstraum halten sich die Geister in kühler Ferne; sie greifen wohl ein, necken, hetzen, plagen oder begünstigen; aber der Mensch hat keinen Einfluß auf sie und keine unmittelbare Kenntnis von ihnen; sie sind, was bei ihrem schwebenden, flitzenden Wesen ganz gut zusammengeht, so scheu, wie sie zudringlich sind. Daß Macbeth hinwiederum sich mit ihnen einläßt, ist ein Sinken, hinab in das höllische Reich, das auch drunten in ihm wohnt. Die Hexen und ihre Meisterin führen ihr Werk durch; der Mensch, der ihnen verfallen ist, erfährt nicht mehr von ihnen, als sie wollen; er hat keine Macht über sie. Faust und Prospero haben Macht über die Geister; die sind ihre Diener. Faust aber ist nur dadurch Herr über dämonische Gewalten und ihre einzelnen Leistungen, die sie ihm für bestimmte Frist gewähren, daß er der Teufelsmacht von einem bestimmten Punkt ab ein für allemal verfallen ist; er darf ihr eine Weile gebieten, weil er ihr ewig untertan sein soll. So wäre es für Fausts Bewußtsein selbst noch bei Goethe, wenn man es so genau nähme, wie man es für diese Gesamtdichtung freilich nicht darf; man muß sie läßlich nehmen, wenn man nicht Unbestimmtheiten und Schwankungen finden will statt der Einheit, die Goethe meinte, als er sich entschloß, ein Werk doch noch zu vollenden, dessen erster Teil ihm fremd geworden war; daß der Böse, der dem Menschen dient, damit wieder Gottes Plänen mit dieser Menschen-Entelechie hilft und sie zur Gnade und in ihre Steigerung hinein reizt, geht in Fausts eigenes Gefühl von seinem Verhältnis zu Mephisto nicht eigentlich ein. Prospero allein hat seine volle Menschenfreiheit bewahrt und durch seinen Zwang über die Geister gesteigert; er hat sich zu nichts verpflichtet, ist in nichts untertan oder angetastet; es ist keine Rede von Höllendienst oder schwarzer Magie; was uns alle in Lüften umspielt und doch in seiner ungebundenen Freiheit, von uns unbehelligt und ungewahrt bleibt, hat er erkannt und eingefangen, so wie der Müller den Wassergeist fängt und seine Mühle treiben läßt oder wie wir sonst Naturkräfte zähmen; ihm, dem Mann des überlegenen Denkens, dient die Natur mit ihren schöpferischen, ihren bösen und guten Kräften nach seiner Bestimmung, so wie wir den Blitz eingefangen haben und zu stillem Leuchten und rastloser Arbeit bringen; er lenkt die Geister, wohin er will; er zwingt sie, beherrscht sie, ist Fürst über sie. Er hat gelernt, sich der Mittel zu bedienen, diese Kräfte zu rufen; er tut es, solange und wie er will, als einer, der es darf, weil er dazu berufen ist; und er läßt es dann wieder, ganz freiwillig; niemandem verantwortlich als sich allein. Freilich ist er in dieser gesteigerten Sphäre genau so irgendwie beschränkt, wie der Mensch immer; bis zu einer bestimmten Grenze reicht seine Macht, nicht weiter; bestimmte Geister dienen ihm, andre existieren nicht für ihn, er kann sie nicht rufen. Und er muß die Dämonen in ihrer eigenen Sphäre und Begrenzung lassen und sich ihrer Natur anpassen, wenn er sie nutzen will; muß leicht und wie fliegend und lieblich schmeichlerisch kosend mit Ariel umgehen und hat ein tragisches Erlebnis mit Caliban, weil er sich unterfängt, ihn erziehen und heben zu wollen; aber die Strafe, die ihn darnach trifft, ist eben die natürliche Folge dessen, was er tut: Enttäuschung und Rückschlag; in dieser Übernatur geht alles natürlich zu, und dieser Übermensch steigt oder fällt nie aus dem Menschlichen. Er muß geduldig sich in die Bedingungen seiner Existenz fügen, muß auch die Gelegenheit zu seiner Vergeltung in Ruhe abwarten: er ist ein erhöhter Mensch, aber in keinem Punkte ein Unbedingter. Hier also sind die Elementardämonen, der luftig neckische, feenhafte Geist wie das Wüsteste und Böseste in den untern Bezirken der Natur, in den Dienst des überlegenen, freien Menschengeistes gezwungen. Die Menschenkraft, die Kraft des Geistes, Kraft der Vernunft wie des Gemüts, ist sieghaft oben; keinerlei Sünde oder Frevel, keine Verschuldung, kein Zugeständnis an feindliche Mächte ist für den Magier mit seinem Tun verbunden; es ist alles hell, heiter; der Sproß eines Teufels und einer Hexe wird ohne Gnade in den Dienst gezwungen und, soweit es nur irgend geht, unschädlich gemacht und vom Menschlichen überwunden; Sprengstoff wird immer zerstörerisch bleiben, und vergeblich wäre ein erzieherisches Bemühen, ihn etwa in Pflanzensamen zu verwandeln; aber der Mensch kann die zerstörende Kraft zu den Zwecken seines Bauens verwenden. So übt Prospero die Macht des Menschlichen über die von Geist und Kraft durchflutete Natur; nicht zu Werken der Technik oder irgend eines Genusses; die Gleichnisse aus diesen Bereichen waren Gleichnisse, nichts weiter; er lebt auf seiner verlorenen Insel mit seinem Kinde das Dasein einfacher Menschen; er läßt sich keinen Palast bauen und keine Schätze herbeischleppen, sondern Brennholz in seine Hütte, damit sie nicht frieren; all sein Sinnen und herrschendes Walten gilt nur der Seelentat, sich und seinem Kinde durch Geisteskraft das Leben zu wahren, das er nach menschlichem Alltagsermessen verwirkt hatte, und die rohe Gewalt der Menschenniedertracht, die ihn überwältigt und wie ermordet hatte, durch den Geist und, wenn’s zum Letzten kommt, durch die Liebe zu besiegen; durchaus verdient Prospero den Namen, den Goethe in seinen „Geheimnissen“ einem so höchst wunderbaren Mann des Geistes geben wollte, den Namen Humanus. In seinem Faust hat Goethe das herrliche Wunderwerk vollbracht, in dem himmlischen Zusammenhang, der vom Prolog bis zum Epilog im Himmel geht, die Gottesmacht zu entteufeln, zu entmenschen, zu entchristen; Shakespeare in seinem Prospero hat den Menschen entchristet und hat einen Mann geformt, der ein Freier, in Reinheit, in Adel, in Schönheit, mit gutem Gewissen, weil in Güte herrlich den Elementen gebietet. Was für eine unsägliche, was für eine das Menschenleben von Generationen und Generationen für Jahrtausende vorwegnehmende Tragik liegt aber darin, daß dieser Reinste und Größte und Höchste und Mächtigste der Sterblichen, nachdem er seiner Seele Genugtuung geschaffen und an die Stelle des Hasses die Liebe gesetzt hat, am Leben, an der Natur, am Geiste für seine Person genug hat, zur Seite geht und sich zum Verstummen und Verscheiden rüstet. Das ist für mich der Gipfel der Renaissance und damit der bisher erreichte Gipfel unsrer neueren Menschheit: der vollendet zur Herrlichkeit gediehene Personalismus, der in seiner Glorie resigniert; ganz und gar das Gegenbild zu dem Christus, der vom Marterholz zum Himmel emporsteigt. Prosperos gebietende Gestalt und Apotheose im Abscheiden steht mir da wie ein Werk von einem bildenden Künstler, der bisher nicht gekommen ist, wie von einem, der Michelangelo und Rembrandt ins Raffaelische vereinigte; oder -- das nämliche in anderm Bilde gesagt: wie eines der ganz hohen Werke Beethovens, wie das Quartett mit dem Dankgebet eines Genesenden. Weiß man, wer dieser Genesende ist? Es ist Sokrates, der dem Asklepios für die Genesung dankt, indem er der Welt den Rücken kehrt; es ist Prospero, der die Natur und den Haß bezwingt und die Liebe gründet und aus all seiner Herrlichkeit tritt und zur Seite geht und sich zum Tode bereitet; es ist Shakespeare, der uns noch den Sturm gibt und dann das Schweigen wählt und dahinstirbt. Wir bemerken oft, zumal bei leidenschaftlichen Dichtern, wie das, was auf ihrer Höhe herausbricht, schon früh da ist oder sich wenigstens vorbereitet und in starken Spuren zeigt, wie sie selbst aber von einem gewissen Zeitpunkt der Krise an von dieser ganzen Vergangenheit nichts mehr wissen wollen und sich als völlig Erneuerte fühlen. So ist es in unserer Zeit Tolstoi und Strindberg gegangen. Auch Shakespeare scheint mir zu bestimmter Zeit bei einer Wende angelangt zu sein, wo er die Form, in der er früher die Triebe und Leidenschaften der Menschen mit einer Wahrheit ohnegleichen darstellte, wie ein eigenes Versinken in diesem Pfuhl der Affekte nicht mehr ertrug. So hat er nach neuen Formen gesucht, und fast jedes einzelne der Stücke aus dieser letzten Zeit ist ein neuer Weg, in dramatischer Aktion zur Überlegenheit, zum Spielerischen, zur Polemik und Weisheit, zur Ironie zu kommen. Im Zymbelin und im Wintermärchen und im Timon und im Perikles hatte Shakespeare es jedesmal mit einer neuen dramatischen Form versucht, die er jedesmal wieder aufgab. Der Sturm nun ist wiederum in einer für Shakespeare ganz neuen Art gebaut und ist für dieses Suchen nach dem neuen Stil der Gipfel und die Krönung. Die Form aber, der sich Shakespeare diesmal und, wenn wir recht vermuten, zu guter Letzt zuwendet, ist nicht etwa eine neu ausgeheckte, sondern die für seine Zeitgenossen zugleich ehrwürdigste und modernste, und seine gelehrten Kritiker hatten sie ihm schon immer tadelnd als Muster vorgehalten. Die gelehrten klassizistischen Dramatiker, die neben Shakespeare standen und die nicht von der Überlieferung des Volksdramas herkamen, sondern in der Tragödie Seneca, in der Komödie Plautus nachstrebten, legten viel Wert auf die Einheit des Orts und vor allem der Zeit. Schon früher manchmal hat Shakespeare gezeigt, daß er das auch konnte, wenn es dem, was er an Inhalt und Stimmung geben wollte, entsprach; nie hat er sich pedantisch nach einer Schulregel gerichtet, aber der Sommernachtstraum verläuft in aller Tollheit in einer Nacht und einem Walde; im Othello, der auch sonst dem bürgerlichen Trauerspiel am nächsten kommt, geht, abgesehen von dem Prolog des ersten Aktes, alles auf der Insel Zypern in einer fast ununterbrochenen zeitlichen Folge weniger Tage vor sich. Hier aber im Sturm ist er dem klassischen Muster am nächsten: nicht nur dem geistigen Gehalt nach, sondern auch formal ist die Dichtung ein Epilog. Eine lange, bewegte, leidenschaftliche Handlung wird in einem bei Shakespeare ganz ungewohnten erzählten Bericht in die Vorgeschichte verlegt; das Stück selbst bringt, in der Art wie bei Sophokles zum Beispiel im Ödipus, nur die Auflösung des Konflikts; hatte das Wintermärchen uns eine Handlung von sechzehn Jahren und in ihr zwei Generationen auf die Bühne gebracht, so geht es auch im Sturm um zwölf Jahre und wieder um die scharfe Gegenüberstellung von zwei Generationen und um ein Paar, das durch die Liebe dem Haß der Väter Versöhnung schafft: aber die Handlung, in der wir all das erfahren und erleben, läuft hintereinander in drei Stunden ab, von etwa zwei Uhr bis fünf Uhr an einem Nachmittag, so daß das klassizistische Ideal erfüllt ist: die Handlung, die in dem Stück verläuft, erfordert ungefähr dieselbe Zeitdauer wie das Stück selbst, und innerhalb dieser Handlung erfahren wir von den Vorbedingungen und Geschehnissen früherer Zeiten durch Berichte und Gespräche. Keineswegs dürfen wir annehmen, Shakespeare habe sich diesmal der Modeform anbequemt, um Gegnern oder Freunden wie Ben Jonson zu zeigen, daß er das auch konnte. Der Grund ist vielmehr offenbar der, daß Shakespeare gemerkt hat: das Wesentliche, worauf er in dieser letzten Schaffensperiode ausging, konnte er mit dieser Technik erreichen. Dieses Wesentliche ist, das, was in seinen großen Tragödien Mitte und Hebel war, die elementare Kraft der Triebe und Leidenschaften, das menschlich Wilde, Gewalttätige, den Schrei des Zorns und der Rache, die Gewaltgier und Brunft, was alles ihm seit langem steigend widerwärtig und schließlich unerträglich geworden war, zurücktreten zu lassen und dafür das Element des Spiels, der Abgeklärtheit, des romantischen Zaubers und der tieferen Bedeutung, der Versöhnung oder Polemik, in jedem Fall der Weisheit und Rede sich ausbreiten zu lassen. Der Dichter, zumal der dramatische, empfindet bei seiner Arbeit viel stärker als wir Leser oder Hörer sein völliges Darinsein in den Gestalten, die er mit so seelischer, plastischer, dynamischer Kraft ins Leben setzt; wir empfinden, wenn Othello rast und die Unschuld ermordet, die in des Dichters Gestaltung so volles Leben gewonnen hat, den Dichter selbst viel mehr in Desdemona als in dem Mohren und entsprechend mehr in Macduff als in Macbeth; der Dichter aber weiß, wie viel nicht bloß von zehrender Kraft, sondern auch von eigenen Wesenszügen in all diesen Ausbrüchen der Wut und der Bestialität enthalten ist. Hätte er, als er den Hamlet dichtete, schon die Möglichkeit zu Prosperos Überwindung und Überlegenheit in sich getragen, so hätte er dem Dänenprinzen nicht in der Art seine Unbewußtheit, sein Nichtauskennen in den eigenen Motiven auf den Weg geben können. Indem Shakespeare dem Timon zwar noch die gewaltigsten Reden der Wut und Verachtung aus dem Mund strömen lassen kann, aber nicht mehr imstande ist, weil es ihn sonst umgebracht hätte, diesen Mann dazu noch lebendig als Individuum zu gestalten; indem er das innere Seelenleben des durch Selbstbetrug betrogenen Gatten im Zymbelin durch eine gewaltige Maschinerie einer ungeheuerlichen Handlungsfülle von sich schiebt, im Wintermärchen nur genial skizziert und dann von frei heiterem Spiel, das zur Tragik der früheren Generation in Gegensatz steht, ablösen läßt, mit alledem verrät er etwas, was man auf zweierlei Art ausdrücken kann, weil beides nur verschiedene Ausdrucksform für ein und dieselbe Wandlung ist. Man kann sagen, daß er nicht mehr robust genug für die unerbittlich realistische Darstellung der von der Leidenschaft geschüttelten und gepeitschten Menschen war; man kann sagen, daß er eine Stufe höher gestiegen war und diese Darstellung nicht mehr brauchte. In jedem Fall hatte er in dem Augenblick, wo er für das Neue, das er suchte, die vollendete Form gefunden hatte, seine Bahn ausgelaufen. Der junge, der leidenschaftliche, der wilde Shakespeare mußte den Schrei der Wut und Verzweiflung immer wieder, in den mannigfachsten Verkleidungen, wie sie Geschichte, Sage und Novelle als Abbild der eigenen Innerlichkeit boten, ausstoßen; der mild und reif gewordene Shakespeare suchte nach dem Ausdruck der Resignation und des Verzichtes in Überlegenheit und Heiterkeit und verstummte, als er ihn gefunden hatte. Er fand ihn aber in dem Inhalt und der Stimmung und der Form seines Sturm. Diese Form erlaubte ihm, aus dem, was nun Vorgeschichte war, nicht nur, sondern auch aus dem, was in den drei Stunden der Handlung geschieht, alles von den sichtbaren Vorgängen auf der Bühne zu verbannen, was in die Abgründe der inneren Dämonie der Menschen geführt hätte: nicht nur bleibt die Gewalttat des Bruders gegen den Bruder aus schnödester Machtgier in der Vorgeschichte; dieser Bruder selbst tritt mit seinem fessellosen inneren Wesen nie mit voller Entladung heraus; meist steht er wie ein Angeketteter, dem die Zunge in Bann getan ist, im Schatten. Über ihn, über Alonso von Neapel, über dessen Bruder Sebastian wird der Wahnsinn verhängt, der Wahnsinn der Reue und Gewissensqual, der rasenden Tollheit: nichts davon wird gezeigt; Ariel berichtet kühl überlegen darüber, ohne auch nur den Versuch zu einer Schilderung. Recht gut hat sich Tieck, der in all diesem neuen, letzten Stil das Urbild seiner romantischen Ironie gefunden hat, darüber, schon 1793, geäußert: „Im ganzen Stücke hat der Dichter sorgfältig alle hohen Grade, alle Extreme der Leidenschaften vermieden... Er läßt die Affekte nie einen sehr hohen Grad erreichen, er will uns in keiner Situation tief rühren oder erschüttern, keine Person soll unser Mitleid erregen...“ Was Tieck da sagt, ist ganz richtig, wenn man diese Rührung und Erschütterung, dieses Mitleid als Affekt, als Qual, als das betrachtet, was Goethe manchmal das Pathologische genannt hat. An all diese tiermenschlichen Grundtriebe wendet sich hier Shakespeare nicht mehr. Unser Mitleiden beim Anblick der von Leidenschaften fortgerissenen und zerfetzten Menschen ist selbst leidenschaftlicher Art, wie sich hinwiederum, wir haben es früher gesehen, die wilde, kochende Hitze der Brunstmenschen mit schneidender Kälte berechnenden und verderbenden Verstandes gatten kann. Von dieser Sklaverei der Sinne, in der der Verstand, so hell er auch war, dem modrigen Dunkel diente, ist Shakespeare, mit Spinoza wieder zu reden, über die Stufen der Vernunft weg aufgestiegen zur intuitiven, überlegenen Gelassenheit des Geistes, der in der Freiheit wohnt. Und so bringt auf der Höhe der Sturmdichtung das warme Gefühl, das innige Erbarmen, die schöne Ergriffenheit, die der Dichter wohl erregt, unser Seelenleben nicht mehr mit den tierisch elementaren, dämonischen Qualtrieben, sondern mit Geist, Vernunft und Klarheit in Verbindung. Unser Mitgefühl entstammt nicht mehr dem Bezirk der Venus, sondern des platonischen Eros, nicht mehr dem Reich der Furien, sondern des Friedens. Wiewohl ich selbst zu gewahren glaube, daß diese Steigerung Shakespeares zum Himmlischen mit einem Zustand seiner Leiblichkeit und Geistigkeit zusammenhing, wo Nichtmehrkönnen und Nichtmehrwollen fast ununterscheidbar an einander grenzten, -- wie viel kräftiger und seelenvoller ist Shakespeare doch noch nahe der Entrücktheit und Auflösung als Tieck und Romantiker seines Schlages in ihrem Beginn, in dem schon das Ende war; wie schnell verirrten sich diese Nachfahren, die die Lust zur allergrößten Wandlung und zur neuen Religion nach rasch versprühender Jugend höchstens noch als eine Art intellektuellen Kitzels in sich spürten, aus dem Ätherreich beseelten Geistes zu bloßer Spielerei des Witzes und krauser Arabeske! Seine Verwandtschaft aber zu dem Shakespeare, wie er vom Sommernachtstraum über Wie es euch gefällt zum Sturm kam, hat Tieck recht empfunden, und so zeigt er in dieser jugendlichen Äußerung gut, wie der Dichter des Sturm Gelegenheit zu Verzweiflungsausbrüchen, Martern aller Art, Hunger- und Entsetzenswahnsinn gehabt hätte, wie er aber all die Darstellung des wild und triebhaft Ausbrechenden -- vor kurzem, man denke an Lear, noch seine größte Stärke -- vermieden hat. So also erklärt sich mir die dramatische Technik, die Shakespeare dieses Mal erwählt hat: er zeigt nicht ein von Gewalt und Untaten erfülltes Leben, sondern als zauber- und musikerfülltes Spiel in raschem Ablauf nur die Auflösung, die Vollendung, den Gipfel: nicht wie die Leidenschaft zu ihrem Gipfel ansteigt, sondern wie sie von einem, der in sich nach oben gekommen ist und Selbstbeherrschung gelernt hat, überwunden und gedemütigt wird. Nach einer gewaltigen, stürmischen Introduktion, durch die aber auch schon das Mildernde, Kauzige, beruhigend Spielerische hindurchgeht, kommen wir immer mehr in die ganz eigene Mischung von Abgeklärtheit, Humor, Neckerei, Sanftmut, innig Friedlichem, koboldig Polterndem, ungefährlich Bellendem und Heulendem bis zur Verklärung. Versucht man, diese Stimmung, dieses Tempo, diese Variationen und Auflösungen des Dramas sich als musikalisches Gebilde vorzustellen -- und man ist dazu eingeladen, da das ganze Werk wie in Musik getaucht ist und die Musik Ariels und seiner Geister in den Lüften keine Begleitung und Zutat, sondern ein Stück der Handlung ist --, so versteht man, meine ich, ausnehmend gut die Antwort Beethovens auf die Frage nach der Bedeutung seiner Gespenstersonate: „Lesen Sie nur Shakespeares Sturm.“ Die dümmste Versündigung, die aber vom Ende des 17. Jahrhunderts bis auf den heutigen Tag nicht auszurotten scheint, an diesem leichten, luftigen, zarten Traumspiel, in dem die Hoffnung und das Gelöbnis eines Dichters unserer Zeit, Georg Kaisers, erfüllt ist, daß das Schauspiel zum Denkspiel aufsteige, und das die Erdenschwere nur als derb burleskes Scherzo und schon himmlische Schwermut kennt, begeht die Bühne, wenn man es als Ausstattungs- und Spektakelstück gibt. Ich habe schon angedeutet: auch die schreckliche Erhabenheit zu Beginn, der Sturm, der zum Schiffbruch und zum Schein rettungslosen Untergangs führt, wird noch in dieser ersten Szene selbst durch komischen Gegensatz und durch die Verschiebung der Perspektive gemildert: nicht die Personen erster Geltung, von deren Wesen, Vergangenheit und Reisezweck wir vorerst nicht das Mindeste erfahren, sondern eine Nebengestalt, der Bootsmann, ein prachtvoll geschauter Zyniker, steht im Vordergrund des Interesses. Das ist ein Galgenvogel nach Art des frevelhaft und lustig überlegenen Mörders Bernardin in Maß für Maß; im Angesicht des Todes flucht und wettert er ohne jede Angst und verrichtet mit einem derben und hohnvollen Vergnügen seine Schuldigkeit inmitten der äußersten Not und Bangnis als ein sachliches, roh vertrautes Geschäft. Für die Todesangst der andern ist er ganz gefühllos; er wird schon alles besorgen, was not tut; er will sich ja selber auch retten. Brauchst du mir erst zu sagen, daß der König an Bord ist? Hab ich ihn denn lieber als mich? Und Fragt der Sturm nach dem Namen König? Oder er wendet sich etwa zu dem edeln, alten, aber in Wohlredenheit und Klugheit leicht komischen Rat Gonzalo: Na, du bist ja Rat, übe du doch dein Amt wie ich meins, vielleicht hilft’s: gib doch den Elementen den Rat, sich zu besänftigen! Er hat nur ein paar Worte durch den Orkan zu brüllen, der Mann, aber die ganze Wut und Verachtung gegen die brutale Natur, mit der er zeitlebens brutal sein mußte, und gegen die brutale Gesellschaftsordnung wettert aus seiner heisern Kehle; und daß er größte Nichtachtung und unbewegte Gleichgültigkeit auch den Großen gegenüber hat, die seinem Schiff anvertraut sind, bleibt uns nicht verborgen. Dann stehen sie alle -- in der ersten Szene dieser Komödie -- vor dem sichern Tod; die Matrosen, der König und sein Sohn beten; der Usurpator von Mailand und der Bruder des Königs, in dem auch Usurpatorträume schlummern, fluchen; Gonzalo behält sanften Humor und überlegene, stille Ruhe; der Bootsmann lacht: Was? müssen wir ins kalte Bad? So haben wir, ohne noch das geringste vom Zusammenhang zu ahnen, nicht die Stimmung des gewalttätigen Untergangs, den wir vor Augen sehen, nicht Furcht und Mitleid für die, die sich fürchten und leiden, sondern eine Art Staunen im Denken, wie im tobenden Aufruhr der Natur und im Angesicht des Todes die Menschen so verschieden, im Adel und Vorrecht klein oder mäßig, in Gemeinheit groß sein können. Und ganz schnell verwandelt sich die Szene: das Schiff scheint unter die Wellen zu tauchen, das Meer tobt, der Sturm heult, dickes, ziehendes, tief herab hängendes Gewölk droht und wird hin und her gefetzt; da steigt vor unsern Blicken eine kleine Insel auf, die aus den brandenden Wassern emportaucht, auf ihr, wie in der Mitte des kleinen Rundes, in gebietender Haltung der Ruhe der Zauberer in dem langen Mantel des Magiers und mit dem Zauberstab; bei ihm ein liebliches, fünfzehnjähriges Mädchen, das nun mit einem Mal, so daß wir aus all dem Graus zu seligem Lächeln verklärt werden, die wild natürliche Situation in eine Geistersphäre rückt mit den Worten, mit denen diese zweite Szene anhob: Wenn _Eure_ Kunst, mein liebster Vater, so Die wilden Wasser toben hieß, so stillt sie. Es ist eine sehr ernste Beschämung, nicht nur für unsre Bühnen, für den Zusammenhang vielmehr zwischen unsrer Geistesverfassung und unsern Zuständen, daß die liebliche Größe, die hebende, erlösende Wonne dieses Übergangs und dieser Szenengemeinschaft unserm Erleben noch immer nicht vertraute Wirklichkeit geworden ist. Wie das Kind beim starken Gewitter meint, der liebe Gott sei zornig, so erleben wir hier sinnenkräftig, als lebendiges Bild, daß es so ist, wie das Mädchenkind Miranda mit ihren ersten Worten uns bedeutet: Er, Prospero, hat den tollen Aufruhr der Lüfte und Gewässer mit Hilfe seines Ariel erregt: der Tag der Vergeltung, der Entscheidung, wir merken bald, der Versöhnung und Heimkehr ist da. Ein zartes, reines, liebliches Kind, eben zum Fraulichen erknospend ist diese Miranda, die Wunderbare; ganz des Vaters Geschöpf; seit ihrem dritten Lebensjahr ist sie auf dieser Insel und hat außer ihrem Vater nie einen Menschen gesehen; nur das Ungetüm Caliban und Prosperos Geister. Er muß sie nur beruhigen, sie ist außer sich, daß ihr Vater so Böses zu tun imstande scheint; so hat sie ihn in all der Zeit nicht kennen lernen; sie weiß aus seinem Unterricht, daß ein Schiff Menschen über den Ozean trägt, und Menschen sind, glaubt sie, gute und herrliche Wesen wie ihr Vater. Die Stunde ist gekommen, wo er ihr die Menschenwelt anders zeigen muß; aber ehe er noch daran geht, sie über ihre Herkunft, über seine düstere Geschichte, über die Art, wie es draußen bei den Menschen zugeht, aufzuklären, beruhigt er sie und uns: keinem soll ein Leid geschehen; kein Haar soll gekrümmt werden; durch die Macht des Geistes, nicht durch Gewalt soll Wiedergutmachung erfolgen. Und nun erzählt er, erstmals, wer er ist, was ihm und ihr angetan worden ist, und deutet im voraus an, was jetzt kommen soll, welche Männer er auf ihrer Fahrt gebieterisch angehalten hat. Der Mann, der da sein Leiden berichtet, ist uns erst als der zaubermächtige Meister gezeigt worden; so haben wir bei diesem langen Bericht, der die Vorgeschichte bringt, nicht das Gefühl des Stillstands, sondern des bewegten Geschehens. Er erzählt, wie ihn sein eigener Bruder Antonio -- wie Claudius den König Hamlet -- vom Thron gestürzt und im Bunde mit Alonso dem König von Neapel ihn und das noch nicht dreijährige Kind nach menschlichem Ermessen ermordet hat: kein Mensch zu Hause kann etwas anderes meinen, als daß sie gewaltsam getötet sind und längst auf dem Meeresgrund verfault. Aber dieser Ermordete kehrt nicht ins Reich des Lebens als Geist zurück, um einen Sohn zur Rache zu rufen; er herrscht über die Geistermächte, wohl auch, um über die Feinde zu triumphieren, aber durch Beschämung soll es geschehn, dadurch, daß sie in all ihrer Unwürde machtlos und geschlagen dastehn: der Sohn aber seines mächtigsten Feindes und die eigene Tochter sollen in Liebe vereint werden. Was für ein Bericht ist das! Er steht als Meister und Lehrer vor ihr und erzählt ihr in stark eindrucksvoller Haltung und Rede, fesselt ihre ganze Aufmerksamkeit, so daß sie mit großen Augen zu ihm aufblickt und wie vom Traum umfangen wird, da nun zum ersten Mal das wogende, gefahrvolle Leben, wie es draußen unter Menschen ist, sich vor ihr auftut, daß sie in den seltsamen Zustand gerät, sich vor Benommenheit, Staunen und Entsetzen in plötzlichen Schlaf flüchten zu müssen; wir leben ganz in dieser Situation zwischen dem Vater und dem Kind auf der Insel, und zugleich öffnet sich die Vergangenheit vor uns und wir erleben Prosperos Schicksal und Wesen. Was für ein Mann! Er war der Herzog von Mailand, hatte aber seinem Bruder das weltlich-politische Geschäft überlassen, weil er selbst „in geheimes Forschen verzückt und hingerissen“ war: in Stille versunken lebte er der Erhöhung seiner Seele und, von Büchern umgeben, in tief geheimem Forschen. Von seiner Verborgenheit aus wirkte er aber mit seinem Geist und Gemüt tief ins Volk hinein, das ihn verehrte und liebte. Und nun der Bruder! Nichts ergreifender, als wie Prospero, der seit so vielen Jahren den Fall bedacht hat und jetzt die Gelegenheit zu seiner Vergeltung magisch ergriffen hat, ihm gerecht werden will und ihn, soweit es irgend geht, entschuldigt. Der Bruder, sagt er, gewöhnte sich in seine Rolle des Befehlens, das ihm in Stellvertretung anvertraut war, so hinein, daß er sich als Herzog fühlen lernte und fast nichts anderes wußte, als daß er es war, zumal er den gelehrten Bruder in der Verachtung des Ungebildeten und Rohen für ganz ungeeignet zur Regierung hielt. So riß er ihn, verbündet mit dem König von Neapel, dem er Mailand als Vasallenstaat überantwortete, vom Thron und setzte den Bruder, da er ihn, den Allbeliebten, wegräumen mußte, öffentlich umzubringen aber nicht wagte, mit dem dreijährigen Kind zusammen in einem morschen Boot, das nicht Segel noch Masten hatte, aufs hohe Meer aus: er sollte unweigerlich zugrund gehen, ohne daß jemand von der Mordtat erfuhr, so wie der Usurpator Claudius seinen Bruder eines natürlichen Todes sterben ließ. Der Rat Gonzalo gab Prospero aber aus Mitgefühl heimlich Kleider, ein bißchen Hausrat und vor allem Bücher mit auf die Schreckensfahrt, und so rettete der Ausgestoßene sich und das Kind auf diese kleine Insel, die wir uns -- nach späteren Erwähnungen -- irgendwo zwischen Neapel und Tunis zu denken haben. Ohne sein Wissen hätte er das nicht vermocht; denn dieses Wissen ist, das ungebildete Volk ahnt es, sein obenhin polierter, bevorrechteter Bruder freilich weiß nichts davon -- dieses Wissen ist, was jedes Wissen sein sollte, Macht, nicht zur Unterdrückung von Menschen, sondern ein Schlüssel zu Kräften der Natur. Oder anders gesagt, in der Sprache der Welt, in der wir gläubig für drei Stunden sind: er hat Zaubermacht über Geister. Mit zwei Geistern oder wenigstens Außermenschen sehr entgegengesetzter Art bekam er es auf der sonst unbewohnten Insel zu tun: mit Caliban, einem elementaren Scheusal, dem Kind der Hexe Sykorax und eines Teufels; und mit Ariel, einem mächtigen und doch zarten Luftgeist, den die Hexe durch bösen Zauber seines Elements der Freiheit beraubt und in den Spalt einer Fichte geklemmt hatte und den er befreite. Caliban, der Erdkloß, die am Boden kriechende Schildkröte, der dienende, schnöde Sklave für die grobe Arbeit, repräsentiert die brutale, hundsgemeine Materie; den durch nichts gemilderten Lebens- das heißt Freßtrieb des Tiers, eines Tiers, das ein Höllenhund ist und dazu noch -- durch Prosperos Schuld -- sprechen und denken gelernt hat. Der Meister hat sich mit dem wilden Höllenkind gläubig pädagogische Mühe gegeben; durch Bildung wollte er es zu einer Seele bringen und vergaß, daß man nur ausbilden kann, was da ist, daß aber ins leere Nichts Hineinbildenwollen eben das ist und das bewirkt, was unsre Sprache Einbildung nennt: wozu keine Anlage da war, das konnte von außen nicht eingegossen werden, und etwas wie Mitgefühl selbst mit dieser Personifikation des Unrats ruft der Dichter hervor, wenn er diesen Unerlösten und Unerlösbaren ausrufen läßt: Ihr lehrtet Sprache mir, und mein Gewinn Ist, daß ich fluchen kann. Die Pest hol’ Euch, Daß Ihr mich reden lehrtet! Eine Satire ingrimmigster Art aber ist es, wie Shakespeare uns zeigt, welchen Gebrauch dieser Wechselbalg der Hölle von dem Geist macht, der ihm nicht zukam, und wie er Calibans Sprache mit der Redeweise niedriger Menschen aus der Sphäre der oberen Scheinbildung kontrastiert. Es geht um ein fürchterliches Thema: um die Ermordung eines schlafenden Menschen. Shakespeare hat es mehrfach behandelt, und nicht ein Mal wie das andre. Der edle Mohr von Venedig weckt Desdemona, und in aller Wut heißt er sie doch in würdigen Worten sich auf den Tod vorbereiten. König Claudius tötet seinen schlafenden Bruder in Einsamkeit, sprachlos; wir haben nicht anzunehmen, daß er sich vorher mit seiner Buhlin darüber beraten habe. Macbeth braucht solche Beratung; wir kennen alle das heiße Gespräch des liebenden Mörderpaars vor der Tat. Die beiden Berufsmörder in Richard III., die Clarence aus der Welt zu schaffen haben, bringen es nicht zustande, den Schlafenden zu erstechen; sie disputieren so lange über den Fall, bis ihr Opfer erwacht, und auch dann müssen sie erst in langem Gespräch ein Verhältnis zu ihm herstellen, bis ihnen aus bewegter Sprache heraus die altbewährte Gebärde des Zustechens geschenkt wird. Sie sind nicht das übliche Paar von Gleichen, sondern gegen einander fein differenziert; ihre Szene indessen, so liebevoll sie gebaut ist, ist in dem Drama, dem sie angehört, nur eine Episode. Hier im Sturm aber bildet ein solcher Kontrast ein wichtiges Element der Handlung. Der Dichter stellt einander die Art gegenüber, wie der Mensch Antonio, der Brudermörder und Fürst, einen andern zum Meuchelmord an einem Schlafenden überredet, und wie das sprechende Ungeheuer Caliban das nämliche tut. Was ist das bei Antonio, wie er Sebastian dazu verführt, seinen Bruder Alonso, den König von Neapel, der in tiefer Schlafbetäubung daliegt, zu ermorden, für ein langes vorsichtiges Ausholen, ein Tasten, ein Andeuten, wie wird die Sprache, indem sie den Plan der Untat ausspricht, zugleich dazu benutzt, das Schwarze schön zu färben, das Widrige zu bemänteln und die Gedanken zu verhüllen. Der Mensch, zumal in der politischen Sphäre, deren Vertreter der Usurpator von Mailand ist, hat es gelernt, Rauben Selbstbestimmung und Morden Wohltat zu nennen; die Sprache zugleich als Mittel und Vorbereitung zur Tat und zum Weglügen der Tat zu benutzen. Indem Shakespeare uns den Menschen von dieser Seite vorführt, wählt er, und erhöht damit die Gewalt seiner entlarvenden Offenbarung, ein Exemplar, das der brutalste, verhärtetste aller Menschen und einer Regung wie Reue oder Skrupel ganz unzugänglich ist. Gewissen? Davon weiß er nichts; er liebt Tatsachen, so was wie Gewissen aber ist für ihn ein Wort ohne Sinn: Ei, Herr, wo sitzt das? Wär’s der Frost im Fuß, Müßt’ ich in Schlappen gehn; allein ich fühle In meinem Busen so ’ne Gottheit nicht. Gewissen hat er nicht, aber da er ein sprechender Mensch ist, hat er Lüge und Heuchelei. Den Sebastian will er dazu bringen, seinen Bruder zu ermorden, um dann den Brudermörder, dessen Untat er kannte, zu beherrschen; aber nur in langsamem Ausholen, in wiederholtem Ansetzen, in Tasten, Drumherumreden, Umschreiben und Andeuten nähert er sich seinem Ziel. ’s gibt Leute, die Neapel So gut, wie der hier schläft, regierten... Hättet Ihr Doch meinen Sinn! Was für ein Schlaf wär’ dies Für Eure Standserhöhung. Ihr versteht mich? Ja, er versteht ihn, sie verstehen sich. Das war sein deutlichstes Wort; und doch, wie euphemistisch, wie keineswegs roh im Wortlaut, wie harmlos und gesittet ist ein solcher Satz, mit dem sich die zwei Sprecher adliger Sprache darüber verständigen, den Schlaf zu ermorden. Wie aber ein paar Szenen darauf das bestialische Ungeheuer, das von Prosperos und des Dichters Gnaden die Gabe empfangen hat, sein Wesen und Wollen auszusprechen, dasselbe Unnennbare an Prospero tun will, wie prachtvoll geradlinig, wie wahr, wie unbemäntelt sagt Caliban da, was er will, ganz ohne Moral, ganz ohne Wohlklang, ganz ohne Heuchelei, ganz sachlich, kein Wort zu viel: Ich liefr’ ihn dir im Schlaf, Wo du ihm seinen Kopf durchnageln kannst. Oder wenn seinem Partner, der ja immerhin ein Mensch und also bedenklich und wählerisch ist, dieses gerade Verfahren nicht paßt, weiß er noch andre Methoden, die ebenso gut sind, zum Beispiel: Du kannst ihn würgen,... mit ’nem Klotz Den Schädel ihm zerschlagen, oder ihn Mit einem Pfahl ausweiden, oder auch Mit deinem Messer ihm die Kehl’ abschneiden. Man sieht, Gemüt hat ihm die Sprache nicht gegeben, aber -- auch diesem Höllenungetüm! -- eine Steigerung des der Freßsucht dienenden Tierverstandes durch Mitteilung, Werkzeuganwendung, Berechnung. Wie zum Mord, genau so steht er zu allem: er arbeitet unweigerlich, wenn er so lange gezwickt und geplagt wird, daß er’s nicht mehr aushält, sonst zieht dieser Sohn einer Hexe und eines Teufels, nicht anders als die Masse verderbter Menschenkinder, das Fressen und Schlafen vor. Nur in einem Fall kann das froschkalte Tier hitzig werden: wenn der Geschlechtstrieb sich regt. Als der zuerst in Caliban erwachte, stürzte er sich eben auf Miranda das Kind, das der Vater gerade noch retten konnte, wofür alle Sklaven des Triebs dem jungen Kerl dringende Entschuldigung gewähren müssen: dies Kind war das einzige weibliche Wesen auf der Insel. Von Liebe weiß er weiter nichts, als daß so ein Trieb unweigerlicher Art in uns ist und befriedigt sein will, und daß ein gesundes schönes Weib „wackere Brut bringt“, -- und da weiß er in Wahrheit ein gut Teil mehr als eine Masse Menschenpöbel im Lande der Bildung; denn wenn wir calibanisch die Wahrheit sagen wollen: denken denn die, denen kannibalisch wohl ist „als wie fünfhundert Säuen“, in ihrer Wollust an die Brut, an die Kinder? Höchstens mit Unbehagen und mit Angst vor der Plage und den Alimenten! Möge sich doch -- ich glaube hier nicht abzuschweifen, ich glaube, daß Shakespeare uns diesen Zusammenhang zwischen Caliban und uns vor Augen stellt, den ich hier mit seinen und meinen Worten ausdrücke -- möge sich der alimentäre Mensch nicht gar zu stolz über das elementare Ungeheuer erheben! Im Zusammenhang Calibans mit den zwei köstlich gemeinen Kerlen, die auf dem Schiff waren, den Trunkenbolden Trinkulo und Stefano, führt Shakespeare sein Thema noch eine Stufe höher hinauf. Vorhin, als ich von den beiden Bewohnern der Insel, die Prospero zuerst da vorfand, sprechen wollte, war ich in Verlegenheit um eine Gesamtbezeichnung. Ariel ist ein Geist und steht jenseits der menschlichen Gesellschaft; aber Caliban? Dieses sprechende Tierwesen hat alle Bedürfnisse des Menschen, und da er gewillt ist, sich mit einer Menschin zu paaren, und überdies aus Gründen, die uns näher angehen, dürfen wir diesen Sproß der Hexe und des Teufels, dies unser Zerrspiegelbild nicht verleugnen: er wird schon so was wie ein Mensch sein. So dürfen wir sagen, daß Shakespeare uns in diesem Stück die menschliche Gesellschaft in drei Stufen vorführt und ihrer jede in drei Vertretern: unten in der unverfälschten Roheit Caliban, Stefano und Trinkulo; dann in der durch Bildung verfälschten Niedrigkeit der herrschenden Kaste: Alonso, Antonio und Sebastian; oben im Reich beseelten Geistes Prospero und das junge Paar, das in der Liebe die Tierleiblichkeit und den Geist vereinigt und versöhnt: Miranda und Ferdinand. Man sollte meinen, ein widerlicheres, scheußlicheres Ungetüm als Caliban wäre nicht möglich. Er ist die verkörperte, die wahrhaft von der innern Niedertracht her Körper und bewegter Organismus gewordene Häßlichkeit. Und doch hat Caliban etwas an sich, was uns zu Versöhnung und fast zu Rührung stimmen könnte. Er ist das Zerrbild des Menschen, ist aber insofern kein Mensch, als er wie ein Tier ist, dem der göttliche Funke nicht erloschen ist, sondern von Geburts wegen fehlt. Man kann ihn nicht mehr schuldig nennen als eine Hyäne oder eine Schlange; er trägt die Urschuld oder Erbsünde der gesamten Schöpfung, nicht mehr, nicht weniger; er ist ein Unerlöster, wie die tierischen Kreaturen alle, deren trauernde Augen wie Fenster vor dunkeln Kerkern sind. Könnte man sich vorstellen, daß mit all dieser ursprünglichen, völlig unwillkürlichen Niedertracht einer Bestie, die die Verstandessprache erlernt hat, auch noch die Lumperei eines von Haus aus mit Gemüt begnadeten und für sich verantwortlichen Menschen, der von sich in tiefsten Schmutz gefallen ist, leibhaft und unabtrennbar verbunden wäre, so wäre Calibans Ekelhaftigkeit noch weit übertroffen. Und gerade so ein zusammengewachsenes Doppelscheusal zeigt uns Shakespeare auch noch in einer der lustigsten Grotesken, die er geschrieben hat, wo wir in allem zwerchfellerschütternden Lachen, das uns überfällt, empfinden, Allerbösestes swiftisch vor Augen geführt zu bekommen. Ich spreche von der zweiten Szene des zweiten Aktes, wo es der genialste aller Szeniker auf die ungezwungenste Art zuwege bringt, diese lebendige Maschinerie, den Knäuel nämlich von Caliban und Trinkulo, vor unsern Augen aufzubauen. Caliban fürchtet sich vor Trinkulo, den er für einen der Plagegeister Prosperos hält, und wirft sich platt auf den Boden; Trinkulo, in aller gemeinen Liederlichkeit ein feiger, schwächlicher Wicht, flüchtet sich vor dem Gewitter unter den Mantel des Scheusals, ganz dicht an ihn heran gedrückt, denn er ist gesunken genug, um die Berührung mit dem Widerwärtigsten nicht so zu fürchten, wie die Drohung des Wetters; Stefano, ein verwegener Kerl mit einer Art von rohem, beherztem Rationalismus, findet das Doppelungeheuer mit vier Beinen und zwei Köpfen und denkt vor allem daran, was für ein Geschäft er machen kann, wenn er diese unerhört wunderbare Mißgeburt vor den Potentaten Europas produzieren wird. Und so gießt er, um das redende Monstrum von dem Fieber zu heilen, von dem es befallen scheint, in die beiden Mäuler Schnaps aus seiner Flasche, die er aus dem Schiffbruch gerettet hat. Trinkulo läßt sich herauswickeln und begrüßt seinen Zechbruder; Caliban aber ist zum ersten Mal in seinem armen Leben in Seligkeit und Verzückung. Denn die Bestie hat nun eine wundersame Menschenerfindung kennen gelernt, mit der wir auch sonst die Naturkinder in wilden Ländern, die keine Calibans waren, beglückt haben: den Alkohol. Prospero hatte den ganz vergeblichen, verderblichen Versuch gemacht, ihm in seine Leere Geist einzutrichtern; nun aber ist ihm der wahre Geist aus Stefanos Flasche eingegossen worden! Wer den Göttertrank spendet, der ihm wie Wonne und Verwandlung durch alle Glieder rieselt, der muß ein noch mächtigerer Geisterfürst sein als Prospero, der gegen ihn in Wahrheit, wie wir das Elementare in der Natur nur mit Gewalt in unsern Dienst zwingen, nichts üben kann als harten Zwang. Sofort betet drum Caliban den Lumpen Stefano als König an. Gegen Prosperos Herrschaft, der ihm vornehm, unfaßbar als Wesen andrer Art gegenüberstand, hat er sich, wie es Naturnotwendigkeit war, gewehrt, hat sie als Unterdrückung empfunden; jetzt, wo er dem dienen darf, den er als einen zu ihm Gehörigen, der ihm hilft, der ihn niederträchtig glücklich macht, als Herrn anerkennt, fühlt er sich frei. Und wiederum, und für diese Stelle der Dichtung noch nachdrücklicher sage ich: es ist innig ergreifend und zugleich tiefsinnig und grandios grotesk, wie dieses arme Untier, das von dem edlen Prospero nur mit Zwicken und Prügeln zur Arbeit gebracht worden war, jetzt zu den niedrigsten Diensten willfährig ist, wie es aus Religion, wenn’s auch nur die Religion des Schnapses ist, ein freiwilliger Sklave wird, wie es „Freiheit! Freiheit!“ und Jubelrufe brüllt und ihm aus dieser Freiheitsstimmung und Begeisterung die Gabe des Liedes zuwächst. Aus dieser Situation heraus, in dieser Bedeutung, die sich aus dem anschaulich gestalteten Sinn des Dramas für unser erlebendes Gefühl ergibt, kann es kein lyrisches Stück geben, das zugleich so lustig, so abstoßend, so lehrreich, so gewaltig und so rührend wäre wie Calibans Lied, das dieses „heulende Monstrum, trunkene Monstrum“ wild energisch in besoffener Courage und in schrecklichen Tönen, die so Musik sind, wie Häßlichkeit Schönheit ist, dem Prospero zusingt, dessen verhaßte Herrengestalt vor seiner Phantasie ersteht: Will nicht mehr Fischfänger sein, Noch Feurung holen, Wie’s befohlen; Noch die Teller scheuern rein! Ban, ban, Cacaliban Hat zum Herrn einen andern Mann! Schaff einen andern Diener dir an! Auch hier, im Letzten, der ganz große, der Dramatiker, das heißt der Gerechte Shakespeare: der höchste und der niederste Mensch stehen sich gegenüber, von einander ewig getrennt wie der römische Plebejer von Coriolan, wie Thersites von Hektor, und doch jeder in seinem Recht. Bei uns ist aus Gerechtigkeit Toleranz und Unsicherheit geworden, und so ist der moderne Dramatiker wacklig und schwankt auch mit seinen Sympathien hin und her; das Erstaunliche, das Umfängliche an Shakespeare ist, daß er nicht ins Periphere bebt, sondern einen ursicheren Mittelpunkt hat, in dem er bei seinem Helden steht. Und von da aus dann mit einem Mal das Licht auf die tief Beschatteten im dunkeln Winkel fallen zu lassen, vom entschlossen erwählten und festgehaltenen Adel aus der Niedertracht ihre eigne Stimme aus dem Tiefsten hervorzuholen, das ist Shakespeares Gerechtigkeit, Stufenordnung und dramatische Kunst. Nach Freiheit begehrt auch das Naturwesen, das zwischen Erde und Himmel flattert, Ariel der Luftgeist. Er gehört im beseelten Reich der Natur zu Blüten, die sich im Winde wiegen, zu Schmetterlingen und Schwalben, aber nicht zu Menschen. Und nur durch zartesten, schmeichlerischen, liebevollen Umgang, dadurch, daß er selbst sich frei, neckisch, heiter, schwingend seinem dienenden Freund anpaßt, kann Prospero in Güte und Herzensnähe mit dem ätherischen, zarten und doch -- im menschlichen Sinne -- seelenlosen Geistwesen leben. Nichts entzückender als dieses herrenmäßig ergebene immerwährende Kosen von Prospero zu diesem lebendig bewegten Stück Natur hin, das immer wieder fliehen will wie der Wind und sich doch immer wieder für eine Weile festhalten läßt; wir haben immer den Eindruck, daß kein Mensch außer Prospero diesen Freien, Beweglichen, der sich nie ganz gefangen gibt, an sich bannen könnte. Und wir haben den Eindruck: hat schon Prospero Caliban nicht erziehen können, Ariels in aller Naturschrecklichkeit natursanftes Wesen hat den Menschen Prospero, der als Anlage alles in sich trägt, in seinem Besten bestärkt und gehoben. Ariel gibt allem, was in der Dichtung geschieht, den luftigen, heiteren, dem Geist der Schwere entronnenen Charakter; er ist die Kraft, die vor unsern Augen und im Hintergrund die Handlung mit wunderbarsten Mitteln, mit Sturm und Flammen und Liedern und Trommelschlag vorwärts bringt. Er ganz allein hat Sturm und Meereswut und Blitz und Brand auf dem Schiff hervorgebracht, und diese seine bloße Erzählung von dem Sturm und Feuer, wie es als Sinnenschein aus ihm, der geeinten Naturkraft hervorging, muß in der rechten Aufführung, die in diesem Stück noch weniger als sonst bei Shakespeare aufs Dekorative, noch mehr auf die Greifbarkeit des Geistes ausgehen muß, gewaltiger wirken als das Gewitter der ersten Szene; durch die Geteiltheit unsrer Sinne hindurch vernehmen und gewahren wir in Ariels Darstellung eine höhere Region der Naturwelt, Fechners drittes Reich, wo das, was Platon die Idee genannt hat, der Zusammenhang, das Schöpferische waltet: Ich enterte das Schiff Des Königs; jetzt am Schnabel, jetzt im Bauch, Auf dem Verdeck, in jeglicher Kajüte Flammt’ ich Entsetzen; bald zerteilt ich mich Und brannt’ an vielen Stellen; auf dem Mast, An Stang’ und Bugspriet flammt’ ich abgesondert, Floß dann in eins... Und so hat er den Schein und die volle Wirkung eines fürchterlichen Schiffsbrands und Untergangs im schrecklichsten Sturm erregt, und alle Reisenden sprangen im Entsetzen ins Meer, wo sie dann zu ihrem Staunen unbeschädigt an den ganz nahen Strand gespült wurden. Zu dem rüden Bootsmann aber und seinem Schiffsvolk können wir, wenn wir gut aufmerken, nachträglich verstärkte Sympathie fassen: sie alle sind in Ausübung ihrer Pflicht bis zuletzt auf dem Schiff geblieben und liegen jetzt durch Ariels Zauber im untersten Schiffsraum in tiefem Schlaf. Die schuldigen Fürsten und ihr Gefolge sind vorerst heil auf einem entfernteren Teil der Insel; nur der Sohn und Erbe des Königs von Neapel ist verloren gegangen und wird von dem trauernden Vater und frohlockenden Schelmen für tot gehalten. Der junge Prinz Ferdinand aber lebt; es geschieht alles, wie der Meister es bestimmt hat; Ariel führt ihn Prospero zu, der ihn -- zur Prüfung -- gefangen nimmt, zu Knechtschaftsdiensten verdammt und so in Mirandas Gesellschaft bringt. Wir sind auf Wundersames vorbereitet, denn wir wissen: es ist außer ihrem Vater der erste Mann, den das Mädchen erblickt. Entzückend, wie die Ausschließlichkeit der Liebe auf den ersten Blick, die sonst den Erwählten aus der Schar aller andern herausgreift, hier die Form annimmt: er ist der erste und einzige, den ich je gesehen; nun denn, ich brauche keinen andern! Was die Bestie Caliban nicht kennt, die wählende, unentrinnbare Liebe, die Paargemeinschaft zwischen dem einen Mann und dem einen Mädchen, die Verklärung des Geschlechtstriebs durch seelische Innigkeit, erblüht ihr in dieser Ausnahmelage, daß sie nicht vergleichen kann: So hat in Demut denn Mein Herz gewählt; ich hege keinen Ehrgeiz, Einen schönern Mann zu sehn. Und dies Kind der Natur und des Geistes kennt die Heuchelei der Gesellschaft gar nicht, wiewohl die natürliche Keuschheit gar sehr: sofort bekennt sie sich, dem Vater, dem Geliebten selbst ihre Liebe: Ich bin Eu’r Weib, wenn Ihr mich haben wollt, Sonst sterb ich Eure Magd; Ihr könnt mir’s weigern, Gefährtin Euch zu sein, doch Dienerin Will ich Euch sein, Ihr wollet oder nicht. Das ist eine Stelle, die Strindberg ganz besonders wohl im Herzen tut, und er spricht sie gegen den Noramann, wie er Ibsen nennt, und alle Vorkämpfer der Frauenemanzipation aus; aber für einseitige und willkürliche Tendenzen wird man bei Shakespeare nur Unterstützung finden, wenn man unachtsam oder gewalttätig ist; dieses Gefühl, dem die Freiheit der Liebe Hingabe bis zur Dienstbarkeit ist, wird von Ferdinand dem Jüngling sofort für sich gerade so ausgesprochen, wie von dem Mädchen. Beide geloben einander die Ehe als gegenseitige Dienstbarkeit, welche der Liebe, das heißt der Freiheit entstammt. Es ist nicht zu übersehen, daß dieses Verhältnis zwischen Freiheit und treuem Dienst eines der Themen ist, die durch die ganze Dichtung hindurchgehn. Wir haben gesehen, wie Caliban ein geplagter Sklave ist, weil er in den Dienst des Guten gewaltsam eingespannt wird, und daß ausgelassener Jubel über ihn kommt, sowie ihm der Schnaps einen Herrn gebracht hat, den er in Freiheit verehrt. Und das haarfeine, in jedem Augenblick gewagte, gefährdete und wieder geknüpfte Verhältnis zwischen Prospero und Ariel haben wir kennen gelernt: Prospero, der Ariel aus schmählichster und ärgster Gefangenschaft befreit und ihn bei der Gelegenheit in seinen Dienst gezwungen hat, ist keinen Augenblick seiner sicher, da mächtiger noch als der Zauberbann und das gegebene Wort der Freiheitsdrang dem flüchtigen Geiste in der Natur sitzt; aber etwas, was zwischen dem Menschen und dem Elf gar nicht möglich scheint und keinem als dem Herrscher im Reich der Phantasie Prospero erreichbar ist, die Liebe ruft Ariel immer wieder aus der Flucht in den Dienst zurück, bis Prospero dem Liebling, dem Herzensariel freiwillig die Freiheit schenkt. All das, was Shakespeare uns da zur Letze gegeben hat, ist ein heiliges Vermächtnis für das Miteinanderleben der Menschen in Familie, Bünden und Gesellschaften und liegt als totes Gut unberührt da; all das ist uns Frevlern der Trägheit nur Literatur, Lektüre und Schauspiel; wir bleiben unsern Meistern, ob sie Shakespeare oder Goethe oder Beethoven heißen, die Religion schuldig, die sie uns geliehen haben, damit wir mit ihr wuchern. Wir haben Shakespeare gegenüber eine Entschuldigung: er spricht nicht zu uns, nicht bloß, weil wir nicht hören, sondern, weil er ein Stummer ist. Nie hat die Erde einen getragen, dem das Schweigen, das Nichtredenkönnen mehr Gebot war als diesem Menschen. Das klingt erstaunlichst, denn nie auch hat einer größere Gewalt über die Sprache besessen und geübt, als er. All diese strömende Fülle aber hat er immer nur den Leidenschaften und krausen Einfällen, den Ergüssen und Repliken seiner Gestalten geliehen; den Sinn dessen, was zwischen diesen Gestalten waltet, den Geist seiner Dichtungen hat er szenisch gebaut, hat ihn gezeigt, hat ihn sichtbar gemacht und zwischen den Worten aufleuchten lassen; er hat nie vermocht, einer seiner Gestalten in den Mund zu legen oder sonst irgend voll und gerade heraus zu sagen, was das Drama, was auch nur eine Gestalt bedeutet. Darum aber auch, weil diese Sprachwerke in ihrem Eigentlichen weit über die Sprache hinausgehn, weil sie nie abstrakte Lösungen, sondern immer Aufgaben für uns sind, weil sie nie fertig sind, sondern immer auf Empfängliche und Berufene stoßen müssen, die sie in Empfindung und Verständnis vollenden, darum sind sie heute noch jung und neu wie am ersten Tag und sind jedem neuen Geschlecht der Erdenbürger von neuem eine unbekannte Küste, zu der wir Entdeckungsfahrten machen. Auch das Verhältnis Prosperos zu seinem Bruder empfängt von dem Standpunkt aus, zu dem wir hier gekommen sind, neues Licht. Seine Frau, Mirandas Mutter, ist früh, bald nach der Geburt gestorben (dies Unglück trifft auffallend viele von Shakespeares Vätern; so nebenher, wenn er nicht gerade das Eheverhältnis selbst darzustellen hat, weiß er mit Ehefrauen selten etwas anzufangen); Prosperos ganze Liebe galt nun dem Kind und -- er sagt es ausdrücklich -- dem Bruder. Damals und noch lange hin, er bewährte es später bei dem Versuch, Caliban zu erziehen, war er noch ein Gläubiger, der die Menschen nach seinem Bilde sah und ihnen unbegrenztes Vertrauen entgegenbrachte. Nichts schmerzt und erzürnt ihn bei der Rückerinnerung mehr, als „daß ein Bruder so treulos sein kann“. Treulos aber war dieser gemütlos Gierige nicht bloß gegen den Bruder, genau so gegen das Volk von Mailand, dem er die Freiheit raubte, das er unter fremdes Joch brachte, um selbst den Herrscher zu spielen und die Staatseinkünfte zu genießen. Wir erhalten ein großes Gegensatzbild: wie Antonio der Usurpator sich eifrig und nach außen tätig im politischen Betrieb übt, die Bureaukratie und andre Interessenten an sich fesselt und vor lauter Egoismus so betriebsam ist, daß er kein eigenes Leben lebt, während Prospero, der sich zu völliger Einsamkeit zurückgezogen hat, fern von allen Staatsgeschäften nur seiner Seele lebt und eben damit dem Volke dient und sich als echter Herzog fühlt. Er, den das Volk über alles liebte, der ein Fürst unter den Menschen war, weil er ein Fürst im Reich des Geistes war, hat dann, während, vom Verräter hineingelassen, der Feind in Mailands Tore einzog, ausgesetzt in morschem Boot hilflos im Meer treiben müssen, und nur das Lächeln seines Kindes, in dem etwas Ewiges zu ihm sprach und ihm die Zuversicht gab, man brauche an den Menschen trotz allem nicht zu verzweifeln, gab ihm die Kraft, noch leben zu wollen. Damals, wie er, den Wellen und Winden preisgegeben, ein aus der Menschheit Verstoßener, vom nächsten Menschen Verratener, ziellos mit dem lächelnden Kind übers Meer hintrieb, mag dem innigen Mann zuerst die Vision erschienen sein, wie dieses Kind einst über Gier und Haß hinweg im Land seiner Feinde den Bund der Liebe gründen würde. Und nun ist es durch eine wunderbare Fügung des Schicksals so weit: jetzt kommen, von Tunis heimgekehrt, wo die Tochter des Königs von Neapel eine verhaßte Heirat schloß, zu der sie die Staatsraison ihres Vaters zwang, die Feinde in stolzer Fahrt über dasselbe Meer, das einst Prosperos elenden Kahn wiegte; sie sind in seiner Hand. Ferdinand, der Jüngling, fast ein Knabe noch, dessen Reinheit der Geisterfürst ahnt, wird von den andern getrennt; er allein von allen, die sich ins Wasser stürzten, kämpft kühn mit dem Element; so kommt er an Prosperos Strand, zu seiner Prüfung und seiner Liebe. Wir sehen, wie beglückt Prospero, wie dankbar er der Naturmacht Ariel ist, daß dieser erwünschte Bund nun wunderbar zustande kommen soll. Die andern aber, die Mörder, die sollen erst durch Wahnwitz hindurch, sollen wie im Alptraum ihre längst vergessene Schuld an Prospero empfinden, um in Herzensleid zu büßen und, wenn sie’s vermögen, zu reinem Leben zu kommen. Bei einem, dem mindest Schuldigen, dem König von Neapel gelingt es; noch ehe Ariel in Gestalt der Harpyie ihnen gemeldet hat, daß sie um ihres Verbrechens gegen Prospero willen leiden und nur durch Umkehr von innen heraus sich aus dem Bann befreien können, noch ehe ihnen der Geist so verkündet, was sie in all der langen Zeit nicht gewußt hatten, daß der Frevel nämlich eine Wirklichkeit ist nicht nur für den, gegen den er sich richtet, sondern auch für die Täter, eine Wirklichkeit, die lebt und zehrt, solange die Buße nicht ihr noch stärkeres Leben und Reinigen anhebt, schon vorher, gleich nach der Landung auf der Insel und beim Verlust des Sohns ist tiefe Schwermut und dumpfes Brüten über ihn gekommen; all die Einfälle, Witzreden und geistreichen oder gewagten Gespräche seiner Umgebung vermögen ihn nicht aufzuheitern und dienen von der Technik des Dichters aus nur dazu, uns immerfort das Schweigen dieses Mannes, der sich immer tiefer verliert und findet, vernehmlich zu machen. Die andern Schuldigen, Prosperos eigener Bruder und der Bruder des Königs, die jetzt eben wieder Brudermordpläne schmieden, welche nur von Ariel vereitelt werden, bleiben verstockt bis zuletzt, und keine Erinnerung, keine Musik, kein Wahnwitz, keine Mahnung kann ihnen Erneuerung bringen. Aber Prospero will die Prüfung und Plage nicht länger hinziehn; er hat sich genug getan, daß er die Macht des Geistes und der Natur gegen die aus der Gesellschaft geborene Schlechtigkeit verderbten Menschentriebs zum Sieg geführt hat; die Natur solcher ererbten, verderbten Gemütsart kann er doch nicht ändern; die Kruste, die in ihnen das Gute überwachsen hat, ist so hart geworden, daß der, der es noch bei ihren Lebzeiten wachrufen will, einem Nichts, einem unerreichbar Verschütteten gegenübersteht; und gegen das Nichts gibt es nicht Rat noch Tat; der resignierte Lehrer Calibans weiß es nur zu gut. Zur Milde und letztgiltigen Verzeihung stimmt ihn vor allem, in einer himmlisch schönen, verklärten Szene Ariel. Der spricht -- ohne weitere Schilderung -- von dem plötzlichen Wahnsinn, den er über die drei armen Sünder vom Thron verhängt hat, und von dem Eindruck, den diese grausige Verwandlung ihrer Fürsten auf die Herren vom Hof, vor allem auf den guten alten Gonzalo gemacht hat, Daß, wenn Ihr jetzt sie sähet, Eu’r Gemüt Erweichte sich. Prospero fragt sinnend oder prüfend: Glaubst du das wirklich, Geist? und Ariel erwidert in tiefem Ernst: Meins würd’ es, wär’ ich Mensch. Da ist Prospero entschieden und bricht in inniger Ergriffenheit aus: Auch meines soll’s. Hast du, der Luft nur ist, Gefühl und Regung Von ihrer Not? und sollte nicht ich selbst, Ein Wesen ihrer Art, gleich scharf empfindend, Leidend wie sie, mich milder rühren lassen?... Der Tugend Übung Ist höher als der Rache... Geh, befrei’ sie. Ich brech’ den Zauber, löse ihre Sinne: Sie soll’n sie selbst nun sein. Ich weiß nichts, was rückwirkend eine bessere Erklärung für Hamlet wäre, als diese Wendung, wie sie der Sturm bringt. Wir werden nie wagen dürfen, zu entscheiden, wie weit die Unklarheit Hamlets über seine Motive und seinen heimlichen Willen eine Unklarheit des Dichters noch war, die jetzt der Klarheit gewichen ist; zu solchem Rätselraten hat sich Shakespeare zu tief in seinen Gestalten geborgen. Aber sicher ist, daß Hamlet, als er, die Hand am Schwert, um es zu ziehen, und zugleich an seinem Rachetrieb, um ihn nicht loszulassen, unentschieden dastand und darüber sann, wie er das Schwert schrecklicher zücken könne, auf der Suche nach dem war, was Prospero gefunden hat. Sehr seltsam dünkt mich das Verhältnis unsrer Empfindung zu den raschen Instinktuntaten, wie sie etwa Othello oder auch Hamlet begehen, und zu den wohlerwogenen, milden, kurzen Plagen, die Prospero über seine frevlerischen Feinde verhängt. Wir scheinen geneigt, mit jenen Ausbrüchen der Wut wie mit etwas Natürlichem mitzugehn, uns an den Strafen Prosperos, ja sogar an seinem rationellen Plageverfahren gegen den unbezähmbaren Wilden Caliban als etwas sehr Hartem zu stoßen. Das kommt, meine ich, daher, daß wir selbst die Bereitschaft zu jeder blutigen Gewalttat in uns locker genug finden, wenn wir in unsrer Triebnatur stehen, daß wir es aber, sowie wir zur Vernunft, zur Beherrschtheit, zur Abgeklärtheit übergetreten sind, nicht ertragen, irgendein lebendes und nun gar menschliches oder menschenähnliches Wesen als Mittel, ja sogar, ein Stadium seines Daseins als Mittel zu einem künftigen benutzt zu sehen. Wir haben beides als Möglichkeit in uns, den Affekt und die Vernunft; wir gehen aber in unbeirrtem Mitgefühl mit dem Triebmenschen, während wir beim Überlegenen jeden, auch den kleinsten Rest aus der tierisch-sinnlichen Sphäre als unangenehm empfinden. Im Hamlet hat eine Geisterstimme den Sohn, der seiner ganzen Anlage nach so ein Geistiger, so ein Dichter zu sein berufen ist wie Prospero, zur Rache aufgerufen; zu blutig mörderischer Tat drängt’s ihn unterirdisch von außen, unterirdisch in ihm selbst; von seiner inneren Höhe aber, von seinem besten Wesen ruft es ihn zur Gewalt der gestaltenden Rede, des strafenden, bannenden Worts, zu dem jetzt Prospero mit tiefem Atemzug ausholt. Und zu diesem Verzicht auf jegliche Strafe und Plage ermuntert hat ihn Ariel der Geist, dem Grazie und spielerische Leichtigkeit und holde Anmut etwas verleihen, was wie eine natürlich gewachsene Nachbildung des sanftesten Teils unsres menschlichen Gemüts ist, wo es von der Stille der Vernunft, wo Seele von Geist, Gefühl von Denken nicht mehr zu trennen ist. Wozu auch, sagt sich Prospero, wozu strafen, verletzen, töten, Leben zerstören? Ist ja doch alles Leben nur ein seltsames Spiel, das mit uns getrieben wird, und so unwirklich und vergänglich, wie der Geisterspuk und Hokuspokus, den er selbst schmerzlos entstehen und vergehen läßt. Schmerzlos! Das ist der Unterschied zwischen dem Leben der Gestalten, die der Phantast in die Lüfte zaubert, und derer, die das dunkle Schicksal aus den Elementen ins Dasein bannt. Darum tut Milde und inniges Mitleid not, auch gegen die Schlechten: das Leben, an dem die dämonischen, erdenschweren Naturkräfte hämmern und zerren, ist mit Gefühlen, mit Schmerzen verbunden, gleichviel ob einer gut oder schlimm geraten ist, während Prosperos luftiger Trug nur Spiel und bunter, flimmernder schmerzloser Geistertraum ist. Sonst aber freilich, was ist Leben, was ist Erde, was ist Welt andres als Traum und Spiel? Unsre Spieler, Wie ich Euch sagte, waren Geister und Sind aufgelöst in Luft, in dünne Luft. Wie dieses Scheines lockrer Bau, so werden Die wolkenhohen Türme, die Paläste, Die hehren Tempel, selbst der große Ball, Ja, was daran nur teilhat, untergehn Und, wie dies leere Schaugepräng erblaßt, Spurlos verschwinden. So ein Stoff sind wir, Wie der, aus dem man Träume macht; ein Schlaf Hält unser Stückchen Leben rings umgürtet. Man hat gezeigt, daß diese Worte Ähnlichkeit mit einigen Verszeilen haben, die sich in einer 1603 erschienenen Tragödie des Lord Stirling finden. Das ist nicht wichtig. Wichtiger ist mir, daß das ganze modische Maskenspiel, das Prospero vor Ferdinand und Miranda von seiner kleinen Geistertruppe in den Lüften aufführen läßt, eben um dieser Worte willen, die daran anknüpfen, hauptsächlich veranstaltet scheint. Derart ist Shakespeares Technik in dieser Zeit; wir haben Ähnliches vorhin bei Gelegenheit der Dialoge gesehen, die Alonsos Schweigsamkeit umklingen. Ein wenig kann bei der Maske, die aufgeführt wird, mitbeabsichtigt sein, noch einmal die bräutliche Beherrschung des Geschlechtstriebs hervorzuheben, die Prospero dem jungen Menschenpaar, fast noch zwei Kindern, auferlegt hat. Das steht mit dem Sinn des Dramas, der Überwindung des Triebs durch den Geist, wohl aber auch in seiner fast etwas schrullenhaften Gestalt mit unauslöschlichen persönlichen Erfahrungen Shakespeares aus der Jugendzeit in Verbindung. Wir hören es aus den Worten von der Vergänglichkeit, die Prospero zu Ferdinand spricht: die Heiterkeit, zu der der Herrscher im Geistland schließlich gelangt ist, ruht auf schwerster Melancholie; und seine Güte zu den Menschen ist mit Lebensmüdigkeit und Menschenverachtung verbunden; und dieser Stimmung widerspricht nichts in dem Stück; die Utopie eines goldnen Zeitalters in Kommunismus und südlichem ~dolce far niente~, die Gonzalo nach Montaigne vorträgt, kommt nur als Erheiterung für den Trübsinn des Königs, als schönes Bild, als Scherz, keineswegs gläubig heraus; und wenn Prospero nicht Geisterfüllte, Seelenvolle, wenn er nicht Ausnahmen und seines Gleichen kennte, wenn er nicht seine Hoffnung auf das junge liebende Paar und damit auf die kommenden Geschlechter setzte, wäre ihm Welt und Leben nicht mehr zu ertragen. Schön ist es, daß diese Worte von der Vergänglichkeit aller Dinge der Welt, von der Traumhaftigkeit und Schlafumgürtung des Menschenlebens ihren Platz am Sockel von Shakespeares Denkmal in der Westminsterabtei gefunden haben. Wie das Leben von Schlaf und Traum, so ist dieses Vermächtnisdrama Shakespeares von Musik umringt. Wir hören es gleich noch, wie jetzt für Prospero-Shakespeare an Stelle der dämonisch leidenschaftlichen Magie die heilende, lösende Musik der neue, der luftgleiche, verschwebende, leicht sich wiegende, spielerische, immaterielle Zauber sein soll. Was es mit dieser Musik, der nämlichen, von der schon Lorenzo im Kaufmann von Venedig so feierlich sprach, auf sich hat, sagt uns der Dichter auch mit dem entzückenden Orpheuslied, das er um dieselbe Zeit, in der er den Sturm dichtete, in seinem Heinrich VIII. der unglücklichen Königin Katharina vorsingen läßt: Orpheus beugt der Bäume Wipfel, Und der Berge eisige Gipfel Seiner Leier süß Getön. Blum’ und Pflanze blüht entgegen, Gleich als blüht’ in Sonn’ und Regen Junger Frühling, ewig schön. Sanft zum Wellenspiel sich lösen Sturmesfluten, alle Wesen Lauschen seines Sangs Gebot. Solche Macht ward süßen Klängen; Sorg und Weh, die uns bedrängen, Wiegen sie in sanften Tod. Durch Geistermusik läßt Prospero die Besessenen von dem auferlegten Wahnsinn einer kurzen Stunde wieder heilen, läßt sie vor sich treten, gibt sich ihnen noch in den Taumelschlaf hinein zu erkennen und spricht, da er die Hauptschuldigen von der Schlechtigkeit, von der sie besessen sind, nicht erlösen kann, mit der verachtungsvollen Milde, die jetzt für ihn die äußerste Strenge ist, die der Geist zu üben hat, zu dem Brudermörder: Fleisch und Blut, Mein Bruder du, der Ehrgeiz hegte, austrieb Gewissen und Natur, der mit Sebastian -- Des inn’re Pein deshalb die stärkste -- hier Den König wollte morden, -- ich verzeih’ dir, Bist du schon unnatürlich! Der Bruder Antonio findet in der ganzen langen Szene erst gegen den Schluß hin ein einziges Mal, wie ihn sein Kumpan Sebastian direkt anredet, ein paar Wörtchen; die beiden rohen Bemerkungen, die die zwei Gesellen austauschen, zeigen genugsam, daß ihre Gemeinheit auch von diesem Erlebnis, das für König Alonso die zermalmende und neu aufbauende Erschütterung war, nicht umzubringen ist. Aber im Verhältnis zu allen andern, die bei dem Vorgang sind, stehen die beiden wie fortgeschoben und entehrt zur Seite. Der Usurpator ist von nichts, für ihn nichts, von bloßen Worten überwunden; er ist zu nichts geworden und hat sein Herzogtum eingebüßt und wird im Leben nicht fassen, daß eine andere Macht ihn besiegt hat als die, die er versteht und übt: rohe Gewalt. Der Geisterfürst ist wieder Herzog von Mailand; bald aber wird das junge Paar an seiner Stelle herrschen; denn Prospero will nur mit nach Italien segeln, um seine „Herzgeliebten“ zu vermählen und dann nach Mailand zu ziehen; dort soll „jeder dritte Gedanke dem Grab gelten“. Seine Geister aber hat er schon hier, auf der Zauberinsel, auf der er ihre Kraft an sich gefesselt hat, entlassen; er ist nun am Ziel und will als ein gewöhnlicher, sterblicher, sterbender Mensch in die Heimat zurückkehren; die Kraft der Magie, mit der er Feuer aufrührte und Stürme entfesselte, ist zu Ende, und auch am luftig leichten Arielspiele will er fürder keine Lust mehr haben. Wir, die wir uns Shakespeares Werk in feiner Gesamtheit, Einheit und Entwicklung vergegenwärtigt haben, müßten verhärteten Herzens sein, wenn wir bei diesen Worten Prosperos nicht im ganzen und im einzelnen in wundersamer Gemeinschaft den gewaltig erhabenen, fast unbegreiflichen, wonnevollen Stolz und die leidvollste, die wahrhaft abscheidende Resignation William Shakespeares vernähmen: Ihr Geister alle, Mit deren Hilfe ich am Mittage Die Sonn’ umhüllt, aufrühr’sche Wind’ entboten, Die grüne See mit der azurnen Wölbung In lauten Kampf gefetzt, den furchtbarn Donner Mit Feuer bewehrt und Jovis Baum gespalten Mit seinem eignen Keil, des Vorgebirgs Grundfest’ erschüttert, ausgerauft am Knorren Die Ficht’ und Zeder; Grüft’, auf mein Geheiß, Erweckten ihre Toten, sprangen auf Und ließen sie heraus, durch meiner Kunst Gewalt’gen Zwang: all dieses grause Zaubern Schwör’ ich hier ab; und hab’ ich erst -- wie jetzt Ich’s tue -- himmlische Musik gefordert, Zu wandeln ihre Sinne, wie die luft’ge Magie es soll: so brech’ ich meinen Stab, Begrab’ ihn manche Klafter in die Erde, Und tiefer, als ein Senkblei je geforscht, Will ich mein Buch ertränken. Dies ist das letzte Drama Shakespeares, das hier zu besprechen war. Es bleibt noch seine persönliche Lyrik, in der wir schon seinem inständig schweren Leben, seiner Innerlichkeit und Persönlichkeit ganz nahe treten. Nach 1612 wissen wir von keinerlei dichterischer Tätigkeit Shakespeares mehr, von 1613 an ist er in seiner Vaterstadt Stratford, und 1616 ist er dort gestorben: ein König ohne Land, ein Verbannter und vom Geist Gezeichneter und wahrhaft Ausgesetzter, ein Zauberer und Geistesfürst ohnegleichen, ein Herrscher über Natur und Geist, dem nichts Menschliches fremd war und der darum sein Leben lang ein Fremder war unter den Menschen. Die Sonette Ich sage etwas voraus, was nicht gesagt zu werden brauchte, aber ich sage es: Daß Shakespeares Sonette da sind und zu uns sprechen, daß wir über sie reden dürfen, ist eine Ehre, die wir durch ganz unbedenkliche Freiheit und Würde zu verdienen haben. Ich werde also frei sagen, was die Sache verlangt; der Genius der Freiheit hat diese Gedichte gezeugt. Es ist nichts dagegen einzuwenden, daß viele Leute diesen Sonetten gegenüber verlegen und verschämt werden; und solange das Publikum es nicht verwehrt, dürfen auch solche sich als Kritiker auftun; aber sowie sie dann etwas anderes sagen, als daß diese Sonette sie in Verlegenheit setzen, sowie sie ihren offenbaren Sinn fälschen wollen oder etwa sagen, diese Gedichte hätten keinen großen Wert, wären langweilig und dergleichen, so muß man ihnen bedeuten, daß es zu weit geht, aus der Verlegenheit die Verlogenheit und aus der Verschämtheit die Unverschämtheit zu machen. „Shakespeares Sonette, bisher noch nie gedruckt“, erschienen 1609, um die Zeit also etwa von Troilus und Cressida, Antonius und Cleopatra und Coriolan. Als Verleger war T. T. genannt, das ist Thomas Thorpe. Als Anhang folgt in dieser Ausgabe die Romanze Der Liebenden Klage. Manche haben dieses Gedicht aus einem triftigen Grund, der oft vorhalten muß, weil es nämlich manchen nicht gefiel oder nicht paßte, Shakespeare absprechen wollen; sonst gibt es für diesen Versuch keinen Grund. Übrigens ist es in der Einkleidung schwach und modisch, in der Form vollendet, so wie die beiden großen episch-lyrischen Gedichte Shakespeares, an die es auch sonst erinnert. Ich schließe mich der Meinung, die öfter geäußert wurde, durchaus an, daß dies Gedicht, das nach Art und Form nichts mit den Sonetten zu tun hat, beigefügt wurde, weil es ein Porträt des in den Sonetten besungenen Freundes bringt und also inhaltlich sehr viel mit ihnen zu tun hat. Daß die Veröffentlichung dieses Buches mit Shakespeares Wissen und Zustimmung geschah, ist sehr wahrscheinlich. Daß die überaus kunstvolle Anordnung vom Dichter selbst stammt, ist so wenig zu bezweifeln, wie daß Goethe seine Gedichte selbst geordnet hat. Daß diese 1609 veröffentlichten Sonette mindestens zu beträchtlichem Teil einer weitaus früheren Zeit entstammen, ist sicher. Erwähnt hat sie -- für uns -- zuerst 1598 in Shakespeares 34. Lebensjahr Francis Meres in dem Lob Shakespeares, das hier öfter erwähnt wurde; da spricht er von Shakespeares „zuckersüßen Sonetten unter seinen privaten Freunden“ und vergleicht diese Gedichte mit Ovid; in dem Ausdruck zuckersüß darf man nur Lob hören, keinerlei ironische Nebenbedeutung. Im Jahr darauf, 1599 erschien dann eine Sammlung von Gedichten, die Shakespeares Namen trug: Der verliebte Pilger; es ist kaum möglich zu entscheiden, ob diese Gedichte -- zwanzig an der Zahl -- alle Shakespeare zugehören, da einige sich auch in Sammlungen anderer Dichter finden; aber zwei Sonette, die auch in der endgültigen Sammlung von 1609 stehen, zwei sehr wichtige, um die sich dem Sinne nach andre gruppieren, sind schon da 1599 veröffentlicht. Es gibt Übereinstimmungen gedanklicher und formaler Art, die von dieser Sonettendichtung zu Shakespeares beiden großen Gedichten aus den Jahren 1593 und 1594 leiten, und ebenso zu den frühen Liebesspielen, besonders den beiden Veronesern und der Verlornen Liebesmüh. Wir haben also anzunehmen, daß die Sonettenproduktion und das zu Grunde liegende Erlebnis oder, vorsichtig gesagt, ein zu Grunde liegendes Erlebnis schon in den neunziger Jahren einsetzen. Andere von diesen Gedichten aber wieder sind nach Inhalt, Stimmung und Form so anders, so reif, düster, streng, daß eine spätere Zeit der Abfassung, bis gegen 1605 hin mindestens anzunehmen ist. Ich lasse mich dabei nicht von der Strenge, Festigkeit und Geschlossenheit, der Neigung zur Antithese, zum Witz, zum Geist täuschen, die schon die Form des Shakespearesonetts mit sich bringt; über das, was all diesen Sonetten gemeinsam ist, hinaus, wachsen einige ins besonders Herbe, Abgewandte und Furchtbare; sprechen überdies von Erfahrungen, die der jüngere Shakespeare nicht haben konnte. Über etwa ein Dutzend Jahre also kann sich sehr wohl die Entstehung dieser Sonettendichtung erstreckt haben. T. T. der Verleger hat dem Buch eine Widmung mitgegeben, der ich so wörtlich wie möglich hier eine deutsche Fassung zu geben suche: Dem einzigen Erbringer dieser nachfolgenden Sonette Herrn W. H. alles Glück und jene von unserm immerlebenden Dichter verheißene Ewigkeit wünscht der wohlwünschende Abenteurer beim Auslaufen. T. T. Bei der Übertragung der Schlußwendung (~the wellwishing adventurer in setting forth~) habe ich mir von dem trefflichen Sprachenmeister Regis helfen lassen; ich glaube in der Tat, daß der Mann T. T. in seiner geschraubten Sprache, in der sich Modeton und kleinbürgerliche Unbeholfenheit treffen, seine Empfindung, daß er als Verleger ein Wagnis begehe, mit diesem aus der Schiffersprache genommenen Bild hat ausdrücken wollen. Mit dem gedrechselten Wort Erbringer versuche ich ~begetter~ wiederzugeben. Damit steht es so. Die einen sagen, es heiße hier, was der gewöhnlichen Bedeutung von ~to beget~ entspricht: Erzeuger. Die andern beziehen sich auf eine seltenere Bedeutung des Zeitworts und sagen: Nein, es ist Beschaffer gemeint; der nämlich, der dem Verleger das Manuskript verschafft hat. Nach Prüfung der beiderseitigen Argumente finde ich, daß alle beide recht haben, und glaube, daß der Verleger dieses beides mit der einen Bezeichnung in verschwommener Wortgemeinschaft hat ausdrücken wollen: Du bist der Mann, an den diese Sonette sich richten, dem der Dichter die Unsterblichkeit verheißen hat, welche ihm selbst nicht fehlen wird, und dir verdanke ich die Möglichkeit, daß ich sie herausgeben darf; ich bescheidener Mann will dir dasselbe wünschen, was dir der Dichter gelobt hat. Sicher ist, daß der Dichter in diesen Sonetten die Ewigkeit nur dem Freund verheißen hat, an den sie sich richten; und dem und keinem andern widmet der Verleger das Buch. Daß er den aber auch in dem anderen Sinn den ~begetter~ der hier folgenden Sonette nennt, ist sehr wohl möglich. Wir wissen nichts weiter, und es bleibe jedem überlassen, wie er sich dieses Beschaffen vorstellen will: ob dadurch, daß er ihm eine Abschrift der Sammlung verschaffte, oder so, daß er die Erlaubnis oder die Anregung zum Druck gab. Ich denke, bei näherer Bekanntschaft mit den Tatsachen wird jeder zugeben müssen, daß auch der waghalsigste Abenteurer nicht ohne Zustimmung des Objekts dieser Gedichte das Buch veröffentlicht hätte, es sei denn, man nehme an, der Besungene sei schon tot gewesen, wofür nichts spricht. Ich halte für wohl möglich, daß der Mann, den T. T. Herrn W. H. nennt, veranlaßt hat, daß das Dichtwerk erschien; daß für ihn darin höchstes Lob, Anzweifelung und bitterer Tadel vereint zu finden war, beirrt mich durchaus nicht; es gibt solche Männer, die für ein solches Verhältnis zu einem großen Künstler eine Mischung von Geheimnis und Öffentlichkeit brauchen, und W. H. könnte ein solcher gewesen sein. Wer ist dieser Mr. W. H.? An wen richten sich diese Sonette? Man hat viel herumgeraten, ist sogar auf William Himself, William (Shakespeare) in Person und auf die Königin Elisabeth geraten, und hat sich, wie in fast allen Shakespearefragen, nur ganz selten zu dem Geständnis bequemt, man wisse es nicht und es gebe keine Möglichkeit, es aus dem Material, das uns vorliegt, herauszubekommen. In England stehen in der Gegenwart zwei Parteien einander gegenüber, von denen die zweite im Vordringen ist: die erste entscheidet sich für Henry Wriothesley Graf von Southampton, die zweite für William Herbert Earl von Pembroke. In Deutschland nehmen es die meisten für selbstverständlich, daß die Sonette dem Gönner und Patron Shakespeares galten, womit Graf Southampton gemeint ist. Beide Parteien arbeiten viel mit gewissen Anspielungen auf Zeitereignisse, die sich in den Sonetten finden und die nach ihrer Behauptung nur auf den Mann deuten können, auf den sie gewettet haben. In Wahrheit sind die Stellen, die man anführt, viel zu unbestimmt, vieldeutig, allgemein, als daß man sie auf etwas Bestimmtes beziehen könnte. Ich habe nun zu sagen, was ich weiß und was ich nicht weiß. Die Abkürzung Mr., Master, woraus dann Mister geworden ist, ist lediglich die Anrede für Bürgersleute. Wenn aber -- wie wir noch sehen werden -- etwas mit Sicherheit aus dem Inhalt der Sonette hervorgeht, so ist es zuvörderst das, daß der Angeredete der höchsten Aristokratie angehörte. Es liegt also, wie zu erwarten war, in der Widmung eine Mystifikation, die sich, meine ich, der Herausgeber nicht ohne Zustimmung des Betroffenen erlauben durfte. Ist das aber so, dann wäre es nicht unbedingt nötig, daß die Buchstaben Mr. W. H. etwas mit den Anfangsbuchstaben seines Namens zu tun haben. Die Southamptonisten sagen: es ist eine Umstellung von Henry Wriothesley, oder auch: es ist Wriothesley Hampton, oder auch: es ist bloß irgendein unbekannter, gleichgültiger Beschaffer des Manuskripts; die Herbertisten haben es leichter: William Herbert. Ich kann aber noch einen Schritt weiter gehn und sage: trotz aller Einschränkung der Verläßlichkeit der beiden Buchstaben W. H. durch das unzutreffende Mr. haben wir doch wieder Grund, sie beide für eine Namensbezeichnung zu halten, weil das W sicher zutrifft. Gar kein Zweifel darf für jeden, der die Sprache der Sonette kennt, bestehen, daß der Vorname des Freundes uns mitgeteilt ist: er heißt William. In drei Sonetten findet sich das anmutige Spiel mit „Will“ als dem Willen der launisch tyrannischen Geliebten und dem Namen William für die Liebenden alle beide: durch dieses dreifache Will wird das seltsame Verhältnis der drei Menschen zu einander ausgedrückt. Das also wissen wir: der Freund war ein Jüngling aus hohem Adel und hat wie Shakespeare William geheißen. Auf Hypothesen baue ich nichts; um Tatsachen komme ich nicht herum. Solange man nicht auf Grund irgendeiner Tatsache wahrscheinlich macht, daß der Graf Southampton außer seinem Taufnamen den Rufnamen William gehabt hätte, kommt er mir für die Sonette nicht mehr in Betracht. Was sonst für ihn angeführt wird, ist nicht durchgreifend: Shakespeare hat ihm 1593 devot und im üblichen unausstehlichen Dedikationston Venus und Adonis gewidmet; er hat ihm im Jahr darauf schon in herzlicher Vertraulichkeit, wiewohl immer noch in gezierter Modesprache die Lucretia gewidmet. Das könnte aber nur etwas beweisen, wenn man zeigte, daß Shakespeare mit keinem andern jungen Adligen vertraut sein konnte, wozu keinerlei Möglichkeit ist. Statt dessen aber weiß man, daß es geradezu Mode war, dem Grafen Southampton in Herzlichkeit und Verehrung Werke zu widmen; wir kennen eine große Zahl solcher Widmungen; Chapman, der Homerübersetzer, nennt ihn nicht etwa den Gönner des Einzigen, sondern den „Auserwählten _aller_ edlen Geister unsres Vaterlands“, und Nash begrüßt ihn in einer Widmung als einen „teuren Freund und Begünstiger sowohl der Dichter-Freunde als der Dichter selbst“. Da kann man sich von seinem vielseitigen Mäcenatentum ein Bild machen; und ich habe nichts dagegen, daß man ihn sich als Begünstiger des Freundschaftsbundes zwischen William Shakespeare und dem andern William vorstellt. Für William Herbert Earl von Pembroke steht die Sache viel besser; er hat den großen Vorzug, daß er William, daß er W. H. heißt. Die Widmung der beiden Gedichtbände an Southampton wird dadurch wettgemacht, daß Shakespeares Freunde Heminge und Condell die Gesamtausgabe eben diesem William Herbert und seinem Bruder Philipp gewidmet haben und diesem „adligsten und unvergleichlichsten Bruderpaar“ nachrühmten, sie hätten den Stücken Shakespeares und ihm selbst bei seinen Lebzeiten viel Gunst erwiesen. Wäre William Herbert der Freund der Sonette, so könnten die frühesten dieser Sonette, die zu dem Zyklus vereinigt sind, nicht wohl vor 1598 geschrieben sein; da kam der junge Adelsmann als Achtzehnjähriger nach London. Das nehme ich nicht gern an; aber es könnte sein. Meres könnte, als er 1598 von Sonetten Shakespeares sprach, die unter seinen privaten Freunden kursierten, gerade einige der ersten kennen gelernt haben, ganz abgesehen davon, daß, was er kannte und rühmte, auch solche Sonette gewesen sein können, die gar nicht auf uns gekommen sind. Und es spricht nicht gegen die Herberttheorie, daß 1599 der Verleger Jaggard zwei von den Sonetten, die unserem Dichtwerk angehören, in den Verliebten Pilger aufnehmen konnte. Aber was in aller Welt zwingt oder berechtigt uns denn, aus der Möglichkeit eine Notwendigkeit zu machen? Wäre das Geheimnis so durchsichtig gewesen, daß wir, die wir eigentlich gar nichts wissen, die sichere Lösung finden, warum haben dann weder Shakespeares Zeitgenossen noch die ersten Forscher, die Nachrichten aus seinem Leben zusammentrugen, etwas davon berichtet? Ja, wenn die Sache so auf der Hand liegt, so aus den Sonetten selbst herauszulesen ist, wie jede der beiden Parteien behauptet, warum zierte dann der wackere Thorpe sein Buch nicht einfach mit dem Namen des Freundes? Denn lesen konnten Shakespeares Zeitgenossen auch; und Anspielungen auf Zeitumstände, die wir mit ausschließlicher Sicherheit deuten können, mußten für sie gar ganz handgreiflich sein. Mit alledem ist es aber nichts; nichts ist bewiesen, als daß die Sonette sich an einen Adligen richten, der William hieß. Und es schadet gar nichts, daß wir weiter nichts wissen. Weder die Southamptonisten noch die Herbertisten haben zu dem Verhältnis, wie es in den Gedichten steht, aus anderweitiger Kenntnis das allergeringste dazugebracht. Wir wissen davon auf jeden Fall, was in den Gedichten steht, und überdies nichts. Das Gedichtwerk besteht im ganzen aus 154 Sonetten. Davon stehen die letzten beiden, die eigentlich nur eines in zwei Fassungen sind, für sich; ein Epigramm aus der griechischen Anthologie -- von dem es lateinische Übersetzungen gab -- wird nachgebildet und fortgeführt; und es steht da als sinnvoller, vom Persönlichen ins Allgemeine verflößender, besänftigender Abschluß des ganzen Zyklus: das Feuer der Liebe durchdringt alles; nicht einmal Wasser löscht es aus, das Wasser selbst wird feurig und kocht; und dieses von Liebe durchglühte Wasser -- der heiße Sprudel -- kann wohl Krankheiten des Leibes heilen, aber kein Wasser kann die Liebe kühlen, die Liebeskrankheit heilen. Dieses letzte Motiv, mit dem die ganze Sonettenfolge schließt, daß der von der Liebe Geschlagene vergebens im Heilbad Heilung von der Liebeskrankheit sucht, findet sich in der antiken Vorlage nicht. Die übrig bleibenden 152 Sonette bilden einen Zusammenhang, der sich zunächst wieder in eine große und eine kleine Abteilung spaltet: 1-126 und 127-152. Da ich annehme, daß Shakespeare das Buch, wie es uns vorliegt, komponiert hat, brauche ich die Teilung in 126 und dann 26 für keinen Zufall zu halten; ein bißchen mit Zahlen spielen die Dichter alle gern; das ist wie ein spielerisches Ausruhen vom bannenden Spiel des Rhythmus; und der Dichter hat gewiß das Werk aus einem größeren Vorrat zusammengestellt und manches weggelassen. Die kleine, als Anhang folgende Abteilung der 26 Sonette richtet sich an die schwarzäugige, auch sonst schwarze Geliebte -- möge diese Wendung, die ihr Recht hat, nur keiner nach Art von Wilhelm Jordan verstehen, der diese Frau in allem Ernst mit abgeschmacktesten Deutungen und Deutlichkeiten für eine Negerin erklärt hat! Dieser kleine Zyklus steht in engster Verbindung mit dem vorhergehenden großen, in dem die nämliche Frau schon ihre Rolle spielt. Die Sonette 1-126 richten sich unmittelbar an den Freund. Daß diese Gedichte der Liebe im ganzen einem Freund und nicht einer Geliebten gelten, ist längst solchen, die es nicht haben wollten, aus einzelnen Stellen zwingend bewiesen worden. Das tut heute nicht mehr not; die Wahrheit ist durchgedrungen. Aber da auch neueste Erklärer den unwürdigen Versuch machen, wo nur die allgemeingültige Sprache der Liebe es zuläßt, wieder einzelne Steine aus dem Bau herauszubrechen und Shakespeare vor dem Verdacht, er habe dem Freund leidenschaftliche Worte der Anbetung gewidmet, zu retten, ist die seltsam beschämende Geschichte, die diese Gedichte im Urteil der Kunstrichter erlebt haben, immer noch nicht veraltet. In die Gesamtausgabe haben Shakespeares Freunde 1623 nur die Bühnenwerke aufgenommen, keins von den Gedichten. Die Sonette wurden nach der ersten Ausgabe von 1609 erst im Jahre 1640, zusammen mit den andern Gedichten, wiedergedruckt; der Herausgeber zerstörte -- wie später bei uns Bodenstedt -- die wundervolle und notwendige Anordnung und ließ eine Reihe Sonette fort. Als einheitliches Gedichtwerk kamen sie erst wieder 1710 heraus, ein Jahrhundert nach ihrem ersten Erscheinen; und der Herausgeber erklärte, sie seien alle miteinander dem Lobe der Geliebten gewidmet. Damit war eine Losung ausgegeben, bei der es bis 1780 blieb; da sprachen erst Malone und die andern Forscher, die ihm beim Kommentieren halfen, die klare Wahrheit aus. Chalmers versuchte es mit der Theorie des Mannweibs, der Königin Elisabeth nämlich, konnte aber kein Glück mehr damit haben. Die Gelehrsamkeit half sich jetzt anders; Drake 1817 und noch später berühmte Forscher wie Dyce, Charles Knight und Nicolaus Delius erklärten, hinter diesen Gedichten stünden im allgemeinen gar keine Erlebnisse; es handle sich um eine warnende Darstellung unerlaubter Liebe, meinte der eine; um ein bloßes Spiel der Phantasie, sagten so ungefähr die andern. Daran nun läßt sich immerhin eine ernsthafte Frage knüpfen. Ist es denn sicher, darf gefragt werden, ob diese Gedichte alle an einen und den nämlichen Mann gerichtet sind, und ob die Folge dieser Gedichte etwa die zeitliche Folge eines einheitlich in sich zusammenhängenden Erlebnisses darstellt? Wir müssen immer unterscheiden zwischen biographischen Tatsachen, auf die wir aus dem Buche schließen wollen, und dem Dichtwerk, wie es uns der Dichter gegeben hat, auf daß wir es ganz für sich nehmen sollen. Was die Tatsachen aus Shakespeares Leben angeht, so wissen wir davon außerhalb des Buches gar nichts. Es ist aber kein Zweifel, daß die Ordnung der Gedichte künstlich und künstlerisch ist. Viele, je zwei und mehrere, haken in einander ein, so daß ein Gedicht aus Gedichten entsteht; die einzelnen Sonette sind nur wie Strophen; niemand kann entscheiden, ob jedesmal die Gedichte von vornherein so im Zusammenhang entstanden, ob manchmal dieses Ineinandergreifen erst vom Ordner hergestellt wurde. Auch wie sich das Herausströmen des Gefühls aus den Notwendigkeiten der Unwillkürlichkeit und das gebietende, komponierende Schaffen zu einander verhalten, kann man nicht sagen. Keinem aber, der aus eigenem Erleben heraus für die Dichtung empfänglich ist, kann in Zweifel stehen, daß diese Sonette Gelegenheitsgedichte im Sinne Goethes, daß sie erlebt sind und daß auch ihr Zusammenhang dem Zusammenhang eines Erlebnisses entspricht. Der so dieses Dichtwerk empfängt, wird nicht zweifeln, daß die meisten, die zyklischen dieser Gedichte im Leben des Dichters an eine und die nämliche Person gerichtet wurden, so wie es gewiß ist, daß nach dem Plan des zusammenhängenden Dichtwerks der Dichter William von Anfang bis zu Ende zu einem einzigen jüngeren Freund, dem Adelsjüngling William spricht. Alles Wesentliche, das gewiß ist, aus dem Wirklichkeitsleben eines so auserwählten Mannes wie Shakespeare muß uns bedeutend sein; und der Empfindungen, die hier Gestalt geworden sind, können wir gewiß sein. Diese Empfindungen aber leben uns in dem Kunstgebilde, und an diesem haben wir für unser Mitfühlen den einzig sicheren Halt. Die Wege der Dichterseele sind dunkel; selbst bei Goethe, von dem wir so viel wissen, können wir nicht sagen, ob das oder jenes Gedicht Christiane oder Marianne oder sonst einem Weibe galt, oder ein andres Bettine oder Minna Herzlieb oder beiden zugleich; daß diese Gedichte aber der Liebe gelten und welche Stelle sie in den gedichteten Zusammenhängen einnehmen, in die sie der Dichter gestellt hat, wissen wir. Und so ist in allem Wesentlichen klar, wie der Roman in Sonetten, den Shakespeare uns gab, für sich zu deuten ist; und dahin, zur geschaffenen Kunstgestalt, zum Bild der Empfindungen sollen wir immer wieder von unsern Abweichungen ins Originäre, ins Nebelland der wirren Entstehung der Empfindungen zurückkehren. Wahres Leben ist gestaltetes, gemeistertes Leben; wahres Leben Shakespeares finden wir in seinen Werken. Ich will nun, ehe ich von dem Dichtwerk und seinem Gehalt rede, etwas von der Sprache und Form und dann von den Übersetzungen sagen. Sonette wurden um diese Zeit in England vielfach gedichtet; auch die besondere Form des Shakespearesonetts haben vor ihm und neben ihm andere angewandt. Dieses Shakespearesonett besteht aus 14 Zeilen wie das echte; das echte aber besteht aus zwei Abteilungen, deren erste 2 × 4, deren zweite 2 × 3 Verse hat, und das Band der Reime in ihm ist so, daß in der ersten Abteilung zwei Reime, in der zweiten drei durchgehen. Das Shakespearesonett hat dagegen 3 Strophen zu 4 Versen, denen dann rasch 2 Verse als Abschluß folgen: 3 Quatrains und 1 Couplet. Jedes Quatrain hat seine zwei besondern, in einander verschränkten Reime, so daß die Strophen nicht formal in einander geschlungen sind; das Couplet hat seinen Schlagreim für sich. Im Rhythmischen aber und in der formalen Behandlung des Inhalts ist der Charakter des Sonetts, die Geschlossenheit eines Gefüges, dessen Teile gleichermaßen selbständig und an einander gebunden sind, streng gewahrt; nur daß das abschließende Couplet zu dieser Strenge und Unnahbarkeit, zu dieser geschmiedeten Klammer um die Gefühle, daß sie nicht zuchtlos zerfließen, noch ein anderes Mittel gegen Gärung und unreine Verworrenheit fügt: Witz, Geist, Leichtigkeit, Spiel, immerwährende Rückkehr zum Grundthema: Huldigung für den Freund. Formvollendet sind auch viele andre Sonette, die wir von Shakespeares Zeitgenossen haben; aber sie besagen meist wenig, weil sie selten aus einer Persönlichkeit gekommen sind, weil keine Not vorlag, Überfließendes zu bändigen; so sind sie inhaltlich meist allegorisch, mythologisch, schwülstig oder sonstwie rhetorisch oder gekünstelt. Bei Shakespeares Sonetten steht die Sprache in den vollendetsten, deren es viele sind, in geradem Gegensatz zu der Geschwollenheit und pathetisch barocken Gleichnisverstiegenheit, die in seiner Zeit Mode war und auf die er sich selbst in einigen Dramen und in den episch-lyrischen Gedichten so bis zum Grotesken grandios verstanden hatte. In den Sonetten aber haben wir, wie es diesen Gebilden entspricht, eine Annäherung der Sprache in Ausdruck und Syntax an die Prosa, welche dann durch die Geschlossenheit der Form, das hohe rhythmische Gleichmaß, die Parallele der Reimpaare zu einer Poesie erhoben wird, in der das Sprachgebilde nie Rhetorik oder Tirade, immer aber, zugleich in einem, Plastik und Musik wird. Und Shakespeare, der von jenem schäumenden Schwulst herkam, der von seiner Natur, der Art jeder Jugend und einer Mode bedingt war, in der sich Pathos, Bilderfülle, Wahl des seltenen Ausdrucks und also Gesuchtheit und Geziertheit, Antithese und Witz seltsam mengten und selten einander wahrhaft die Wage hielten, konnte keinen bessern Zuchtmeister brauchen als das Sonett, und das entzückende Spiel Verlorne Liebesmüh ist das Denkmal, das er dieser Reinigung seines Stils und seines Gefühlslebens gesetzt hat. Wie er dann zu seiner Reife kam und leidenschaftlichen Schmerz, unauslöschlichen Gram und wilde Weltwut mit der Strenge des Sonetts meisterte, nicht, indem er zum Zierlichen und zum Spiel ausbog, sondern, indem er sein Stärkstes und seine ganze Vehemenz in diese Form goß, da ist dieser Anblick: Shakespeare im Sonett! mir unsäglich wunderbar und ergreifend, ein Sinnbild für das, was in seinen eigenen Worten „Reif sein ist alles“, in Goethes Worten „In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister“ heißt; ein Bild noch höherer, weil unheimlicherer Art als Goethe, wie er das Erlebnis seines Werther in die marmorglühende Form des Tasso bannt, nur vergleichbar mit Spinoza, wie er das, was seine Ethik in Ursprung und Springkraft ist, in die geometrische Form preßt. Die Vollkommenheit und Unnachahmlichkeit dieser leuchtenden klingenden Gebilde ist zurückzuführen einmal auf die englische Sprache und dann auf Shakespeare. Es verhält sich mit diesen Sonetten entsprechend wie mit Dantes Göttlicher Komödie: da die englische Sprache mit weniger Silben dasselbe sagen kann wie die deutsche, da überdies ihr Reichtum an Reimen, vor allem einsilbigen, männlichen Reimen viel größer ist als im Deutschen, wäre eine vollkommene Nachbildung im selben Versmaß nur dann erreichbar, wenn Shakespeare die Möglichkeiten seiner Sprache nicht vollkommen ausgenutzt hätte. Das hat er aber ganz wunderbar getan: mit einer zauberischen, oft wie fliegenden, spielerischen Leichtigkeit, oder mit einem sicher, fest, selbstverständlich fortschreitenden Ton, wo die Schlagkraft und der Verbindungsring der Reime wie eine logische, sachliche Notwendigkeit eintritt, hat er diese Gedichte gebaut. Es ergibt sich daraus, daß bei den allermeisten dieser Gestaltungen der deutsche Dichter, wenn er sie übersetzt, irgend etwas fallen lassen oder schwer, dunkel, gedrängt sein muß, wo Shakespeare sich mit Leichtigkeit und Klarheit und Freiheit bewegt. Bei der Verssprache der Dramen, in denen Shakespeare die Möglichkeiten seiner Sprache so bis zum letzten ausmünzt, ist eine Aushilfe möglich, deren sich die besten Übersetzer in rühmlichem, rührendem, aber der Sache schädlichem Eigensinn noch zu wenig bedient haben: für den Bau einer Szene ist es in Wahrheit nebensächlich, ob sie 200 oder 210 Blankverse hat, und ebenso ändert es am Gehalt und der Komposition einer Replik oft nichts irgend Wesentliches, wenn sie statt 5 Versen 5½ hat. Bei diesen Gedichten aber steht die Zahl der Verse, das Metrum und damit die Zahl der Silben fest; auch ist es keineswegs gleichgültig, wenn an die Stelle eines männlichen ein weiblicher Reim tritt und damit Charakter, Stimmung und Zeitdauer des Ausdrucks geändert wird. Der Übersetzer wird es bald da, bald dort, im Inhaltlichen, im Formalen -- was beides doch wie in der Musik hier gar nicht zu trennen ist -- anders und schlechter machen müssen als Shakespeare; und seine Kunst wird sich darin zeigen, zu welcher der verschiedenen Möglichkeiten er sich jedesmal entschließt, wie er jeweils aus der Not eine Tugend macht. Die meisten Deutschen aber werden trotzdem auf Übertragungen angewiesen sein; auch wer sonst sehr gut englisch kann, braucht sie. Ein großer Teil der Ausdrücke und Wendungen gehören in dem Sinn oder den Nuancen, in denen die Sonette sie gebrauchen, der heute lebendigen englischen Sprache nicht mehr an, so daß die Verschmelzung zwischen Gedicht und Empfangendem, die wir mit den gleichermaßen elenden Worten Genuß oder Verständnis der Dichtung bezeichnen, nicht unmittelbar möglich ist, sondern erst einer ernsten Vorarbeit bedarf, welche nicht immer gelingt. Deutsche Übersetzungen gibt es in großer Zahl; ich kenne die von Regis, Wilhelm Jordan, Bodenstedt, Gildemeister, Eduard Sänger, Stefan George und Ludwig Fulda. Wilhelm Jordan beherrschte die Sprache mit ungewöhnlicher Leichtigkeit und war darum zum Übersetzen berufen; wo es auf Respekt vor dem Original nicht gar zu sehr ankam, wie zum Beispiel bei den lyrisch-epischen Gedichten Shakespeares, hat er die englischen Strophen durch treffliche deutsche ersetzt, wenn er auch fast durchweg an die Stelle der pathetisch starken oder lyrisch weichen Bildersprache und metaphorischen Ausschweifung, die im Begriff und an der Grenze ist, in den Witz umzuschlagen, den schon fertigen und platt geschlagenen Witz gesetzt hat. Für die Sonette aber hat es ihm an Ehrerbietung gefehlt und an der Fähigkeit, sich in einen Mann, der zugleich leidenschaftliche Natur und gehaltene Fassung war, zu versetzen. Er ist zu leichtsinnig und keck ans Werk gegangen, was schon aus seiner kuriosen Entschuldigung, er habe doch schließlich durchschnittlich nur vier Sonette auf den Tag zustande gebracht, und aus seinem Rezept hervorgeht, wie diese Sonette deutsch ebenso gut oder gar besser zu verfertigen seien wie die Originale: Shakespeare habe für die zehn oder elf Silben seines Verses bei der Knappheit der englischen Sprache nicht genug zu sagen gehabt, und so müsse man nur die Watte aus den Gebilden herausnehmen und habe dann auch deutsch Sprachstoff genug für die Nachbildung! So ist er auch hier zu witzig, zu unlyrisch geworden; und schließlich ist nur eine oft sehr geschickte Mimikry von Poesie entstanden, hinter der sich Abgeschmacktheit und Fadheit verbirgt. Shakespeares Hoheit, Haltung, Tragik und süße Lieblichkeit ist nicht mehr da. Bodenstedt und Gildemeister haben ebenfalls ansprechende deutsche Gedichte gemacht; aber an die Stelle des Wesentlichen, des Ernstes, des formalen Schauers Shakespeares, des heroischen und graziösen Tons des Renaissancedichters haben sie modern oberflächliche Gesprächigkeit oder Empfindsamkeit gesetzt. Fulda gar verbindet eine ganz ungewöhnliche Gelenkigkeit der Sprache mit einer betrüblich gewöhnlichen Unvornehmheit des Tons und der Gesinnung. Er spricht Berlin ~W~; auch an Schlegel und Tieck wird man manchmal erinnert; nur leider nicht an die edeln Übertragungswerke, die von ihnen herrühren, sondern an die ordinären Quartiere, die schändlicherweise in Berlin ~N~ nach ihnen benannt sind. Gottlob Regis hat seine Übersetzung des Sonettenwerks 1836 in seinem Shakespeare-Almanach veröffentlicht. Er hat Sinn für den echten Ton Shakespeares und für seine feste, tragisch-heldenhafte Haltung und steht in dieser wie jeder Hinsicht weit über den Nachfolgern, die ich bisher behandelt habe. Es gelingt ihm, einem der größten Übersetzungsmeister, die wir Deutsche haben, im Inhalt sehr getreu zu sein, und oft ist er wundervoll sprachschöpferisch. Nur kann leider die genialste Kraft, in bewußter Suche schöpferisch die Sprache zu meistern, noch keinen Dichter machen; und so vollendet er Rabelais’ und Swifts Prosa nachbildete, so fehlt ihm doch für diese Sonette das Lyrische, der Rhythmus, die Musik. Die Härte des Mannes, der sie weicher Zerflossenheit abgerungen hat, ist etwas ganz anderes, als die Sprödigkeit des Gelehrten, der sich angelegentlich bemüht, seine Sprache weicher und geschmeidiger zu machen. Aber es sollte ein Dichter über diese sehr respektable Übersetzung kommen und sie neu bearbeitet herausgeben. Wir können der Übersetzungen dieser Geschmeide nicht genug haben. Dem Willen und auch der Dichterkraft nach bei weitem am höchsten steht Stefan George; er hat den Geist und die Musik, hat das Formprinzip dieser Kunstwerke nicht nur erfaßt, sondern in sich; überdies ringt er ergreifend und fast tragisch um Treue, selbst wo es sich um das in diesem Fall Schwerste, um das Vorwiegen des männlichen Reims handelt; aber nur selten ist ihm ein ganzes Sonett geglückt; um der treuen Nachbildung der Form willen vergewaltigt er die Möglichkeiten der deutschen Sprache oft unerträglich; so wird aus der Not die spezifisch Georgesche Tugend, mit der der adlig-volksmäßige Shakespeare nichts gemein hat: das Hieratische, Esoterische, das an die Stelle des Volks und der natürlichen Vornehmheit, die unsrer Zeit alle beide fehlen, den Klüngel setzt; und zum Verständnis und Genuß seiner Übersetzung -- ich übertreibe nicht -- braucht man immer wieder das Original. Nach der Zahl der gelungenen oder wenigstens erträglichen Sonette ist Sänger der beste: aber wie viele Spitzen bricht er ab; wie viel ebnet er; wie viel Erklärungen, Auffassungen, Deutungen bringt er in den Text hinein; aus Unbestimmtheiten macht er Bestimmtheiten und aus Bestimmtheiten Unbestimmtheiten; er trivialisiert das Gehobene und, was schlimmer ist, er bringt eine gewisse bürgerliche Feierlichkeit und Selbstbewunderung in Äußerungen hinein, die der Dichter wie eine unverrückbare Wirklichkeit sich allerschlichtest und natürlich hat aussprechen lassen. In den Zitaten, die ich im folgenden mitzuteilen habe, habe ich alle Übersetzungen, die mir etwas boten, benutzt, kombiniert und nach Bedarf und eigenem Vermögen verändert und zur Einheit gebracht. Ich glaube, daß dadurch für diese einzelnen Stücke und Bruchstücke etwas Rechtes herausgekommen ist, und ersuche berufene Leser um Prüfung; dies um einer wichtigen Sache willen, denn es ist in all solchen Fällen, wo kombinierte Kraft und gleichzeitige oder zeitlich getrennte Gesellschaftsarbeit etwas Rechtes zustande bringen, ein scharfer und unnachgiebiger Kampf gegen die verruchte Monopolform, die das geistige Eigentum in unsrer Zeit angenommen hat, zu führen. Zu wünschen wäre, unter Beiseitesetzung aller Vornehmtuerei, für deutsche Leser, die des Englischen mächtig sind, eine Ausgabe des Originals mit deutscher Prosa-Übersetzung und sachlichen und sprachlichen Erklärungen. Denn man kann sich dieser Sonette nur in derselben Art bemächtigen, wie der Göttlichen Komödie und des Don Quijote, und für die, die keine Erklärungen mehr brauchen, gibt es Ausgaben würdiger Ausstattung, in denen niemand dem Dichter dreinredet, genug. Was drücken nun diese Sonette insgesamt aus, wenn ich den Versuch mache, ihren Gehalt, wie sie ihn von Inhalt, Stimmung und Form bekommen, fast wie in einem einzigen Satz auszudrücken? Und was bedeuten sie im Gesamtwerk des Dichters? Von diesem letzten zuerst zu reden und mit dem Äußerlichsten zu beginnen: diese Sonette beziehen sich nur fortlaufend auf einander, auf nichts anderes; der Dichter, der da von sich spricht, ist nur der Dichter dieser Sonette, man dürfte sagen: ihr gedichteter Dichter. Wären sie uns erhalten, aber nicht unter Shakespeares Namen, so wäre ihr Verfasser für uns, so wie der Dichter des herrlichen Dramas Eduard III., der doch wohl nicht Shakespeare ist und von dem wir dann gar nichts wissen, ein unsterblicher Dichter der Weltliteratur; in einem Teil der Sonette würden wir wohl an Spiele wie Die beiden Veroneser erinnert; in einem andern käme uns eine Gesinnung zum Ausdruck, die uns überaus stark an die Stimmung von Troilus und Cressida, Hamlet, Timon und Verwandtem erinnerte, aber wenn ich diesen Dichter, wie ich für möglich halte und hoffe, mit Shakespeare identifizierte, ist kein Zweifel, daß ich hinzufügen würde: bewiesen ist es nicht. Er erwähnt seine Dramen nie; auch in keiner allgemeinen und unbestimmten Wendung weist er irgend auf sie hin; Anspielungen sehr dunkler Art sind wir geneigt, auf seinen Schauspielerberuf zu beziehen; ob wir darin recht haben, steht dahin; sicher ist, daß wir keine Möglichkeit dazu hätten, wenn wir ihn nicht als Verfasser kennten. Der Ton dieser Sonette ist: es äußert sich eine überschwängliche, innige, hingenommene, knieend verehrende Empfindung ganz unrhetorisch, sachlich, so wie das Wirkliche sich äußert. Es wird nicht begeistert über die Sache geredet; sondern die Sache selbst spricht sich aus, und diese Sache ist Innerlichkeit, ist Seelenabgrund und Geisteshöhe. Es gibt für den Dichter dieser Sonette nur die Welt, nur die Erde, nur Menschliches. Mythologie tritt selbst als Schmuck der Rede nur ganz selten hervor; viel seltener als in fast jedem der Bühnenwerke; und von Befangenheit in Vorstellungen der Religion, des Dämonenglaubens oder irgendeines Aberglaubens ist nichts zu finden. Keinerlei Interesse an den Dingen der Macht, an Politik oder nationalen Gegensätzen oder Kriegen oder Zeitfragen irgendeiner Art tritt in dieser direkten Aussprache des großen Dramatikers zutage. Einige Male im Gegenteil die Abneigung gegen Politik und Herrentum: Stünd’ es mir an, den Baldachin zu tragen, Dem äußern Schein die äußre Ehr’ zu geben? An Türmen bau’n, die in die Zukunft ragen Und Umsturz und Verfall nicht überleben? ... Nein, laß mich nur in deinem Herzen fronen, Und nimm du meine Gabe, arm, doch frei, Sie kennt kein Arg, du brauchst sie nicht zu lohnen, Nur daß die Liebe unser Austausch sei. Der Dichter tritt auf als Hingegebener, als Gefangener, als Anbeter der Schönheit. Nicht der Schönheit in abstrakter Gestalt oder allegorischer Einkleidung; er -- der Dichter dieser Gesamtdichtung, wie sie uns komponiert vorliegt -- ist Einem Menschen, einem Manne, der jünger ist als er, rettungslos verfallen: dieser Jüngling repräsentiert ihm nach Gestalt, Ausdruck, Grazie, Würde den schönen, den adligen, den seelenvollen, den herrlichen Menschen. Er repräsentiert ihm, was er anbetet; das heißt, und er drückt es nicht anders aus: diesen Menschen, diesen Mann liebt er. Wir dürfen nicht weniger, wir dürfen nicht mehr sagen. Hinzuzufügen haben wir, daß der Sprachgebrauch, das heißt, das Denken und Empfinden der Zeit, für innige Freundschaft, die die Seelen erfüllt und nicht von einander läßt, die Worte lieben und Liebender nicht vermeiden kann und will. Wir haben dafür Beispiele bei andern so gut wie bei Shakespeare. Wir wissen, wie Hermione sich von ihrem Mann das Recht nicht nehmen läßt und ihm frei und unschuldig heraussagt, daß sie seinen Jugendfreund, der auch ihr Freund geworden ist, liebe; der alte Menenius gebraucht von Coriolan den Ausdruck ~my lover~, mein Liebster, um damit seine eigne Freundschaft zu ihm zu bezeichnen; wenn Porzia von Antonio sagt, er sei der ~bosom lover~ ihres Herrn und Gemahls, so findet sie das so recht und in Ordnung, wie wenn wir vom Busenfreund sprechen. Und weiter haben wir zu sagen, daß in der Handlung, in der Geschichte dieser Liebe ein Fortschritt ist: immer mehr tritt die Anbetung der äußern Form, der Schönheit der Gestalt in unlösliche Verbindung mit der Liebe zum Innern, zur Seele, zum Gut- und Adligsein; immer mehr wird dann aus dieser Verbindung der Gegensatz: Leib und Seele; und der Leib ist Tod und Vergehen; die Seele ist Unvergänglichkeit; Leib und Tod finden den Ausdruck ihrer Lebensgier und ihres Vernichtungsdranges im Geschlecht; die Seele macht sich frei in der Freundschaftsliebe zur Verehrung des Ewigen. Ein neues Moment ist also hinzugetreten, ein dramatisches: der Kampf, den der Dichter in sich, gegen sich mit der Geschlechtsliebe einer gewissen Art, mit der Wollust zu führen hat. Diesen Kampf zwischen Venus und Eros hatte Shakespeare schon einmal darzustellen unternommen: in seinem Gedicht Venus und Adonis, das er 1593 herausgab und das ihn sofort zum berühmten Dichter machte. Es ist fast unbestrittene Gewohnheit geworden, mit der größten Verachtung über dieses Gedicht und die bald folgende Lucretia, die zur nämlichen Gattung gehört, rasch wegzugehn, mit einer Verachtung, die dem Stil wie der sogenannten Unsittlichkeit gilt. Der Stil ist, daß nicht Menschen und Situationen aus der Wirklichkeit geschildert werden, sondern allgemeine Kategorien von Trieb- oder Geisteskomplexen, leidenschafterfüllte Allegorien, und Situationen nicht real-individueller, sondern gattungsmäßig allgemeiner Art. So wird die Klage der Lucretia über ihre Schändung benutzt zur Darstellung der Nacht in sechs, der Gelegenheit in sieben, der Zeit in elf Strophen, immer aber aus der Glut und Wut der menschlichen Situation heraus, immer in Metaphern, die sich steigern, überhitzen, überspitzen und dem Witz so bewußt und gewollt nah getrieben werden wie bei Ariost. Ich finde, daß wir uns in diesen Stil hineinfinden können, daß auch in diesem Barockstil sehr viel Starkes und Liebliches zu finden ist, und daß Shakespeare die Form ganz vollendet gemeistert hat. Es fällt mir nicht im entferntesten ein zu leugnen, daß gräßliche Verstiegenheiten, Abgeschmacktheiten, Gesuchtheiten da sind; darüber sind aber wundervolle Schönheiten und Bilder von prachtvoller Kraft und Sicherheit wie zarter Feinheit nicht zu übersehen. Ganz und gar leugne ich aber die Unsittlichkeit. Mit der Kühnheit und Freiheit, die alle Kunst der Zeit zum Ausdruck des Äußersten trieb und die in Shakespeare zu einem Gipfel emporstieg, werden die äußere Gestalt und die innere Verfassung der als Menschen personifizierten ungeheuren Trieb- und Seelengewalten und die leidenschaftlichen Situationen, in die sie mit einander geraten, geschildert; wenn man aber diesen jugendlichen Werken Shakespeares etwas auf diesem Gebiet vorwerfen könnte, dann wäre es die zu direkt sich aussprechende Moral. Die Art aber, wie -- in beiden Gedichten -- die Wollust sich ausspricht und die Seele ihre Klage über sie anstimmt, ist der Sonettendichtung schon nah verwandt. Gen Himmel ist die Liebe längst entwichen, Seit stinkend Lust in ihrem Namen steckt; Die kommt zur Schönheit, so vermummt, geschlichen, Und was sie nicht verzehrt, das ist befleckt. Oder: Die Lieb’ ist wahr und mäßig; Wollust praßt Und wird erstickt von ihrer Lügen Last. Und wie großer Art ist die Schlußrede der Venus, ihre Klage um Adonis, der der Welt verloren ging, und ihr Fluch auf die Liebe: Weil Eros nicht mehr da ist, soll sich nun, muß sich nun Leid und Eifersucht, Qual und Gift und Treulosigkeit mit der Liebe verbinden; Krieg und Feindschaft zwischen Nächstverwandten wird sie hervorrufen, in allem Bösen sich einnisten, alles Gute untergraben. Oder wie groß, wie stark, wie eindringlich ist die Darstellung von Tarquins Ernüchterung, nachdem die Wollust ihn zur Notzucht getrieben hat; wie findet das menschlich Wahre im Allegorischen leidenschaftlich innigen Ausdruck, wenn das Gierverlangen nun wie ein bankrotter Bettler matt und elend geworden ist, und seine Seele nun klagend zu ihm spricht: Lebend’ger Tod und ew’ges Leid Sind nun mein Los; empörte Knechte haben Mein Heiligtum zertrümmert und entweiht; Die Sünden meiner Sterblichkeit begraben Im Schutt der Schande die Unsterblichkeit; Das alles hab’ ich klar vorher gewußt Und wurde doch das Opfer dieser Lust! Der Shakespeare dieser Gedichte darf sich getrost in der Gesellschaft sehen lassen, in die er mit ihnen gehört und in der er Genosse der Schar ist, die von Ariost, Edmund Spenser, Victor Hugo und Swinburne angeführt wird, nicht ihr Erster, aber auch keineswegs ihr Letzter. Neben dem großen Spenser steht der beginnende Shakespeare nicht anders da, als etwa Goethe mit seinen ausgezeichneten, wiewohl noch nicht goethischen Mitschuldigen neben Molière. Wie er aber mit seinen dramatischen Werken trotz den Großen, die neben ihm standen und nach ihm kamen, der Einzige ist, als den ihn Goethe gepriesen hat, so mit seinem Sonettenwerk, in dem er das Thema der allegorischen Gedichte in einer so völlig andern, so einzig vollendeten, so in schlichter Menschlichkeit ungeheuren Gestalt aufnahm. Hier verbinden sich nun die beiden Teile innerer Handlung, die der Dichter schon in jenen epischen Gedichten einander gegenübergestellt hatte, die Wollust und die geistige Liebe, zu einer seltsam geschlossenen einheitlichen äußern Handlung: er, der Dichter, der den Freund liebt, hat, so heftig er widerstrebt, so sehr er ringt, loszukommen von dieser unwürdigen, verzehrenden Begehrlichkeit, eine Geliebte, offenbar, deutlich genug ist’s gesagt, eine verheiratete Frau; und nun schließt sich der Ring: Geschlechtsliebe entsteht auch zwischen dem Freund, dem andern William, und dieser dunklen Schönheit, die dem Dichter gehört. Da ist nun vor allen Dingen zu sagen, daß ähnliche Motive in der Literatur der Zeit auch sonst behandelt wurden, besonders in den berühmten Moderomanen John Lylys. Ich gebe hier in den kurz zusammengedrängten Worten Conrad Henses den Inhalt des 1579 erschienenen Romans „Euphues, die Anatomie des Witzes“: „Euphues ist ein junger Athener, der nach Neapel kommt, hier einen Freund, Philautus, gewinnt, durch seine witzige Beredsamkeit die Geliebte desselben, Lucilla, zur Untreue verleitet, selbst die Untreue der Lucilla erfährt, mit dem getäuschten Freunde sich wieder versöhnt, und zuletzt sich wieder nach Athen zurückzieht.“ Außerdem ist zu beachten, daß Shakespeare selbst das Motiv in seiner Komödie Die beiden Veroneser behandelt hat. Die Entstehungszeit dieses Stückes kennen wir nicht; aber es wirkt sehr jugendlich, und ich zweifle nicht, daß es vor dem Sommernachtstraum und vor Venus und Adonis, in die Gegend der Verlornen Liebesmüh, vielleicht noch etwas früher, etwa um 1590 also zu setzen ist. Daß Shakespeare die Einkleidung der Handlung irgendwo gefunden hat, daß er also nicht lediglich ein eigenes Erlebnis maskiert hat, ist gar nicht zu bezweifeln. Es sind Anklänge an einen spanischen Roman da, und einiges spricht sogar dafür, daß ein älteres Drama ihm Vorlage war, das wir nicht haben. Der große Reiz, den dieses Spiel hat, ist sein schwebendes Wesen. Die Personen sind nicht so recht feste Gestalten, weil der Dichter es noch nicht vermag, einmalige Menschen von innen her kraftvoll zu beleben, und weil er über dieses Ziel hinüberspringt und sich gar nicht bei ihm aufhalten will: es soll alles in eine Sphäre der Unwirklichkeit, des zierlichen Scheins hinüber. Und doch ist es wieder so, als wäre bei diesem Sprung aus dem Nochnichtmenschlichen ins Nichtmehrmenschliche gar manches Menschliche, psychologisch Feine und Tiefe an den Gestalten hängen geblieben. Auch in dem andern als dem psychologischen Sinn ist das Menschliche dieser Dichtung, wie es, wenn auch nicht so stark wie in der Verlornen Liebesmüh, überall, nicht nur in der prächtigen Gestalt des Dieners Lanz -- der im ganzen und einzelnen Lessings Vorbild für den Just gewesen sein könnte -- hervortritt, sehr erquickend. Der verräterische Freund, Proteus mit Namen, ist treulos nicht nur gegen seinen Herzensfreund, dem er seine Geliebte nehmen will, sondern auch gegen die eigne Geliebte, die er zurückläßt und die, als Page verkleidet, in die Welt reist, um ihn zu suchen. So sind zwei liebende Frauen in dem Stück, die alle beide nichts Wetterwendisches oder von der Wollust Verderbtes an sich haben, sondern im Gegenteil von einem sehr liebevoll, schwärmerisch das Weibliche verehrenden Dichter gezeichnet sind. Der Schluß ist, auch wenn man das Stück noch so sehr fast wie ein Marionettenspiel auffassen möchte, ganz mißraten: kindisch unvermittelt folgt auf Valentins tiefe Klage: O Proteus, Es schmerzt mich tief, ich darf dir nimmer trauen Und bin der Welt entfremdet deinethalb. Die Wund’ ist tief, die uns im Innern trifft. O Welt, Wo sich als Freund der schlimmste Feind verstellt! unvermittelt folgt darauf ein Sätzchen tiefster Reue des Proteus, der kurz vorher frevlerisch gerufen hat: Wen, der liebt, Kümmert noch Freundschaft? nun aber, eine Minute darauf seine Liebe zu Silvia vergessen hat; die Freunde versöhnen sich; Proteus liebt wieder Julia, und so ist auch für die zwei Liebespaare alles in Ordnung. Erst an diesem Schluß aber wird dieser Proteus ein grotesker Proteus; vorher sollte gerade er psychologisch vertieft betrachtet werden. Was also dieses Spiel vom Freund, der dem Freund die Geliebte nehmen will, angeht, so sehe ich ihm durchaus nicht an, daß damals, als es entstand, der Dichter ähnliches erlebt habe; das Gegenteil scheint mir eher aus der leichtherzigen Unbefangenheit, mit der das Motiv behandelt ist, hervorzugehn. Dagegen könnte es leicht sein, daß Shakespeare um diese Zeit herum das weibliche Wesen, das in dem Sonettenwerk so unheilvoll hervortritt, schon gekannt und von ihr ein Liebesglück empfangen hat, das vielleicht stürmisch und durch ihre Koketterie beeinträchtigt, aber noch nicht vom Freunde gestört oder von Shakespeare als tragisch empfunden war. Die Schilderung Rosalinens in der Verlornen Liebesmüh, dieser geistvollen, schlagfertigen, unberechenbaren Schönen mit den schwarzen Augen und der dunkeln Haut, nicht nur diese ihre Leibesbeschaffenheit, sondern die etwas empfindliche und leidenschaftlich verteidigende Art, wie sie geschildert wird, klingt mir ganz so, als ob ein Urbild dieser reizenden Gestalt die nämliche Frau gewesen wäre, aus der, als der Dichter ein unsäglich höherer Mensch und unsäglich tiefer in ihre Seele hinabgestiegen war und als er diese Geschlechtsliebe mit seinem ärgsten Weltschmerz in Verbindung gebracht hatte, Cleopatra die Schlange vom Nil wurde. Ich habe also auf die Frage, um derentwillen ich von Lylys Roman und von den beiden Veronesern sprach, schon Antwort gegeben. Ja, es ist wahr, daß das Motiv der Handlung, das in der Mitte des Sonettenwerks steht, ein beliebtes Thema der damaligen Literatur war und daß Shakespeare selbst es jugendlich, spielerisch, unbefangen behandelt hat; aber nein, es ist unmöglich, daß es sich in der Sonettendichtung auch bloß um Literatur, nicht um tiefstes Erlebnis handle. Es steckt eine Wahrheit in der These, die Oscar Wilde so ernst wie entzückend spielerisch behandelt hat, daß die Dichtung dem Leben mit den Motiven vorhergehe und auf das Leben abfärbe; gar vieles in den Sitten und Moden ist von den Dichtern geschaffen worden; und mehr, als mancher glaubt, hängt das außerordentlichste Erleben selbst solcher Menschen, die nicht in Reih und Glied stehen, mit Sitten und sozialen Moden zusammen. So sehr ich also immer wieder selbst betone, daß das Sonettenwerk eine Dichtung und daß auch der Mann, der darin Ich sagt, eine Dichtergestalt ist, so gewiß ist doch, daß die Empfindungen und Erlebnisse dieser Dichtung echt und gelebt sind. Wo es nur geht, wenn es sich um äußere Tatsachen handelt, weise ich die Beweisführung aus innern Gründen ab und sage, auch wenn mir etwas sehr wahrscheinlich ist: es steht nicht fest. Empfindende Menschen, die das Recht haben, Poesie aufzunehmen, verstehen sich aber unmittelbar und zweifellos auf die Sprache der Lyrik, auf Echtheit oder Unechtheit der Empfindungen, und so sage ich: so gewiß es ist, daß Günthers Leonoren gelebt haben und Goethes Liebesgedichte keine Erfindungen sind, so gewiß hat Shakespeare empfunden, was ihm die dunkle Geliebte, was ihm der Freund angetan hat. Das ändert nichts daran, daß alles, noch viel mehr als im Westöstlichen Divan, Gestalt geworden ist; der Dramatiker hat sich auch in diesem lyrischen Werk nicht verleugnet; und dem Umstand, daß es diesem Menschen, der Unsägliches lebte, von seiner Natur verwehrt war, sich unmittelbar auszusprechen, daß er auch für die Gestaltung seiner Gefühle erst in eine Rolle hinein mußte, schreibe ich es zu, daß wir in diesem Werk mit einer fast fanatischen Ausschließlichkeit nur den Freund und den Liebenden kennen lernen. Will Shakespeare sich über den Staat äußern, so muß er Ulyß oder Hektor oder Coriolan werden; will er Gesellschaftskritik üben, so wird er Falstaff oder Hamlet oder Thersites; hier ist er der Freund, ist er der Liebende, und alles von seinem Wesen, was mit diesen wesenhaften Empfindungen in Verbindung steht, kommt zum Ausdruck; nichts aber, was nur Rolle in der Gesellschaft, nur Maske und Gewand ist, es sei denn, damit es fortgewiesen werde. An der Spitze des Dichtwerks stehen 17 zusammengehörige Sonette, die gewiß in der Tat der frühen Zeit des Freundschaftsbundes angehören. Sie gelten alle in mannigfacher Variation einem Thema, das manche, die von pseudowissenschaftlicher Behandlung der Freundschaftsliebe herkommen, überraschen könnte; das Thema ist: Freund, deine Schönheit darf nicht mit dir untergehn; die Natur tötet alles Einmalige, das ihr gelungen ist, alles Individuelle, Persönliche; sie hat nur einen Weg, es in neuer Gestalt zu erhalten, zu vererben: Ehe und Kind. Verschwender du! dein Vater war ein Mann: Sorg’, daß dein Sohn das Gleiche sagen kann. Nichts schirmt dich vor dem Sensenhieb der Zeit Als Sprößlinge: durch sie bist du gefeit. Es sind aber diesem siebzehnmal wiederholten Zuruf zwei Sonette beigefügt, die etwas andres sagen, etwas, wovon der Dichter auch sonst immer wieder in hohem Selbstbewußtsein spricht: Unsterblich bist du Schöner, Guter, Edler in jedem Falle: Solange Menschen atmen, Augen sehn, Lebt mein Gedicht, in ihm wirst du bestehn. Ganz nüchtern glaube ich, daß das buchstäblich wahr ist: solange Menschen leben und lesen, werden diese Gedichte geliebt werden und mit ihnen ~the love~, der geliebte Freund ihres Dichters. Um so schöner dünkt es mich, daß nichts weiter von ihm lebt; der Unbekannte lebt nur in dieser Dichtung; nichts wissen wir von seiner Nachkommenschaft; vielleicht nicht auf dem Weg der Natur, ganz gewiß durch das Mittel des Geistes ist er unsterblich geworden. Diese Vorstellung, er der Dichter werde den bewunderten Freund zur Unsterblichkeit erheben, tritt auch im weitern Verlauf kräftig hervor. Vielleicht entspringt diese häufige Betonung aber vor allem dem Bedürfnis der Selbstbehauptung und also einer Schüchternheit, die dann in den Stolz umschlägt. Denn zu Beginn des Verhältnisses äußert sich dem adligen Jüngling gegenüber eine Demut, die keineswegs bloß den inneren Grund der Verehrung hat. Die Ungleichheit der gesellschaftlichen Stellung tritt scharf heraus; und im Anfang scheint der Dichter, von seiner Anbetung getrieben, eine selbstquälerische Lust darin zu finden, diese Unterordnung eifrig zu betonen. Für seine Hingebung, seine Rolle in dem Verhältnis, seine demütig bettelnde Liebe wie für den äußern Rangunterschied, den er zu einem freiwillig erwählten macht -- die Schweizer Mundart sagt im Sinne von demütig: niederträchtig, das ist ursprünglich einer, der sich aus innerem Bedürfnis niederbeugt -- ist es bezeichnend, wie er sich den Sklaven des Freundes nennt, dem er geduldig aufwartet; der andre mag tun, was er will, der Dichter wird nicht murren, bis der Souverän Zeit für ihn hat. Er ist sein Vasall und wird ihm -- Gott verhüte es! -- seine lustigen Stunden nicht nachrechnen: Zum Warten bin ich da, der Höllenglut, Und gönn’ dir deine Lust, ob bös ob gut. So scheint es auch zunächst kaum möglich zu sein, daß sie unbefangen einander besuchen und zusammen sind, wie es unter Freunden Brauch ist; der Dichter freut sich auf besondere Gelegenheiten, auf Feste, wo er den Freund sehen und im selben Raum mit ihm zusammen sein kann. Das muß später anders geworden sein, und die Stellung des Dichters zum Freund muß sich auch in äußerer Hinsicht gehoben haben. Aus andern Sonettenkreisen geht hervor, daß sie Zeiten hintereinander sich Tag um Tag trafen und daß ihr Beisammensein nur durch Reisen des einen oder des andern unterbrochen wurde. Vor dieser von äußern Verhältnissen und innerer Ergebenheit befohlenen Demut flüchtet sich das Selbstgefühl des Dichters in Beobachtungen über die Zeit, als die Vernichterin alles Materiellen und Natürlichen, und die Unvergänglichkeit des Geistes. Ringt er nach Bildern und Wendungen, um die Gestalt des Freundes zu formen, so kommt ihm vielleicht ein altes Buch zu Hilfe, wo ein längst verblichener Dichter aus der Zeit der Anfänge der Schrift diese nämliche Mannesgestalt schon dargestellt hat. Jugend und Schönheit gehen dahin, das Wort des Dichters bleibt: Und dennoch hält mein Lied der Zukunft stand Und singt dein Lob trotz ihrer grausen Hand. Daran befestigt sich sein Stolz immer wieder: er kann dem Freund, der ihm so viel durch sein Dasein gibt, dieses eine durch seine Kunst leisten, daß er ihn in die Reihe der Unsterblichen hebt. In späten Sonetten überwiegt dieses Gefühl manchmal so stark, daß er gegenüber dieser seiner Dichtertat die Hinfälligkeit alles Äußern betonen kann: Nicht Marmor, nicht das Gold von Fürstenmalen Wird überleben mein gewaltig Lied, Du wirst in diesen Zeilen heller strahlen Als stumpfer Stein, den Moder überzieht. Der wüste Krieg wirft Säulen wohl zusammen, Der Aufruhr macht des Maurers Kunst zunichte; Doch nicht das Schwert des Mars, nicht Krieges Flammen Vertilgen deine lebende Geschichte. Nach dem Gedicht Der Liebenden Klage, das in der Originalausgabe den Sonetten folgt und ihnen in allen folgen sollte -- es geschieht aber fast nie --, wollen wir uns ein Bild dieses Jünglings machen; es ist nicht unwichtig, von Shakespeare zu erfahren, wie sein geliebter Freund, als er ihm zuerst nahe trat, ausgesehen hat und mit welchen Augen er ihn damals und später betrachtet hat; damit steht uns William Shakespeare nicht nur dem Freund gegenüber, sondern auch in der Bedingtheit seiner Zeit und seiner Natur in klaren Linien da. In braunen Locken hingen dem Freund demnach die Haare bis auf die Schultern. „Wie ungeschorner Samt“ sproßten um sein Kinn die ersten Spuren des Bartes: Er läßt gerade noch dem Zweifel Raum, Ob voller Bartwuchs oder weiße Glätte Die Schönheit dieses Kinns gesteigert hätte. Schön wie seine Gestalt war das Wesen, das in seinen Äußerungen zur Geltung kam: sanft wie von einem Mädchen war seine Art zu sprechen und also frei vom Herzen; aber im Männerstreit konnte dieses weiche, warme Organ so seltsam anwachsen wie der Föhnwind zum lauen Sturm. Saß er zu Pferd, so war es ein schöner, lieblicher Anblick: wenn das Roß sich stolz tummelte und herumschwenkte und in langen Sätzen unter ihm sprang, wußte man erst nicht, ob dieser Stolz und diese Anmut dem Reiter von dem Tier oder dem Tier von seinem Reiter kam. Dann aber fand man schon heraus: Der Quell der Anmut ist sein innres Leben. Wie beherrschte er die Menschen mit seiner Dialektik, wie stand ihm die rasche, sichere Rede zu Gebote; er brachte Weinende zum Lachen, Lacher zum Weinen, „er hatte die Mundart und feinste Unterscheidungskunst, um alle Regungen nach seinem Willen hervorzulocken“. So war er Herrscher über Junge und Alte, Männer und Frauen; alle Herzen flogen ihm zu, wie von einem Zauberer gebannt, und taten ihm seinen Willen. Gar viele schafften sich sein Bildnis an, Das Auge sah’s, das Herz vergaß es nie -- und manches Weib bildete sich ein, er neige sich zu ihr, auch wenn er nie ihre Hand berührte. Obwohl, was nun folgt, zur Handlung des Gedichts gehört, glaube ich doch, glaube es nach dem, was uns spätere Sonette selbst sagen, daß es zu William Unbekannts Bildnis dazu gehört, wie es William Shakespeare wenigstens in Stunden des Schmerzes und Unmuts sah: falsch konnte er sein und all seine organische Sanftheit und Weichheit, seine milde, tugendreiche Rede zum Fang der Herzen, zum Berücken der Frauen benutzen: Er ist ein Inbegriff von feinen Stoffen, Die sich in jede Form beliebig fügen; Bald wild und kühn, bald blaß und wie betroffen, Bald schlau versteckt, bald ungestüm und offen, Versteht er stets, aufs beste zu betrügen. Ihm stehen Schamrot, Ohnmacht, bleicher Schreck Sogleich zu Diensten, je nach seinem Zweck. Und wenn sein Herz der Wollust Glut verzehrt, So spricht er von der Keuschheit hohem Wert. Stimmungen, die dieser bösen genau entsprechen, werden wir aus den Sonetten noch ertönen hören; zu Beginn der Handlung, der Treulosigkeit, des Verrats, den der Freund, der Geliebte an der Liebe beging, kommt noch eine verwandte und doch ganz andere, eine rührend ergebene zu Wort. Der Freund -- der Geliebte -- die Liebe: ~the love~; da haben wir noch eine Schwierigkeit für die Übersetzung und das Verständnis: ~the love~, die Liebe, bedeutet in diesen Gedichten fast nie das Gefühl der Liebe von einem Menschen zu einem andern Menschen hin, sondern den Gegenstand der Liebe: nicht die Liebe zwischen zwei Menschen, sondern den Geliebten und manchmal, selten, auch die Geliebte. In einer gewissen Zahl Gedichte, auf die ich schon deutete und von der jetzt zu sprechen ist, haben wir nun gar das Wort im Wortspiel einer zugleich dreifachen Bedeutung: Liebe -- Geliebter -- Geliebte. Es kann nie wahrhaft gelingen, aus dem folgenden 40. Sonett, das für dieses Thema entscheidend wichtig ist, ein anderes als ein plumpes und halb unverständliches deutsches Gedicht zu machen; es ist aber gerade sein Wesen, daß es in seiner ungemeinen Gewagtheit so in der Form glatt und ohne Anstoß dahinfließt wie die allerüblichste Sache: ~Take all my loves, my love,~ Nimm all meine Liebsten ~yea, take them all;~ (Lieben), Liebster, ja, nimm sie alle, ~What hast thou then more~ Was hast du da mehr, als ~than thou hadst before?~ du vorher hattest? ~No love, my love, that thou~ Keine Liebe, mein Lieb, die ~mayst true love call;~ du wahre Liebe nennen kannst; ~All mine was thine before~ Alles Meine war dein, ehe ~thou hadst this more.~ du das noch dazu hattest. ~Then, if for my love thou~ Wenn du dann statt meiner ~my love receivest,~ Liebe (zu dir) meine Liebe (die Liebste) nimmst, ~I cannot blame thee, for my~ Kann ich dich nicht tadeln, ~love thou usest;~ denn du gebrauchst meine Liebe (meine Liebste); ~But yet be blam’d, if thou~ Und doch sei getadelt, insofern ~thyself deceivest~ du dich selbst betrügst ~By wilful taste of what~ Und launisch kostest, was dir ~thyself refusest.~ selbst widersteht. ~I do forgive thy robbery,~ Ich verzeihe dir deinen Raub, ~gentle thief,~ adliger Dieb, ~Although thou steal thee~ Obschon du dir meine ganze ~all my poverty;~ Armut stiehlst; ~And yet, love knows, it is~ Und doch, weiß die Liebe! ~a greater grief~ ist’s ein größerer Gram, ~To bear love’s wrong than~ Das Unrecht der Liebe (des ~hate’s known injury.~ Liebsten) zu tragen als des Hasses vertraute Kränkung. ~Lascivious grace, in whom~ Lüsterner feiner Gesell, dem ~all ill well shows,~ alles Schlechte gut steht, ~Kill me with spites; yet we~ Töte mich mit Unbill; aber ~must not be foes.~ wir dürfen nicht Feinde werden. Wie ist das nicht bloß im Sprachlichen, auch im Ton fast unnachahmlich; was für eine Einheit von Wehmut und Schelmerei! Da wird das Kleine klein und leicht und doch ganz zugleich und im gleichen das Schmerzliche so schmerzlich genommen. Da ist wirklich in ~the love~ alles Hohe und Niedrige beisammen; und so ist auch dieses Gedicht in allem Bedenklichen adlig; es wird mehr der Makel im Freund beklagt als der Verlust der Geliebten, nur daß die Sprache es hergibt, das, was im Geschehnis geeint ist, auch mit demselben Sprachausdruck zu bezeichnen: der Makel des Freunds ist die Verführung der Geliebten. Über das, was den Menschen gemeiniglich das Wirkliche und Wichtige ist, ist dieser vom Freund und der Geliebten betrogene Dichter erhaben; so sehr wir von hier aus neu verstehen, welche Rolle Umdunkelung und Vernichtungswut des Hahnreis in Shakespeares Rachedramen spielen, so sehr dürfen wir ganz selig und leicht und frei hier erleben, daß es für den Dichter dieser Gedichte kein Hahnreitum gibt. Die Phantasieliebe wird zum wahren Leben; des Lebens Notdurft wird zum Spiel. Das empfinden wir noch mehr, wenn wir die innere Handlung dieses Vorgangs in den beiden unmittelbar anschließenden Sonetten 41 und 42 noch weiter verfolgen. Die art’gen Sünden, die der Leichtsinn tut, Wenn manchmal ich von deinem Herzen fern, Stehn deiner Schönheit, deinen Jahren gut, Denn wo du bist, folgt die Versuchung gern. Adlig bist du, und deshalb zu gewinnen, Schön bist du, deshalb geht um dich der Krieg, Und welches Weibes Sohn, wenn Weiber minnen, Verließe mürrisch sie vor ihrem Sieg? Ach! solltest doch wohl mein Gehege fliehn Und deiner Schönheit fluchen und der Lust, Die dich im Jugendtaumel dahin ziehn, Wo du zwiefach die Treue brechen mußt: Ihre, die deine Schönheit lockt zu dir, Deine, weil deine Schönheit falsch an mir. Und nun im nächsten das Höchste in Einem an Scherz, an Schmerz, an herzlicher Wonne im Weh: Daß du sie hast, das schmerzt mich nicht so stark, Und doch ist’s wahr, ich liebte sie gar herzlich. Daß sie dich hat, das frißt mir recht ins Mark, Der Liebeskummer trifft mich wahrhaft schmerzlich. Doch weiß ich Mildrung euch, ihr Liebessünder: Du liebst sie, weil du weißt: ich bin ihr gut, Und meinethalb betrügt sie mich nicht minder Und duldet, was mein Freund ihr meinthalb tut. Verlier’ ich dich, so hat mein Lieb Gewinn, Geht sie verloren, macht mein Freund den Fund; Zwei finden sich, zwei fahren mir dahin, Und beide richten meinthalb mich zu Grund. Ach, freu dich! wir sind Eins, mein Freund und ich; O holder Wahn! so liebt sie doch nur mich! Denken wir von hier aus an solche Stücke wie Die beiden Veroneser, Wie es euch gefällt, Was ihr wollt, wo immer auf Shakespeares Bühne der junge Schauspieler, der die jugendliche Liebhaberin zu spielen hat, sich noch einmal als Mann zurückverkleidet und so, während ein Weib sich in ihn verliebt, der Freund eines Mannes wird, der sich in erotischer Sympathie zu ihm hingezogen fühlt: aus dem, was Shakespeares Lyrik uns über seine Erlebnisse und die Art, wie er sie nahm, enthüllt, verstehen wir die leichte, neckische und doch innige Grazie jener Szenen besser. Bei aller Innigkeit und Gewalt der Schmerzen hat er so viel überlegene Heiterkeit, daß er mit einer gewissen mathematischen Kombinationsfreude, wie sie sich gerade der Form des Sonetts so wundervoll anschmiegt, die innern und äußern Möglichkeiten des Dreiecks abwandelt. Mit der sehr ernsten Aufgabe, vor die die Art, wie Shakespeare dieses Erlebnis hier in die freie Luft des Spiels und damit der Reinheit gehoben hat, uns stellt, sind wir noch lange nicht fertig; und so ist zu sagen, daß es nichts Moderneres, nichts, was uns mehr angeht, gibt als diese Sonettenfolge. Die Liebe abwechselnd, wie es die Natur verlangt, gewaltig ernst, und dann wieder, wie es der Geist rät, ganz leicht und heiter, immer aber frei nehmen scheint mir in der Tat eine Aufgabe, die Shakespeare besser verstanden hat als wir. Auch in diesem zarten Punkt stehen unsre frühen Romantiker, Novalis, Friedrich Schlegel, Schleiermacher in naher Beziehung zu ihm. Shakespeare aber hatte es leichter als sie und wir, weil er in andern Sitten oder Moden stand als wir. Lebendig genug im England seiner Zeit war noch die höfische Sitte der Ritterliebe, wie wir sie aus den Artusromanen und ähnlichen Dichtungen, aus der Minnepoesie, aus dem Leben Ulrichs von Liechtenstein kennen: in all den Büchern dieser Art, wie sie in dem Jahrhundert nach Einführung des Buchdrucks in den Kreisen des Adels, des Bürgertums und des Volks begehrt waren und verschlungen wurden, gehörte es sich und war Mode, daß der -- übrigens verheiratete -- Ritter eine Dame hatte, der er seine Phantasieliebe widmete. Es gehörte sich, daß in der Liebesdichtung von allem eher die Rede war als von der Hausfrau, der Mutter der Kinder. Es gehörte sich, mit einem gesagt, daß der seelenvolle Sänger und ritterliche Kämpfer, unabhängig von seiner Häuslichkeit, seine Sehnsucht, seine Romantik hatte, die ihn, wie die gotischen Münstertürme aus muffigen Bürgergäßchen in die freie, frische, blaue Luft nach oben wuchsen, aus der Enge in die weite Welt führte. Zu dieser Verzauberung und Verklärung des Lebens aus dem Mittelalter kamen nun noch die hohe, heroische Seelenstimmung des erotischen Freundschaftsbundes in der Renaissance und die Einflüsse aus der Antike; Plato war der Abgott der Kreise, aus denen Giordano Bruno herkam, und die Schriften der griechischen und der neuen italienischen Platoniker, in denen die Liebe des Sokrates ins Erhabene gerückt und als heitere, die Menschen frei und unverzerrt an einander bindende Religiosität erfaßt war, wurden durch den Druck verbreitet. Die „Minne“ fing in diesem Zeitalter des Don Quijote und der Cressida gerade an, auf die Stufe des holden, flatterhaften, irdischen Liebchens zu sinken; die Geschlechtsliebe wurde analysiert und also angetastet und von der verklärenden und steigernden Phantasie abgeschnitten. Shakespeare, dessen Volumen daher rührt, daß er an der Wende der Zeiten in beiden Lagern stand, war auch auf diesem Gebiet nach beiden Seiten zum Höchsten imstande: keiner hat wie er die Liebe zwischen Mann und Weib von der Phantasie ins Himmlische heben lassen, keiner hat wie er solche Liebe mit inniger Qual und zäher Energie untersucht und zergliedert. Die Art Geschlechtlichkeit und Wollust, die den Mann nicht zur Freiheit steigert, sondern ins Gemeine bannt und unter seine Würde hinabzerrt, hat er mit dem großen Fluch der Menschheit belegt, und gegen sie hat er das Ideal der männlichen Gesellschaft, der Männerfreundschaft erhoben und hat diesem Gegensatz Troilus und Cressida gewidmet. Das Heroische und Erhabene, nicht mehr lechzen und verlangen, ins Tier hineinschlüpfen, der Natur sich unterwerfen, sondern die Kühnheit, die freie Bahn des sich selbst bestimmenden Geistes kommt in dieser Liebesfreundschaft zum Ausdruck. Die Augen haben einen andern Blick; Sehnsucht, Habenwollen, Entbehrung, Leid und Qual und Wonne: all das ist da, aber alles nicht der Venus, dem finstern Leibestrieb unterworfen, sondern frei als ernstes, strenges Geschick erwählt. Noch einmal sei in dieser Vortragsfolge Rembrandt genannt. Den Gegensatz der Welt des Rubens und des Rembrandt, der Sinnenlust und der magischen Geistesfreude erkenne ich in Geschlechtstrieb und Liebesfreundschaft, wie sie Shakespeare in den Sonetten und in den eng zu ihrem Höhepunkt gehörigen Bühnenwerken, Antonius und Cleopatra und Troilus und Cressida darstellt. Wie ich das meine, möge das Sonett zeigen, das gleich auf die Reihe der Sonette von den drei Menschen folgt, deren jeder jedem Liebesgefühle zuträgt und deren einer verlassen erleben muß, wie zwei ihm doppelt treulos sind. Erstaunlicherweise zwar will Brandl in der Abhandlung, die er Fuldas Übersetzung beigibt, dieses wie so manches andre Gedicht, in dem die Freundschaftsliebe einen besonders gewaltigen, passionellen Ausdruck findet, auf die Liebe zu dem Weibe beziehen, -- aber überall, wo es aus inhaltlichen und sprachlichen Gründen sicher ist, daß der Dichter von ihr spricht, sind ganz andre Töne zu hören, und zu solcher Umbiegung hat keiner ein Recht. Shakespeare bedarf keiner Entschuldigung; sein ganzes Herz hängt an seinem Freunde; und warum etwa nicht? Weil die Freundschaft aus der Mode gekommen ist? Weil die meisten, wenn sie von ihr hören, den Eros mit dem Sexus verwechseln und von einer Hingerissenheit nichts wissen, die nur der Seele und dem Geist entstammt? Weil man nur immer an solche ins Drollige mißratene Verhältnisse verzweifelt Täppischer und Phantasieloser denkt, die in ihrem Unterbewußtsein Verwechselungen begehen und irgendein Glied ihrer Notdurft in einen Bund hineintragen, der schmutzig, lasterhaft oder komisch ist, wenn er nicht ein Bund der Freiheit ist? Weil man nur immer faulige oder pervers triebhafte Nebenregungen mit dieser Freundschaft in Verbindung bringt oder sich gar von einer im Dumpfen ausgebrüteten Pseudowissenschaft sagen läßt, solche Freundschaft müsse mit einem fruchtlosen Mißbrauch der zur Kindererzeugung bestimmten Organe des Leibes verbunden sein? Weil die Phantasielosigkeit nirgends komischere Triumphe feiert als auf dem Gebiet der Liebe jeglicher Art? und weil die meisten gott- und liebeverlassenen Leute mehr von einem Wind, der in ihrem Leibe spaziert, zu begehrender Begeisterung gebracht werden als vom Anblick der Seelenschönheit? Äußerung braucht die Freundschaft, wenn sie innen in jedem von zwei Menschen da ist und zwischen zwei Menschen weben will; der Vermittelung bedarf die Seele der zwei, die eins werden will, der Vermittelung durch den Leib, weil es andre Wege des Verkehrs für uns unter dem Himmel nicht gibt; aber auch die Sprache, auch die Musik, auch die Kunst gehört zu dieser leiblichen Vermittelung, und die Nuance ist auf diesem Gebiet der unphysiologischen, der Phantasieliebe alles; von dem Talent und der Übung zum Verkehr der Geister wird es bei den Menschen, die zusammenstreben, abhängen, ob ihr Umgang grotesk oder schön sein wird. Sie wird wieder Mode werden, die Freundschaft; ohne gefühlvollste Untrennbarkeit zueinander gezogener und gebannter Menschen auch über die Familiengruppe hinaus kommt es zu keiner Erneuerung der Menschengesellschaft; die Kameradschaft, wie sie Whitman verkündet hat, wird die Bünde schaffen, die nicht wie die Familien und Nationen gemeinsamer Notdurft der Natur, sondern der freien Wahl des Geistes entstammen, und die nicht aus der Wut des Geblüts zu blutigen Kriegen, sondern zu hell freudigem Wettkampf schöpferischer Kräfte führen. Dann wird ein Gedicht wie das 43. Sonett Shakespeares, das Rembrandt-Sonett den Menschen ein Labsal und wie eine weihevolle Inschrift sein, die ihr öffentliches Leben mit der glühenden Innigkeit ihres intimsten und geheimen Lebens befeuert: Geschloßnes Auge dient am besten mir, Da es sich tags an nichtige Dinge wendet, Doch wenn im Schlaf ich träume, ist’s nach dir Und nächtig hell, hell in die Nacht gesendet. Denn du, deß Schatten Schatten leuchten macht, Was gäb’ dein leibhaft Bild für holde Schau Dem lichten Tag mit deiner lichtren Pracht, Deß Schattenbild erstrahlt in Schlummers Grau! Wie, sag’ ich, wär’ des Auges Glück erst groß, Wenn es dich sähe im lebendigen Tag, Da hell in toter Nacht dein Schatten bloß Durch schweren Schlaf vor blinde Augen trat. Nachtgleich die Tage all’, wo du nicht hier, Und taghell nachts, führt dich der Traum zu mir. Ich denke an Rembrandt nicht bloß wegen des ~darkly bright, bright in dark~, wegen des Helldunkels, sondern weil dieses Licht, das auf die Nacht flammt, bei beiden dieselbe Magie der düster klaren, des Geschicks bewußten Freiheit, Haltung und Entschlossenheit des Geistes, der sich von den Banden des Triebs losmacht und selig gefaßt in der Phantasie lebt, zum Ausdruck bringt. Dieser entschlossene, zu Tod wie Leben bereite, rationelle und doch tragische, helle und doch nächtige Geist, wie ihn dieses Sonett, wie ihn in den Dramen am schönsten Brutus und Hektor und Macduff und Prospero zum Ausdruck bringen, und hinwiederum die andre Gestalt des Geistes, die die Tierwildheit durch Witz, Ironie, Spiel, Heiterkeit überwindet, das sind die beiden Pole, denen die schönsten Dramen Shakespeares ebenso wie diese Sonette wechselseitig zustreben. Und wie braucht der Geist die Abwechselung zwischen diesen Standpunkten und Arten des Verfahrens, wie muß er in dieser Welt sich so schwer durchs Leben winden, um sich zu behaupten, da wir, so klagt das nun folgende Sonett in derselben Stimmung und mit ähnlichen Worten wie der junge Prinz Hamlet, nicht ganz und gar Geist, sondern in die „dumpfe Substanz des Fleisches“ gestopft sind! Wie wäre der Raum, der die Trennung und den Schmerz schafft, überwunden, wenn wir ganz Geist wären! Aber „dieser Gedanke ist tödlich, daß ich nicht Gedanke bin“. Wir sind elementar -- und in der Trennung leiht uns der schwere Stoff unsres Fleisches keinen leichten Flug der Überwindung aller Schranken des Raums, der Zeit, sondern nur die Mischung aus luftgleicher Seele und „allzu festem Fleisch“: das Naß der Tränen. Da haben wir die elementare Chemie dieses Tragikers, der wir in Antonius und Cleopatra schon begegnet waren: Zwei Elemente, Erde und Wasser, unser Leib und unsre Tränen binden uns an die Natur. Mit den Tränen unsrer Schmerzen aber, mit der Empfindung aber geht die Fahrt schon aufwärts, da steigt der Leib hinauf in die Seele. Wie gut erst, daß wir auch der beiden andern Elemente teilhaftig sind, von denen das unmittelbar anschließende 45. Sonett spricht: die Luft, unser Denken; das Feuer, unser Wollen und Sehnen: ~desire~. Mit dieser Ausdeutung der Elemente als Symbole für die Urprinzipien der Welt berührt sich Shakespeare mit der ältesten griechischen Philosophie, ohne daß wir sagen können, ob diese Einkleidung seiner Gedanken und Stimmungen aus philosophischen Gesprächen im Freundeskreis, etwa mit Jüngern der italienischen Neuplatoniker, oder aus Büchern zu ihm kam. Das Erlebnis aber mit dem Leib und den Schmerzen, die ihn flutend durchgeistigten, hatte Shakespeare sehr leibhaft in der Wirklichkeit; er vielleicht mehr als irgendein anderer Sterblicher. Denn er hatte ein unheimliches Erlebnis mit seiner Körperlichkeit, das, ich muß es nach langer Prüfung glauben, irgendwie mit den immer wiederholten Klagen über Makel und Flecken in seinem Leben, über Schmach und Scham zusammenhängen muß, welche Klagen keineswegs durchgängig mit seinem Schauspielerdasein erklärt werden können. In den dreißiger Jahren seines Lebens beginnen die erschütternden Klagen, daß er alt, müde, verbraucht werde, und werden immer grimmiger und schärfer; im Jahre 1599, aus dem wir die ersten noch gemäßigten Klagen dieser Art (im Verliebten Pilger) im Druck haben, war er 35 Jahre alt, und diese Sonette könnten sogar noch ein paar Jahre älter sein. Wer sich damit helfen kann, zu erklären, diese Klänge wären Versspielereien ohne Wirklichkeit, dem sei’s überlassen; ich glaube ein Ohr für Lebensechtheit der Empfindungen zu haben und vermag es nicht. Obwohl Shakespeare alt nicht geworden ist und ganz gewiß kaum vierzig vorbei war, als die ganz bittern dieser Sonette entstanden, redet er scharf und bitter von dem Bild, das ihm sein Spiegel zeigt: die Jahre haben ihn wie mit Lohe gegerbt, rissig gemacht, zerquetscht. Gewiß haben wir da die Übertreibung in Betracht zu ziehen, eine doppelte sogar, die eine, die zur melancholischen Gemütsart gehört und die das, was sie anfangs übertreibt, bald genug selber herstellen hilft und immer ärger macht; dann auch die andre, künstlerische, die einen dunklen Hintergrund braucht, von dem sich das strahlende Bild des Freundes abheben soll. Aber alles zusammengenommen, und erwogen, daß so übergroße geistige Macht nicht geschenkt wird, daß die Natur, die in Eines Menschen Leib solch zehrendes Feuer goß, ohne Ausgleich nicht auskommt, daß jede Genialität sich irgendwie, am Körper, an der Lebensführung, am schwierigen Umgang mit Menschen rächt und daß nur noch etwa einer der Zufälle, die draußen als Dämonen immer lauern, dazu treten muß, um eine Katastrophe herbeizuführen, so müssen wir sagen: die Äußerungen und fast schon Schreie, zu denen Shakespeare zuletzt in den Sonetten kommt, entsprechen dem Bild, das wir uns auch sonst von diesem gewaltig Lebenden machen müssen: seine Leibeskräfte, gleichviel, was von außen antastend und zehrend dazu gekommen war, waren früh verbraucht; er war alt lange vor der Zeit; die Leiblichkeit hielt dem innern Sturm auf die Dauer nicht stand. Und in dieser Stimmung nun, die da über ihn gekommen ist, malt er sich bis in alle Einzelheiten aus, wie einst die Zeit auch mit dem Freund umgehen wird: auch der wird alt werden; auch der dahingehn; Türme zerfallen, Erz und Stein sind nicht für die Ewigkeit; Meer und Land vernichten sich gegenseitig; die Vision und Bildersprache für dieses Untergangsgefühl ist dieselbe, wie sie, ein paar Jahre später wohl, aus Prosperos Mund kommen wird; auch die Schönheit muß welken und in den Kot sinken wie eine Blume. Da gibt es nur immer den einen Trost -- denn der Gedanke an die Unsterblichkeit durch die Nachkommenschaft, wie er in manchmal noch naiver Form sich im Beginn der Sonettendichtung ausgesprochen hat und wie ihn der Dichter schließlich in Gestalt einer Erbfolge des Geistes in dem Verhältnis Prosperos zu Miranda und Ferdinand fassen wird, taucht an dieser Stelle der Sonette nicht auf -- den einen Trost kennt der Dichter hier nur, daß die Liebe in den schwarzen Lettern dieser Gedichte erhalten bleibt. Daran schließen sich dann Gedichte von einer ungeheuren Bitterkeit und Weltverachtung und einem Lebensüberdruß ohnegleichen, die auch in Ton und Form von einer geschmiedeten Wucht sind, allen voran das 66. Sonett, das der nämlichen Stimmung Ausdruck gibt wie der Hamlet, der Lear, der Timon, der Coriolan: O pfui, o nein, was für eine Welt, lieber nicht leben! Zehnmal hintereinander fängt von den vierzehn Zeilen jede mit „Und“ an; der Dichter kann sich nicht genug tun in der Aufzählung der Häßlichkeiten und Erbärmlichkeiten der Welt: _Dies_ alles müd schrei’ ich nach Todesrast: Verdienst zu sehn als Bettelmann geboren, Und dürftiges Nichts in Herrlichkeit gefaßt, Und reinste Treu’ zum Jammer auserkoren, Und goldne Ehre, die den Falschen krönt, Und jungfräuliche Tugend roh geschändet, Und echte Hoheit ungerecht verpönt, Und Kraft von lahmer Tyrannei entwendet, Und Kunst geknebelt von der Obrigkeit, Und Geist vorm Doktor Narrheit ohne Recht, Und dumm befunden schlichte Redlichkeit, Und Sklave Gut im Dienst beim Herren Schlecht: Dies alles müd möcht’ ich begraben sein, Ließ ich nicht sterbend, Liebster, dich allein. Seltsam allmählich wendet sich dieser Überdruß an der Welt, wie sie jetzt ist, gegen den Freund, der bei allem doch, wir hören’s in dieser furchtbaren Klage, wenn nicht sein Trost, so doch sein Grund ist, in der Welt bleiben zu wollen. Die Natur scheint wie bankerott zu erliegen; sie hat kein Blut mehr, das durch lebendige Adern zu rinnen vermag. Und steht nicht in diesem Untergang der Freund als einziger Besitz der echten Natur inmitten der Falschheit? Aber schon klingt es uns, als färbe die unnennbare Bitterkeit dieser Schilderung auch auf den Freund selbst ab; er wird geschildert als einer, der inmitten der Verpestung lebt; die Ruchlosigkeit begnadet er mit seiner Gegenwart, die Sünde darf sich mit seiner Gesellschaft zieren. Und von geschminkten Wangen und falschen Locken ist viel die Rede, die man in diesen lügnerischen Zeiten den Gräbern stiehlt, damit sie auf einem zweiten Kopf ein zweites Leben führen; wir wissen, wie Shakespeare seinem Ekel vor solcher Fälschung der Attribute der Schönheit auch sonst, zum Beispiel in Bassanios Rede, Ausdruck gegeben hat; Schönheit war ihm nicht Äußerlichkeit, sondern Ausdruck, und sie außen aufzukleben und vorzutäuschen keine geringere Heuchelei als die moralische. Der Freund, an den er sich klammert, ist dem Dichter der Sonette das letzte Bild der Echtheit in dieser Zeit; er macht nicht aus andrer Grün einen künstlichen Sommer, er möge der falschen Kunst zeigen, was einstens allerwege die Schönheit war. Und nun spricht er sich im weitern noch deutlicher aus, wenn auch keineswegs so deutlich, wie es manche Übersetzer gemacht haben. Was die Welt an dir sehen kann, Freund, dein Äußeres ist ohne Fehl; und künstliche Mittel wendest du nicht an; Freund und Feind müssen gestehn: schön bist du. Aber ist diese Schönheit deines Leibes wahrhaft Ausdruck deines Wesens? Bist du nicht ein Beispiel für das Furchtbare, daß Schönheit, Liebreiz, adlig gewinnendes Wesen selbst täuschender Schein sein können? Wenn man tiefer in dich eindringen will, hinter den entzückenden Schein und Schimmer deiner Erscheinung, woran anders soll man die Schönheit deiner Seele prüfen als an deinen Taten? Schon öfter hat der Dichter in diesen Sonetten an den Blumen die schönen Farben als den holden Schein und aber den Duft als den Ausdruck des Innern unterschieden; jetzt sagt er von dem Freund, seine Blüte sei schön zu schauen, aber sie dufte ~rank~, das heißt geil, scharf stinkend. Und warum, du Blume kommt dein Duft nicht deinem Anblick gleich? ~The soil is this, that thou dost common grow.~ Das ist ein wundersames, rein formal genommen, wundervolles Wortspiel, eine Doppelbedeutung, mit der sehr viel gesagt ist. Es kann heißen: Der Grund ist der, daß du gemein wirst. Aber im Zusammenhang mit dem Bild der Pflanze soll eher der Sinn herauskommen: Der Grund ist der, daß du in Gesellschaft wächst, wie das Unkraut, der Grund ist der Umgang, in dem du dir gefällst und dich gemein machst. Aber jedenfalls sehen wir: das Verhältnis hat sich geändert, hat sich beinahe umgekehrt. Früher war es der Dichter, der sich vor der reinen Erhabenheit des Jünglings, des Adligen fast verkrochen hat. Adel ist ihm Naturerbe, ist ihm ein Vorzug des Geblüts, echt und berechtigt wie der Anspruch der Schönheit. Und immerhin möglich ist es und manche Wendung deutet in der Tat darauf hin, daß er, wie er in dem Adel und der Schönheit des Freundes, wenn diesen Zeichen das Innere entspricht, eine Gabe der Natur erblickt, seinen Schauspielerberuf als etwas ansieht, das sein Wesen tief nach innen und unaustilgbar gefärbt habe, wie das Färben die Hand des Färbers; daß er diesen Beruf wie ein schimpfliches öffentliches Gewerbe betrachtet, und von ihm in Wendungen spricht, wie Schmach und Schuld und Flecken und Makel, die sonst nur innere Eigenschaften bezeichnen. Fortuna nennt er die „schuldige Göttin seiner qualvollen Taten“. Ist diese Deutung so richtig, wie sie allgemein akzeptiert ist, so dürfen wir, auf dieses Leben zurückblickend, wohl ausrufen: was muß der junge Shakespeare schon für eine Persönlichkeit gehabt haben, um aus solcher Stellung heraus zu diesem Verhältnis zu so einem verwöhnten Jüngling aus höchstem Adel zu kommen! Wie dem auch sei, jetzt redet der Dichter überlegen von oben, scheu und behutsam immer noch, aber nur aus schonender Liebe, die glauben will; denn um Verdacht schlimmster Art geht es. Verdacht: das ist das Thema eines dieser Sonette. Der beweist freilich noch nichts; Verleumdung tastet grade das Edelste an, und die Krähe fliegt in der holdesten Himmelsluft; Verdacht ist geradezu die Auszeichnung der Schönheit: ~The ornament of beauty is suspect.~ Sollte der Freund, der die Jugend und ihre schlimmen Gefahren hinter sich hat und entweder gar nicht angegriffen wurde oder als Sieger hervorging, nicht seine Unschuld bewahrt haben, sollte er nicht gut geblieben sein? Die Frage bleibt zunächst offen: Verhüllte nicht der Argwohn deinen Ruhm, Du hättest aller Herzen Königtum. In den Zusammenhang dieser Sonette 67-70 und der später folgenden Reihe 92-95, die das Motiv verstärkt aufnimmt, stellt sich mir aber die böse Stelle aus der Klage der Liebenden, von der ich früher gesagt habe, daß sie mir nicht bloß zur Handlung der Romanze, sondern auch des Sonettenwerks gehört. Und in diesem Zusammenhang gedenke ich eines Dichters unsrer Zeit, den man den natürlichen Sohn dieser Sonette nennen könnte. Ich meine Oskar Wilde, der in diesen Gedichten und ihrer Vorstellungs- und Empfindungswelt gelebt und geatmet hat. Von dem amüsanten und doch schließlich betrüblichen Büchlein „Das Porträt des Herrn W. H.“ will ich weniger reden als von einem andern Bildnis. In dem Büchlein hat er eine verführerische Theorie über den Mann, an den die Sonette sich richten, mit welcher er lange kokettiert haben mag, schließlich in einer Novelle beigesetzt. W. H. sollte nach dieser Erklärung der junge Schauspieler sein, der in Shakespeares Truppe die jugendlichen Mädchengestalten spielte. Das läßt sich nicht halten; daß der Mann, dem die Sonette gelten, ein Aristokrat in vornehmster Stellung war, geht aus vielem hervor. Aber wichtiger ist es, von einer der bestkomponierten Romandichtungen unsrer Zeit, vom Bildnis Dorian Grays in diesem Zusammenhang zu reden. Mir ist, als wäre diese Dichtung aus Shakespeares Sonetten und besonders aus dem Teil, der uns jetzt beschäftigt, entstanden; und Die Klage der Liebenden könnte das Vorbild zur kläglichen letzten Liebe Dorian Grays abgegeben haben. Die Motive der Sonette 67-70 sind in der Tat die Grundmotive des Romans: alle, so klingt es uns hier wie dort entgegen, alle werden vom Alter angefressen; du allein strahlst in unvergänglicher Schönheit. Aber -- wie steht’s um deine Seele! Wenn man die sehen könnte --! Gut ist’s nicht damit bestellt, wenn man nach deinem Rufe, gut auch nicht, wenn man nach deiner Gesellschaft urteilt. Und dieser Eindruck verstärkt sich noch in den Sonetten 92-95. Ist es nicht wie ein Motto zu Dorian Gray, wenn wir da hören: Doch Gott beschloß an deinem Schöpfungstag: Nie soll die Liebe dir vom Antlitz schwinden, Was auch dein Geist, dein Herz ersinnen mag, Dein Blick soll immer Holdes nur verkünden. Bei diesem Bilde der zum Staunen unvergänglichen Anmut und Liebenswürdigkeit wie nun bei der Schilderung, die den Prinzen Wunderhold mit einem Mal unverhüllt in seiner innern Beschaffenheit zeigt, haben wir ganz das Porträt, das die verratene Liebste in der Romanze am Schluß des Sonettenwerks von dem bezaubernden Manne entwirft; wenn es etwa im 95. Sonett heißt: O welch ein Schloß das Laster sich erkor, Als es in dir zu wohnen sich entschied! Jedweden Makel deckt der Schönheit Flor, Und schön wird alles, was das Auge sieht. In tiefster Schwermut wendet sich dann der Dichter von den Zweifeln an dem immer geliebten Freund, dem er ein Mal für alle verfallen ist, weg zur Betrachtung des Todes, dem er sich immer näher fühlt. Eine entsetzliche Vorstellung aber ist ihm jeder Gedanke an die Auflösung, -- so grauenhaft wie uns allen, nur daß wir nicht hinblicken, nicht den Schädel unsres guten Freundes aus der Knabenzeit in der Hand wiegen und dabei empfinden, es sei unser eignes kahl gefressenes Gebein. Den Dichter aber lockt es unbezwinglich hinzublicken auf dieses Unfaßbare; und sich, wie er jetzt ist, empfindet er in tiefstem Schauder als denselben, der er bald sein wird, ein maßlos Erniedrigter. Dem Freund ruft er, wie schon mit Grabesstimme zu: Nicht länger klage um mich, als die Totenglocke schallt! Lies meine Verse, aber denke nicht mehr an den Menschen, der sie geschrieben hat! Nenne meinen Namen nicht mehr, liebe mich nicht mehr, wenn ich weg bin! In der Niedrigkeit war ich in dieser Welt, zu allerniedrigsten Würmern geh’ ich, wenn ich ihr entronnen bin. Und noch stärker wird diese ganz und gar düstere Stimmung, in die gar kein Licht fällt, ausgedrückt. Ich werde dieses dunkle Rätsel nicht lösen, aber ich werde es nicht verhehlen: dieser Dichter, ganz weltlich, ganz ohne jede Beimischung etwa religiös-asketischer Umkehr, im Gegenteil, indem er die ganze Welt lichtlos, freudlos, hoffnungslos, sinnlos sieht, nimmt aus dieser Stimmung auch sich den Lebenden und sein Werk nicht aus. Was er getan, geleistet hat, mißt er in dieser Verfassung der Krise offenbar an einem Wollen ganz andrer Art, ganz andren Zieles, das vielleicht auch ganz andern Gebieten angehört; was da ist, ist nichts und schlimmer als nichts. Da, in der direkteren Aussprache dieser Lyrik, ist nicht die in Bitterkeit noch milde Resignation, mit der Prospero seinem Werk und Leben entsagt; da ist Verzweiflung. Wie er in jüngern Jahren von Verschuldung und von Flecken gesprochen hat, so nennt er jetzt seine Leistung Schmach und Schande. Ich habe zugegeben, man kann jene starken Ausdrücke auf sein Schauspielerdasein beziehen, aber will man für jetzt, wo er auf der Höhe seiner dramatischen Produktion steht, auch noch sagen, mit dieser entschlossenen, finstern Verachtung rede er nur von seiner äußern Stellung als Schauspieler und Dramatiker? Nichts unglaublicher als das! Nirgends sind wir im ganzen und einzelnen der Stimmung und dem innersten Wesen von Shakespeares reifsten Dramen so nah wie in diesem Teil der Sonette; nirgends aber in den Bühnenwerken spricht sich uns die Abkehr und Verzweiflung an sich selbst so namenlos schrecklich aus wie hier. Ich habe für diese Äußerungen, für diese in Entschlossenheit gefaßten Ausbrüche keine andre Erklärung als die einer oft fast völligen Umdüsterung, fast müßte man sagen: Umnachtung. Er verfügt in einem Tone wie letztwillig: sein Name solle vom Freunde da begraben werden, wo sein Leichnam liegen werde, und solle nicht länger am Leben bleiben und ihn und den Freund in Schmach bringen. Denn ich schäme mich dessen, was ich hervorbringe, und du solltest dich schämen, Dinge zu lieben, die nichts wert sind. Doch solange er lebt, soll der Freund ihn lieben! Das bringt uns vielleicht doch der Lösung des Rätsels noch etwas näher. Diese Düsterkeit steht in untrennbarer Verbindung mit den Verfallserscheinungen seiner Körperlichkeit -- er ist höchstens ein früher Vierziger --, mit der Todesnähe, auf die er immer wieder zu sprechen kommt und die -- vergessen wir das doch nicht! -- Wirklichkeit ist. Wir wissen nicht, an welcher Krankheit Shakespeare jung starb, -- aber wir wissen, daß er sich mindestens acht bis zehn Jahre vorher vom Tode gezeichnet fühlte. Da redet er -- und es ist sicher dieselbe Zeit, in der über den Dramatiker vom tiefst Menschlichen her zuerst die Krise gekommen war, die wir kennen gelernt haben -- den Freund an: In mir siehst du den Herbst! Gelbe Blätter, oder keine, oder ein paar hängen in frierenden Zweigen, und man kann bei diesem Anblick an einen eingestürzten Chor denken, in dem einst die süßen Vögel sangen. Daß sich dieses Bild auf seine Produktion bezieht, daß er diesmal ein Jetzt, wo ihm alles mißraten scheint, mit einem früheren Reichtum vergleicht, wie mit einem Strom, während seinem Gefühl nach jetzt Stocken und Versiegen gekommen ist, hören wir aus dieser Stelle deutlich: In mir siehst du in Zwielicht düstern Tag, Der nach Sonnuntergang gen Abend bleicht, Den schwarze Nacht gar bald entführen mag, Des Todes Schatten, der von hinnen scheucht. In mir siehst du das Glimmen einer Glut, Die auf der Asche ihrer Jugend endet, Als ihrem Todbett, und bald völlig ruht, Verzehrt von dem, was Nahrung ihr gespendet. Wir haben gehört, was das für ein Feuer ist; ~desire~ -- die Sehnsucht, das unbändige Wollen, die Leidenschaft; von innerem Feuer ist dieses Dichterlebens Feuer allzu rasch, allzu glühend verzehrt worden. Man sagt, die gewaltigsten, verzehrendsten Waldbrände könnten nur durch Feuer gelöscht werden, das man gegen sie treibt. So will das Feuer dieses Dichters erlöschen: von Flammen verschlungen; und er unterscheidet gut genug den guten und den bösen Engel, das reine Feuer der Seele und der Dichtung und der Schönheitsliebe und aber das brennende, sündhafte Feuer der Triebe. Und -- ich wollte die Feder verstauchen und nicht mehr zur Hand nehmen, wenn sie nicht alles heraus ließe, was gesagt werden kann und gesagt sein muß; und ich möchte sie nicht mehr führen, wenn sie nicht zart vom Unnennbaren reden könnte -- und ich empfinde, wie der Dichter mit diesem bösen Feuer, das sein reines verzehrt, mit dieser sinnlichen Leidenschaft und Wollust seine Krankheit, seine steigende Kraftlosigkeit und frühes Alter und die Todesnähe in Verbindung bringt; und ich empfinde die Verzweiflung und der Umnachtung nahe Verdüsterung als die nicht bloß seelische, sondern leibliche Folge und Begleiterscheinung des Leidens, das ihn aufrieb. Wie Ekel ist ihm sein Leib, als ob schon jetzt der Tod daran fräße; kein Gedanke soll ihm, diesem Naturding mehr gelten, wenn der Tod sein Werk getan hat. Die Stimmung des Gequälten schwankt; jetzt ist dem Dichter dieser Sonette sein Werk wieder der Grund, auf den er die Unsterblichkeit baut: Doch sei getrost: wenn jener grimme Spruch Ohn’ allen Aufschub mich von hinnen treibt, So trägt mein Leben Frucht in diesem Buch, Das zum Gedächtnis dann noch bei dir bleibt. Die Erde soll Erde bekommen, der Geist bleibt dein; nur die Hefe, der Bodensatz des Lebens wird Würmerspeise; der Tod ist ein kläglicher Wicht, der mit seiner Hippe Wertloses an sich reißt und das Beste nicht treffen kann. Es ist mir, ich möchte beinahe sagen, ein Dogma oder Axiom, daß jeder Dichter im privaten Leben, wie er es von Natur, Körperlichkeit und Menschenumwelt wegen führen muß, die eine Seite seines Wesens zeigt und in seiner Dichtung die andre, und daß man von der einen so wenig wie von der andern ausschließend sagen kann, sie sei die wahre. Es ist wahr, wir haben in der Gesamtheit seiner Dichtungen Shakespeares innerstes Wesen, haben es aber im Höchsten dieser Werke und in den Gestalten, bei denen die Sympathie des Dichters steht, nicht, wie er als Mensch unter Menschen sein kann, sondern wie er, ein anderer Mensch in andrer Umgebung, sein zu können sich sehnt. Ich glaube, die Gelähmtheit Hamlets, die grausig zum Ausdruck kommende Todesfurcht des Sklaven der Sinnenliebe Claudio in Maß für Maß und die zwischen Selbstbewußtsein und schüchterner Demut schwankende, zur Selbstanklage immer bereite Gemütsverfassung des Sonettendichters deuten auf Züge, wie sie der lebendige Shakespeare in jäher Unvermitteltheit neben kühnen und strahlenden von früh auf gehabt haben mag. Von alledem, was ich hier und früher über Shakespeares Persönlichkeit gesagt habe, habe ich nichts gesucht; ob ich mich sträubte oder willig war, ich habe es alles bei der Begegnung zwischen mir, wie ich bin und auffasse, und diesen Dichtungen, wie sie unverrückbar sind, gefunden. Ich war bereit, den Sonettendichter als Helden dieses Gedichtwerks so von William Shakespeare zu trennen, wie Romeo oder Brutus oder Herr Angelo von ihm zu trennen ist; aber die Lohe des Persönlichen und zutiefst Erlebten schlug immer wieder in das gebändigte Maß der Form und die entrückte Gestaltung hinein. Diese Gedichte sind reinste Lyrik, in demselben Sinne, in dem wir Deutsche diese Gattung von den Großen und Echten unsrer Minnedichter her, von den Dichtern des Volkslieds, von Andreas Gryphius und Paul Fleming, von Günther und Goethe, von Claudius und Hölderlin her kennen: Leben der eigenen Empfindung in Verbindung mit dem eigenen Schicksal, zur Gestalt erhoben und zur Form geprägt. So haben uns die Sonette schon in das Thema hineingeführt, das uns jetzt zum allerletzten Schluß obliegt: William Shakespeares Persönlichkeit, seine Stellung im Leben. Und ich will von dem letzten Teil der Sonettendichtung, der dem Weibe gilt, das in Shakespeares Leben eine so verhängnisvolle Rolle gespielt hat, von dem Teil, der auch das Endgültige dieses Mannes zur Frage des Lebens, des Leibes, der Seele sagt, nur im Zusammenhang mit seiner persönlichen Existenz sprechen. Nie mit der geringsten Hinweisung ist in diesen Sonetten von Shakespeares Familie, von seiner Frau, von seinen Kindern die Rede. Sie haben nirgends in seiner Dichtung auch nur das kleinste Plätzchen. Sei auch von ihnen gesagt, was allenfalls zu sagen ist, wenn wir nun vom Schlußteil der Sonette aus den unheimlichen Weg vom Dichter Shakespeare zu William Shakespeare dem Menschen weiterzugehen wagen. Shakespeares Persönlichkeit (Aufzeichnungen zum Schlußvortrag) Was hier noch gesagt wird, ist ein Nachtrag und eine Zusammenfassung. Vom Leben und der Persönlichkeit des Dichters habe ich schon immer und immer mehr gesprochen, je näher wir dem Ende kamen. Shakespeares Persönlichkeit: wir wollen also aus seinen Werken uns ein Bild seines Wesens machen, im Zusammenhang mit den Umständen seiner Zeit und seiner Lebensführung. Vor allem also müssen wir die Identität des Verfassers der Gedichte, der Sonette, der Dramen mit William Shakespeare aus Stratford, Schauspieler am Globe- oder Blackfriars-Theater in London feststellen. Denn gleich stellt sich uns die Behauptung in den Weg: Shakespeare sei nicht Shakespeare; ein anderer hätte die Werke verfaßt. Über diesen andern sind die Vertreter dieser Theorie nicht mehr einig. Außer Lord Bacon werden noch andre genannt. Mit den Beweisen für diese Theorie sieht es nun so aus: sie sind jedesmal durchschlagend; aber sie haben kein langes Leben; sie lösen einander ab. Zum Beispiel: Wenn wirklich in der Folio-Ausgabe in Chiffredruck mitgeteilt ist, daß Francis Bacon der Verfasser ist, so ist der Beweis geliefert. Aber -- nach einiger Zeit läßt man diese unerhört freche und dumme Behauptung fallen und -- behauptet etwas andres. Oder: wenn wirklich ein Notizenheft in Bacons eigener Handschrift da ist, wo er zu einer Zeit, wo die entsprechenden Dramen Shakespeares noch nicht verfaßt sein konnten, sich Wendungen, Bilder, Gleichnisse, Redensarten notierte, die dann etwa in Romeo und Julia und andern Dramen genau so verwandt sind, so ist der Beweis geliefert. Aber -- die Voraussetzungen treffen alle nicht zu; beim ganz Verblüffenden handelt es sich um Fälschungen einer armen Irrsinnigen -- -- und nach einiger Zeit wird es von diesem Beweisstück wieder ganz still. Und so geht es durchweg: es ist wie bei einem Indizienbeweis gegen einen Unschuldigen, wo lauter Einzelheiten, die entweder nichts beweisen oder falsch sind, als Gesamtheit eine gewisse Stimmung erzeugen. Fragen wir jetzt im ganzen: ist die Theorie nötig? -- ist sie möglich? Nötig ist sie denen, denen Shakespeare der Stratforder zu ungebildet ist. Sie meinen, diese Dichtungen müßten einen Aristokraten, einen Gelehrten, einen Akademiker zum Verfasser haben. Ein greuliches Überschätzen der Bildung schulmäßiger Art tritt zu Tage. Die meisten aber gehen noch weiter und sagen: gewisse gemeine, pöbelhafte, volkstümliche, komische Elemente in den Stücken stammten von Shakespeare dem Schauspieler; die edlen Teile hätte der Lord und Gelehrte verfaßt. Damit ist aber dem Dichter Shakespeare Wesentliches genommen, nicht bloß seine zeitliche Bedingtheit, seine Konzessionen an den Zeitgeschmack, seine Müdigkeit und Lässigkeit, die Derbheit, die ihn mit der Zeit verbindet -- worauf ich aber auch keineswegs verzichten möchte -- sondern seine Allseitigkeit, sein Aufsteigen, seine gegensätzliche Art zu charakterisieren und den innern Sinn der Handlung herauszuarbeiten. Und wo soll man da, wenn man ihm die Clown-, die Wirtshaus-, die Bordellszenen nehmen will, anfangen und aufhören? Und wozu? Das ist eine ganz blaustrumpfmäßige Art, den „Tichtēr“ aufzufassen. Jetzt aber das Entscheidende: die Frage nach der Möglichkeit der Theorie. Sie ist nicht möglich. Die Zeugnisse für die Identität des Dichters mit dem in London lebenden, aus Stratford stammenden William Shakespeare sind zahlreich und unumstößlich. Der Dichter William Shakespeare hat seine Gedichtbücher Venus und Adonis und Der Raub der Lucretia selbst herausgegeben und -- was ohne des Grafen Erlaubnis nicht möglich war -- dem Grafen Southampton gewidmet. Und grade die sind mit glänzendem Verstalent, mit Anschauungen und Wendungen, wie sie in den Dramen wiederkehren, in der modischen, gelehrtenhaften, klassisch eingekleideten Art verfaßt. Nach William Shakespeares Tod in Stratford haben seine Schauspielerkollegen Heminge und Condell 1623 die Gesamtausgabe besorgt; sein Porträt beigegeben; von seinen Handschriften in der Vorrede gesprochen, in denen sich fast keine Korrekturen fänden. Die und die andern Schauspieler, darunter der große Künstler Richard Burbage, haben mit Shakespeare zusammen die Stücke einstudiert, gegeben. Ben Jonson, eine bedeutende Persönlichkeit, ein Dichter und Gelehrter, mit Shakespeare nachweislich und selbstverständlich persönlich bekannt, der sich immer wieder an ihm rieb und gerade sein volkstümlich Unregelmäßiges tadelte, gab der Gesamtausgabe seine Ode bei, mit der Überschrift „Zur Erinnerung an meinen geliebten William Shakespeare.“ Nicht daß dein Name uns erwecke Neid, Mein Shakespeare, preis’ ich deine Herrlichkeit, Denn wie man dich auch rühmen mag und preisen, Zu hohen Ruhm kann keiner dir erweisen. * * * * * Du Seele unsrer Zeit, kamst sie zu schmücken Als unsrer Bühne Wunder und Entzücken! * * * * * Und wußtest du auch wenig nur Latein, Noch weniger Griechisch, war doch Größe dein, Davor sich selbst der donnernde Äschylus, Euripides, Sophokles beugen muß -- -- -- Voll Stolz war Rom, voll Übermut Athen, Sie haben deinesgleichen nicht gesehn! * * * * * Doch darf ich der Natur nicht alles geben, Auch deine Kunst, Shakespeare, muß ich erheben; Denn ist auch Stoff des Kunstwerks die Natur, Wird Stoff zum Kunstwerk durch die Form doch nur. * * * * * O säh’n wir dich aufs neue, süßer Schwan Vom Avon, ziehn auf deiner stolzen Bahn! Säh’n wir, der so Elisabeth erfreute Und Jakob, deinen hohen Flug noch heute Am Themsestrand! -- -- -- Wie will man denn um dieses Zeugnis eines Zeitgenossen, eines vertrauten Bekannten, einer großen Persönlichkeit, die Urteil und Schärfe und Bosheit hatte, herumkommen! Der hat dem Schauspieler Shakespeare, mit dem er Umgang pflog, diese Werke zugetraut. Was für Narren wären wir, wenn wir bloß darum daran zweifelten, weil unsre Kenntnis der Person Shakespeares weniger intim ist als seine! Diese Zeugnisse könnten aber nun gehäuft werden. Im Anfang von Shakespeares Londoner Laufbahn erscheint eine Schrift aus dem Nachlaß des Dramatikers Robert Greene, eines Gelehrten: darin warnt er in bittern Worten vor den Schauspielern, die sich jetzt auch als Dramatiker auftun; mit einem deutlichen Hinweis auf Shakespeare, der „in dem Wahne lebe, der einzige ~Shake-scene~, Bühnenerschütterer im Lande zu sein“. Ein paar Monate darauf erklärt der Herausgeber dieser Schrift, Henry Chettle, sein Bedauern über diesen Angriff auf Shakespeare: „ich habe mich persönlich davon überzeugt, daß seine höflichen Umgangsformen seinen Vorzügen, die ihn in seinem Berufe auszeichnen, in nichts nachstehn. Überdies wissen einige angesehene Persönlichkeiten von seiner rechtschaffenen Handlungsweise -- als Beweis für seine Ehrenhaftigkeit -- und von der glücklichen Anmut seines Stils -- als Beweis für seine Kunst -- zu erzählen.“ Genug, zu viel schon davon: ob es uns lieb ist oder leid: der Verfasser der gewaltigen Dichtungen ist 1564 in Stratford geboren und 1616 dort gestorben und war zwischenhinein Schauspieler in London. Sind wir nun so weit, so möchten wir uns gern ein Bild von seiner äußern Gestalt, seiner Leiblichkeit, seinem Gesicht machen; das ist uns für die Persönlichkeit sehr wichtig. Aber da hapert es sehr, -- wie es mit all diesem Persönlichen, was Überlieferung von Tatsächlichem angeht, fast in allen Stücken hapert. Der elegante Mann mit dem schönen Bart, wie er vor den meisten Shakespeare-Ausgaben steht, oder wie man ihn, im Hofgewand und mit einer begeistert-anmutigen Gebärde vor der Königin Elisabeth -- man tut’s nicht billiger -- auf Ölgemälden und Stahlstichen vorlesen sieht, -- diese Gestalt mit diesem nichtssagend glatten Gesicht geht auf das sogenannte Chandos-Porträt zurück, das in London in der National Portrait Gallery hängt und erst lange nach Shakespeares Tod gemacht ist. Es spricht gar nichts für diese Ähnlichkeit, -- denn es ist sehr unähnlich den beiden Abbildungen, in denen seine Bekannten ihn doch wenigstens irgendwie erkannten und die untereinander übereinstimmen. Das ist einmal die Büste in der Stratforder Kirche, nicht weit vom Grab, ein paar Jahre nach dem Tod von der Familie aufgestellt: ein elendes Machwerk, fabriziert von dem holländischen ~tomb-maker~ Jansen, der sein Geschäft in London betrieb. Immerhin wird er Shakespeare gekannt haben, vielleicht hat er gar nach einer Totenmaske gearbeitet; und die Familie wird ja wohl zufrieden gewesen sein. Hier sei gleich gesagt, daß der tote Shakespeare in Stratford und von seiner Familie nach Verdienst gewürdigt wurde, wenn auch wie alles, was von dieser Seite kam, abgeschmackt. Unter der Büste stehen schlechte lateinische und wenig bessere englische Verse, die lauten: „Nestors Einsicht, des Sokrates Geist und die Künste Vergils Decket die Erde, betrauert das Volk, hat der Olymp.“ Und englisch: „Steh, Wandrer, warum willst du so schnell vorbei? Lies, wenn du kannst, wen der neidische Tod hier gebettet, In diesem Grabmal Shakespeare, mit dem die flinke Natur starb, Dessen Name dies Monument mehr schmückt als der Kostenaufwand, Denn alles, was er schrieb, läßt die überlebende Kunst zurück Wie einen Pagen, sein Genie zu bedienen.“ Das andre Bild steht als Kupfer vor der Folioausgabe, rührt wiederum von einem Holländer, Martin Droeshout, her und ist ein kümmerliches Machwerk. Aber eine äußere Ähnlichkeit mit der Stratforder Büste kann herausgefunden werden, und überdies hat es Ben Jonson gelobt. Wir haben nun zwar seit 1892 auch ein Ölgemälde, das in Stratford entdeckt wurde, und das die Jahreszahl 1609 trägt: gleichviel, wie es entstanden ist, jedenfalls gibt es nur in nicht viel besserer Handwerksmanier dasselbe Gesicht wieder, wie der Stich vor der Gesamtausgabe. Man kann aber, wenn man sich in eines dieser Machwerke, die offenbar eine gewisse äußere Ähnlichkeit haben, versenkt, sie von innen heraus beleben und dann einen Augenblick lang einen Eindruck wie von einem großen Lebenden haben. Dazu helfen kann nun die wunderschöne sogenannte Darmstädter Totenmaske oder eine Abbildung von ihr. Die ist in den 40er Jahren in Darmstadt aufgetaucht und befindet sich noch da in Privatbesitz. Die Ähnlichkeit besonders mit der Stratforder Büste ist groß, außerordentlich: während die aber leer und albern dreinblickt, hat die Maske einen wunderbar ernsten großen Ausdruck. Ich halte sie für ein Meisterwerk -- wie die Tiara des Saitaphernes; womit ich schon sage, daß ich sie für eine großartige Fälschung halte (Herman Grimm und andere sind begeistert für die Echtheit eingetreten). Aber so stelle ich mir Shakespeare vor, weil diesen Ausdruck auch die authentischen Bilder annehmen, wenn man sie zu beleben versucht. Zu Shakespeares Leben und zur Shakespeare-Biographie: -- das ist nicht das nämliche! Vier Elemente bezeichnen Shakespeares Leben: Leidenschaft oder Trieb -- Innigkeit oder Seele -- überlegener Geist oder Verstand -- Menschenfreundlichkeit (~humane gentleness~). Vier Elemente ganz andrer Art bezeichnen die Shakespeare-Biographie: Dürre oder Leere -- Hypothese -- Komik -- und Langeweile. Wie viele solcher dickleibigen Werke gibt es, in einem oder zwei Bänden, die alle so aussehen: Eine Schilderung der Zeit -- Beschreibung der Lage Stratfords -- des Lebens in solchen Städten -- sehr Ausführliches über die damaligen Theaterverhältnisse -- eine Abhandlung über den Modestil des Euphuismus -- ausführliche Analysen sämtlicher Stücke Shakespeares -- und zwischenhinein gestreut die meist gänzlich unwichtigen zufälligen Dokumente, die sich auf Shakespeare und seine Familie beziehen, ein paar dürre Nachrichten, und Vermutungen über Vermutungen, Behauptungen über Behauptungen! Überall aber geht es so zu, wie es naiv genug einer der Biographen in seinem Vorwort bekennt: „Manche Behauptung stützt sich mehr auf Vermutung und Kombination als auf sicheren Beweis. Ich habe solche Angaben mit allem Vorbehalt gemacht, aber die Natur des Werkes bringt es mit sich, daß auf diesen nicht ganz zuverlässigen Steinen später weitergebaut werden mußte.“ Ein paar Beispiele für dieses Verfahren, aus einem der kürzesten, tatsächlichsten dieser Art Bücher, das von Dowden verfaßt ist: „Shakespeare wurde sicherlich in die Stratforder Lateinfreischule geschickt.“ Das heißt: man weiß gar nichts davon. -- Der nächste Satz: „Dort lernte er nicht bloß Englisch, sondern auch etwas Latein und vielleicht ein klein wenig Griechisch.“ Ein paar Sätze weiter: „Daß er seine lateinische Grammatik auswendig konnte, kann fast mit Sicherheit angenommen werden.“ So geht es durchweg: Schauspieler waren in Stratford -- der Vater mag den kleinen William mitgenommen haben; ein Fest in Kenilworth: „der Vater dürfte mit dem vor ihm auf dem Sattel sitzenden Buben hinüber geritten sein.“ Aus der Schule, von der wir bloß nicht wissen, ob er je drin war, mußte Shakespeare sehr wahrscheinlich wegen des Vermögensverfalls herausgenommen werden, der indessen auch nicht feststeht. Wenn wir schon Tatsachen dichten wollen, was bindet uns denn z. B. an die armselige Lateinfreischule? Kann denn nicht ein gelehrter Pfarrer oder Gutsherr oder ein Mönch wie Pater Lorenzo, oder mehrere der Art hintereinander sich des Wunderkindes, des genialen Jünglings angenommen und ihn zu Büchern geleitet haben? Und so durchweg, das ganze Leben hindurch! Und nun will ich die gesicherten nackten Tatsachen aufstellen, die uns etwas angehn; zwischen diesen Grundpfeilern darf und soll die Phantasie arbeiten, die vom Dichter, seinen Werken aus fühlen, nicht aber Tatsachen erdichten soll. Eine kleine Landstadt -- Fluß, Felder, Wiesen, Wälder. Ländliches, zunftmäßiges Handwerk; die Gemeindeverfassung ganz mittelalterlich. Was der junge William trieb, wissen wir nicht. Gerüchte allerlei Art besagen nur, was wir uns sowieso denken müssen: daß eine glühende Jugendnatur in der Enge wild und schäumend wurde. Für das Gerücht von der Wilddieberei und den Konflikten mit dem Gutsherrn gibt es tatsächliche Anhaltspunkte: da muß etwas dran sein. Etwa 18½ Jahre alt heiratet William Shakespeare; eilig, mit nur einmaligem Aufgebot und besonderer Erlaubnis des Bischofs. Die erfolgt November 1582; Mai 1583 ist das erste Kind da, die Tochter Susanna. Shakespeares Frau, Anna Hathaway, ist acht Jahre älter als er: 18:26. Daß es da stürmisch, unregelmäßig herging, ist sicher. Zwei Jahre darauf, 1585, gibt es Zwillinge: der Sohn Hamnet, der dann als Elfjähriger in Stratford starb, die Tochter Judith. Von 1592 an ist Shakespeare in London als Schauspieler und Theaterdichter bekannt. Wann er dahin gekommen ist, ob er einfach ausgerissen ist, wann er mit Dichten anfing, wo er die Bildung her hatte, die sich von allem Anfang an zeigt: nichts von alledem wissen wir; in nichts ist unsre Phantasie behindert; keine Tatsächlichkeit stellt uns vor eine Unmöglichkeit oder Unwahrscheinlichkeit. Nicht die geringste Nachricht, daß seine Frau und die Kinder je in London gewesen wären. Dagegen wissen wir, daß Shakespeares Beziehungen zu Stratford nie abbrachen, daß er früh begann, dort Grundstücke zu erwerben. In den Sonetten sehen wir ihn manchmal -- schwermütig die Trennung vom Freund beklagend -- über Land reiten. 1592 erscheint Heinrich VI., erster Teil auf der Bühne, 1593, 94 erscheinen seine beiden Gedichtbände, von ihm selbst herausgegeben, von 1597 an ununterbrochen hintereinander im Anschluß an Aufführungen die Quartbändchen, die seine Dramen drucken. 1598 nennt ihn Meres als großen Dichter und zählt 12 seiner Stücke auf. 1599 erlangt der alte Shakespeare das Recht, ein Wappen zu führen; damit gehören er und seine Nachkommen zur ~gentry~, einer Art niedern Adels oder erhöhten Bürgertums; in den Dokumenten erscheint der Dichter-Schauspieler jetzt als William Shakespeare, „Gentleman aus Stratford“. Er erwirbt ganz ansehnliche Grundstücke in Stratford; auch ein Haus in London. 1607 heiratet seine Tochter Susanna, 24 Jahre alt, den Arzt John Hall, 1608 kommt sein Enkelkind Elisabeth zur Welt († 1670, und damit war Shakespeares Nachkommenschaft zu Ende). Von 1612 an etwa -- der Tradition zufolge -- wird Shakespeare wieder seinen Wohnsitz in Stratford gehabt haben. Januar 1616 erster Entwurf des Testaments, das dann wieder weggelegt wird. Februar heiratet, 31 Jahre alt, die Tochter Judith einen Stratforder Weinhändler. Am 25. März: Testament. Am 23. April -- nach unserm Kalender 3. Mai -- starb er. Die Grabschrift auf dem Grabstein -- ich habe sie schon erwähnt -- wird von der Tradition auf ihn selbst zurückgeführt: „Um Jesu willen, Freund, laß ab, Den Staub zu stören hier im Grab. Gesegnet der, so schont die Stein’! Verflucht, wer rührt an mein Gebein!“ Der Ton ist der übliche etwas bänkelsängerische Grabsteinton; die Stimmung entspricht den Gedanken, die wir aus den Sonetten kennen: Kümmert euch nicht um den Würmerfraß! laßt mich da drunten in Ruhe! In der Tat ist das Grab nie geöffnet worden, obwohl die Shakespeareforscher und Kuriosen immer wieder Lust dazu verspürten und die arme kranke Miß Bacon es jahrelang umkreiste und dort die Lösung des Rätsels suchte. Und nun, wo in diesen kahlen Umrissen eines Lebens so unendlich viel Platz ist, atmen wir einmal auf, denken wir einen Augenblick an den unsäglichen Reichtum von Lebendigkeit aus Zeiten und Schicksalen in den Werken dieses Dichters, hören wir eine Stimme aus einer der Tragödien. Bürger Roms, leidenschaftlich aufgepeitschte wollen wir sein, eben ist der große Cäsar ermordet worden, Antonius steht auf dem Forum über dem Leichnam und ruft in die Menge: „Seht hier dies Pergament mit Cäsars Siegel, Ich fand’s bei ihm, es ist sein letzter Wille. Vernähme nur das Volk dies Testament, * * * * * Sie gingen hin und küßten Cäsars Wunden -- --“ Wie hat dieser Shakespeare die Größe, die Gehobenheit, die Erhabenheit des gebietenden, des über seinen Tod hinaus wirkenden Mannes immer wieder gedichtet, gepriesen! Wie hat er selbst, in der großen Stimmung, wenn er zu dem Freunde sprach, hie und da immer wieder sich der Unsterblichkeit seiner Zeilen versichert! Dürften wir nicht, wenn wir das Testament William Shakespeares vernehmen sollen, irgendwie ein Vermächtnis des großen Mannes, wenn nicht an die Menschheit, nicht an sein Volk, so doch an gleichstrebende Freunde erwarten? Eine Verfügung wenigstens über seine Schriften, seine Manuskripte? Oder doch -- wir werden schon ganz bescheiden -- über die Bücher seiner Bibliothek? Aber nichts, nichts von alledem hören wir. Ich gestehe aufrichtig, es überläuft mich jedesmal kalt, wenn ich an Shakespeares Testament denke. Die Echtheit ist nie bezweifelt worden, ist wohl auch nicht zu bezweifeln, obwohl es keine saubere Reinschrift ist, sondern nur eine erste Niederschrift mit Ausstreichungen und Einfügungen von seiten des Notars (nicht Geistlichen). Von Shakespeare geschrieben ist darin nur die sehr zittrige Unterschrift. (Diese und noch ein paar Unterschriften unter Aktenstücken: das ist alles, was wir von seiner Hand haben.) Sehen wir von dem, was nicht da steht, ab, und ebenso von einer kleinen nachträglich eingeschobenen Verfügung, so hat das Testament im positiven Inhalt gar nichts Befremdliches: verfügt man über wirtschaftliche Güter, so kann es sich nur um wirtschaftliche Zweckmäßigkeit handeln. Shakespeares Besitz bestand im wesentlichen aus Liegenschaften, und wie ein Bauer oder Edelmann hatte er den Wunsch, daß diese Besitzung ungeteilt beisammen blieb. Sohn war keiner mehr da; es sollten also die Häuser in Stratford und das in London und die Grundstücke in Stratfords Umgebung alle an die älteste Tochter fallen, von da nach dem Erstgeburtsrecht an Söhne; und gibt es in dieser Linie keine Söhne mehr, an Söhne aus der Linie der zweiten Tochter Judith. Die Linien starben aber beide schon in der nächsten Generation aus. Judith wird mit 300 Pfund abgefunden, das sind nach heutigem Geldwert etwa 48 000 Mark, die allmählich in Raten unter bestimmten Bedingungen zu zahlen sind. Das bewegliche Vermögen fällt ebenfalls in der Hauptsache der ersten Tochter anheim; dafür wird eben die zweite mit Geld abgefunden. Legate werden ausgesetzt: für Shakespeares einzige noch lebende Schwester, drei Schwestersöhne; zehn Pfund für die Armen Stratfords, etwa 1600 Mark also; etliche Bekannte in Stratford; ferner die drei ehemaligen Schauspielerkollegen Richard Burbage -- der die größten Gestalten Shakespeares verkörperte --, John Heminge und Henry Condell -- die dann die Werke herausgaben: die erhielten je 26 Shilling 8 Pence, über 200 Mark, für Ringe, die sie zu seinem Gedächtnis tragen sollten; diese ~In-memoriam~-Ringe entsprachen einem Brauch der Zeit. In dem Entwurf, der dann Rechtskraft erlangte, ist nun ursprünglich Shakespeares Frau, die ihn um 7 Jahre überlebte, mit keiner Silbe erwähnt. Wäre sie unerwähnt geblieben, so könnten wir sagen, was die ängstlich aufs Normale bedachten Biographen sowieso stark betonen: sie war vor Not geschützt, sie hatte, woran kein Testament etwas ändern konnte, ihr gesetzliches Witwenausgedinge: ein Drittel aller Einkünfte. Schön: wer denkt an Not? Aber die Tochter Susanna und ihr Mann erhalten alle Einrichtungsgegenstände und Schmucksachen; deren Tochter Elisabeth alles Silbergeschirr; die Tochter Judith eine vergoldete Schale; Shakespeares Schwester seine sämtlichen Kleidungsstücke; seine Frau zuerst nichts und dann, in einem nachträglich eingeflickten Sätzchen -- wer es nicht weiß, würde es nie erraten -- das zweitbeste Bett. Wir wissen nichts; wissen nicht, ob die Ehe ganz zerfallen war; ob die Frau krank, ganz siech oder gar schwachsinnig war, wissen auch nicht, wie es um Geist und Gemüt William Shakespeares jetzt am Rande des Todes, am Schluß eines körperlichen Verfalls, einer Zermürbtheit, die er schon lange in sich gespürt hat, bestellt war, -- -- all das, was ich hier sage, was ich kaum anzudeuten mich getraue, -- -- all das ist möglich; wir wissen nichts. Wir wissen bloß, daß dasteht: für die Frau das zweitbeste Bett, -- und daß das der Dichter des Lear, des Hamlet, des Macbeth verfügt hat, dieses ganze Testament, und weiter nichts, kein Wort. (Die christliche Eingangsphrase und die Versicherung... bei guter Gesundheit, ohne Bedeutung.) Ist das ein Rätsel? Halte ich mein Versprechen, daß ich wahrlich dieses Rätsel nicht lösen werde, wie dieser glühendste, wildeste und innigste aller Menschen -- ich sage nicht zu viel -- alles, worin er wahrhaft lebte, abbrach und sich irgendwie ins Bürgerliche verkroch, um da mit dem Leibe, am Ende gar noch vorher mit dem Geiste zu sterben? Wir lösen es nicht, aber wir erblicken das ganze schauerliche Rätsel, wenn wir unmittelbar nach diesem bürgerlichen Geschäftstestament das geistige, das franziskanische Testament Shakespeares hören: „Seele, o arme Seele, Kern im Kot, Im sündigen, des Aufruhrs frevelmächtig! Was quälst du dich im Innern, leidest Not. Und kleidest deine Außenwände prächtig? Was wendest du bei also kurzer Pacht So große Kosten auf dein eitles Haus? Daß einst der Wurm, der Erbe solcher Pracht, Die Last auffresse? Geht dein Leib so aus? Dann wag’s, auf Kosten dieses Knechts zu leben, Und laß ihn darben, daß dein Schatz sich mehre; Für Himmelsgut sollst Erdentand du geben, Sei außen fürder arm, dein Innres nähre! Den Menschenfresser Tod, o Mensch, verzehr! Ist Tod erst tot, dann gibt’s kein Sterben mehr.“ Dieses 146. Sonett steht, in der letzten Abteilung der Sonette, mitten in der Auseinandersetzung des Dichters mit dem Weibe, mit seinem Weibe, der Art Weib, die ihm so arg zu schaffen machte. Von seiner Frau rede ich hier nicht, von der Geliebten in London, die die Frau eines andern gewesen war, der noch lebte. ~Fair is foul, and foul is fair~: schön ist wüst, und wüst ist schön -- so haben wir es von den Hexen im Macbeth gehört. Und ganz ähnlich klingt’s in dem ersten dieser Weibsonette: Schwarz soll jetzt als Schönheit gelten, soll der Erbe der Schönheit sein, denn Schönheit muß sich wie ein Bastard verstecken. Jetzt, wo jede Hand künstlich die Kräfte der Natur anwendet und das Häßliche schön macht -- ~fairing the foul~ -- jetzt lebt Schönheit in Schmach und Verbannung. Drum sind die Augen der Geliebten schwarz: sie tragen Trauer um die, die, nicht schön geboren, doch der Schönheit nicht entbehren; doch in ihrer Trauer werden sie schön, durch das Seelische, das aus ihnen spricht. Es ist zweifelnde Liebe, unwillige Liebe: der Dichter ist gespalten in Trieb und Geist: oben wohnt einer, der sich wehrt; unten treibt etwas, und es kann sich nicht frei machen. Drum analysiert er sie, zerlegt ihre Reize. Was ist denn an ihr? Und -- fast gegen seinen Willen, so klingt es, so soll es klingen, denn es ist ein Kunstwerk -- entsteht aus der kritischen Prüfung ihrer Reize das Lob der Geliebten. In lauter Skepsis ist es doch ein entzückend kecker Einfall, so zu loben: Ihre roten Lippen -- Korallen sind eigentlich röter; Schnee strahlt doch noch heller als ihre Brüste... Ich hör’ sie gern reden, aber Musik klingt doch noch schöner; eine Göttin hab’ ich zwar nie wandeln sehen, aber den Boden berührt die Geliebte immerhin: -- „Und dennoch ist mein Lieb so wohlgefügt, Wie irgendeins, von dem ein Dichter lügt.“ Aber dann kommen die so ganz andern Töne, wo er nicht mehr zweifelnd spielt, sondern ingrimmig verzweifelt, wie wenn alles Heil verspielt wäre. Da ist das 129. Sonett, das ich Ihnen, als ich von Cleopatra sprach, in Prosa mitteilte, möge es jetzt, wennschon viel verloren geht, als Dichtung erklingen. Es wirkt noch stärker und schauriger, wenn wir das wissen, daß es unmittelbar solchem Spiel folgt und wieder vorhergeht. Solch ein Spiel mit kritischer Liebe, das nicht will, aber muß, hat mancher Dichter, etwa Heine, auch getrieben; aber dann diese irdisch-höllische Liebe in so wahrhaft biblisch-gewaltigen Tönen verfluchen, das finden wir nur bei Shakespeare. Das Spielerische, das Innige des Hohen Liedes ist da, Schwarz bin ich und doch lieblich, Ihr Töchter Jerusalems -- --, aber bei Shakespeare wendet sich die ganze glühende Leidenschaftsgewalt im selben Zusammenhang ebenso von der Liebe ab wie vorher und nachher der Liebe zu. Das ist die Notwendigkeit der Natur und des Geistes, wie er sie eben in diesem Sonett erklärt: „Geübte Wollust ist des Geists Verschwendung In wüste Schmach; Wollust ist bis zur Tat Meineidig, mördrisch, blutig, voll Verblendung, Roheit, Ausschweifung, Grausamkeit, Verrat. Genossen kaum, verachtet allsogleich, Sinnlos erjagt, und wenn ihr Ziel errungen, Sinnlos gehaßt, dem gift’gen Köder gleich, Gelegt, um toll zu machen, wenn verschlungen. Toll im Begehren, toll auch im Genuß; Gehabt, erlangt, verlangend -- ohne Zaum; Im Kosten Glück, gekostet Überdruß, Im Anfang Seligkeit, nachher -- ein Traum. Das alles weiß die Welt, doch keiner flieht Den Himmel, der uns so zur Hölle zieht.“ Es muß im Ausdruck dieser Frau etwas bezaubernd Seelenvolles gewesen sein, was sich dann in ihrem Tun und Lassen nicht bewährte. Erinnern wir uns an das Bild, das er von Cleopatra, der hysterischen und eben darin zauberhaften Frau, entworfen hat; so ähnlichen Eindruck bekommen wir auch hier: „Euch Augen bin ich hold, die voll Bedauern, Derweil mich mit Verachtung quält dein Herz, In schwarzem Schleier liebend mich betrauern, Mit edlem Mitleid schauend meinen Schmerz.“ Und dann kommt die Entwicklung der äußern Handlung auch in diesem Teil: bald spielerisch, bald in wild-vezweifelndem Ausbruch hören wir von dem Verhältnis der drei Menschen zu einander: „Kannst du dich nicht mit meiner Qual bescheiden, Muß auch mein Freund ein Knecht der Knechtschaft sein?“ Und: „Er ging von mir; du hast statt Eines Zwei; Er zahlt das Spiel, und doch bin ich nicht frei.“ Und wie Antonius im Wutausbruch die zweideutige Geliebte wie eine Dirne behandelt, so hören wir auch den Sonnettendichter Shakespeare selbst seine Liebste „~the wide world’s commonplace~“, den gemeinsam-gemeinen Jedermanns-Ort schelten. Dann aber wird dieses Zwiefache, in dem jeder der drei Menschen steht, wo sie zu dreien einen Reigen, einen Totentanz bilden, in dem jeder den andern an der Hand hält, und ihre Plätze immer neu tauschen, wie programmatisch auf die Höhe des ewigen Kriegs zwischen Seele und Leib, zwischen irdischer und himmlischer Liebe gehoben: „Zwei Lieben hab’ ich, die mein Trost und Bangen, Die wie zwei Geister üben ihre Macht. Der gute Geist ein Mann in Schönheitsprangen, Ein Weib der böse, dunkel wie die Nacht. Das weiblich Böse rüstet mich zur eil’gen Verdammnis, drum entführt sie mir den guten, Und wandelt’ gern zum Teufel meinen Heil’gen, Sein Herz umbuhlend mit verruchten Gluten. Ob er verwandelt, ob er rein geblieben, Vermuten kann ich’s, kann es nicht bestimmen; Doch weil die Zwei mich nicht, nur sich noch lieben, Wird einer in des andern Hölle glimmen. Allein mein Zweifel wird sich nimmer lösen, Bis einst mein Engel flieht, versengt vom Bösen.“ Wahrhaftig, es gehört viel dazu, ein so arges, zweifelndes Trieb- und Liebeserlebnis nicht bloß mildernd und stillend zum Spiel hinabzustimmen, sondern es so, wie es hier geschieht, zur Höhe des Symbols zu erheben. Was ihm, ihm im wirklichen, persönlichen Leben das Schicksal bereitet hat, diese seine Freundschaftsliebe zu dem bestimmten hellen Mann, diese seine Brunstliebe zu der dunklen Frau, und daß nun die beiden sich zu einander, gegen einander wenden, das erlebt er als Gleichnis, mit der Düsterkeit seines Gemüts als Verheißung trostlosen Ausgangs: hat der böse Geist den guten ganz an sich gezogen, so ist sein, des Dichters Schicksal erfüllt: die böse Macht hat gesiegt. Hier empfindet er sein Leben und die Gewalten, die von außen in sein Leben eingreifen, so, wie er’s im Macbeth dargestellt hat: innen und außen -- es ist ein dämonischer Zusammenhang; wie der Träger der Wünschelrute ein metallisches Element in sich hat, das die Metalle im Erdinnern grüßt und lockt, so besteht eine geheime Kongruenz zwischen den Strömen in unserm Gemüt und den Kräften und Wesen draußen, zu denen es uns, die es zu einander von uns her hinzieht. Mehr als einmal im Lauf dieser Vorträge habe ich auf einen großen Mann des Geistes, einen Zeitgenossen und Landsmann Rembrandts, auf den spanisch-holländischen Juden Spinoza hinzuweisen gehabt, der 16 Jahre nach Shakespeares Tod geboren wurde. Was wir bei Shakespeare immer wieder als letzten Sinn der Dramen erleben, daß der Triebmensch, auch wenn er ein gebietender Fürst ist, ein Knecht, ein Sklave ist, daß der Geist aber frei macht, das haben wir jetzt eben wieder in den Sonetten gehört, in der Klage, die sich an die Wollust richtet: „Muß auch mein Freund ein Knecht der Knechtschaft sein?“ „Und doch bin ich nicht frei.“ Und so hat es Spinoza seiner Ethik zugrunde gelegt: „Die Ohnmacht des Menschen zur Mäßigung oder Hemmung seiner Affekte nenne ich Knechtschaft; denn der von seinen Affekten abhängige Mensch ist nicht Herr seiner selbst, sondern dem Schicksal untertan.“ Nicht Herr seiner selbst, sondern dem Schicksal untertan -- das Thema der großen Charaktertragödien Shakespeares. Und dann folgt bei Spinoza eine Analyse der verschiedenen Erscheinungsformen der Knechtschaft, in der kühlen Begriffssprache so unerbittlich scharf, so vollendet und letztgiltig, wie Shakespeare diese Musterkarte in seinen Dramen in lebendiger Anschaulichkeit entworfen hat. Und haben wir nicht eben als höchsten Gipfel von Shakespeares Leben, als sein Vermächtnis, zu dem er in glühenden Kämpfen kaum für seine Wirklichkeit, nur für seine Sehnsucht, für seinen Glauben gekommen ist, die Botschaft von der Überwindung des Todes gehört? Wende nichts mehr an das Außen, nichts mehr an den Leib und seine Triebe, sei außen arm, nähre deine Seele! Entringe dich, so heißt das, der Knechtschaft der Triebe, du vernünftiger, du geistiger Mensch, sei frei! Genau so hören wir’s von Spinoza, der’s nicht, wie der Phantasie- und Leidenschaftsmensch, sich mit dem Leben erarbeiten mußte, bei ihm nicht als ersehnten Gipfel glühend eruptiven Lebens, sondern als stille Höhe der Weisheit: „Der freie Mensch denkt an nichts weniger als an den Tod, und seine Weisheit besteht im Nachdenken über das Leben und nicht über den Tod.“ Das ist das Letzte und Höchste, wozu Shakespeare der Dichter gekommen ist. Das ist der Gipfel, die Krone seiner Persönlichkeit, wenn wir mit Fug und Recht als die Persönlichkeit eines Dichters, eines Künstlers nicht das nur nehmen, was äußerlich in die Welt hinein ragt, sondern was innen eine neue Welt, einen neuen Menschen schafft und in den Werken der Kunst verkörpert. Wir haben ja doch wahrlich heutigen Tags eine ganz andre biographische Neugier als Shakespeares Zeitgenossen, aber nehmen wir doch einmal ein Beispiel. Wie gräßlich unbegreiflich, was für ein widerwärtiges Rätsel wäre uns der große Vincent van Gogh in seinem persönlichen Leben, wenn wir für dieses Leben angewiesen wären auf die Berichte seiner Verwandten, Bekannten und Freunde, und auf die amtlichen Dokumente. Nur dadurch, daß wir die wundervollen Briefe dieses Mannes haben, kennen wir die heilige Glut seines reinen Innern; außen in dieser unsrer Welt wurde das Schöne wüst; gehen wir in ihn hinein, so wird das Wüste schön, wie in seinen Bildern. Und dasselbe gilt für Courbet, dasselbe für Verlaine, für Oscar Wilde, für so viele andre, für alle, die das Reine, das Hohe, das Göttliche nicht in der Ruhe des Denkens, sondern in der Glut der Gesichte, der Gestalten, des Lebens suchen mußten, die es sich erarbeiten mußten, indem sie sich durch das Leben, durch alle Triebe durcharbeiten mußten. Nicht wie eine Spinne im Netz konnte Shakespeare in Stille verweilen, bis ein Gewalträcher seiner Natur wie Richard III., ein adliger Wutmensch wie Othello, ein junger, stechender, unerbittlicher Umklammerer wie Jago, ein finsterer, nur auf Eines starrender, von Einem gebannter Machtmensch wie Macbeth, eine universell tändelnde, amoralische, berückende, geniale Machtnatur wie Antonius, bis all diese all-alle Männer- und Frauen-, Greisen- und Mädchengestalten in seinem Netz hängen blieben. Ich glaube nicht, daß er viel nach Modellen arbeiten konnte, die er kühl, unbeteiligt beobachtete; denn er entdeckte so bis ins letzte und tiefste ihre innerste, verräterische Wurzel, daß wir notwendig annehmen müssen: mit den Menschen, die er so kannte, hat er gelebt, mit ihnen hat er erlebt: die Phantasie, die ihm half, war glühendes Hineinbohren, gleichviel, ob Liebe oder Haß oder gar wohl auch einmal Neid: er hat sich so in ihre Seele, in ihre Lage versetzt, daß er lebte, als wenn er sie wäre. Wer das kann, wer das muß, -- nun, wundern wir uns nicht mehr, daß William Shakespeare, der Schauspieler, der Dramatiker, der Künstler in seinen Sonetten sich der Schmach und Sünde anklagt: wer so inständig Glut der Seelen und Flammen der lodernden Leidenschaft miterlebte, nacherlebte, vorerlebte, der war mehr als einmal, in Gedanken, in Wünschen, im Spiel, in Wirklichkeit, gleichviel, ein Verbrecher. Wilde, flammende, zehrende, vernichtende Leidenschaft, gebändigt durch Form, die Beschränkung und Verklärung ist, das war sein Wesen, das war sein Weg. Die Sonette sind die Briefe Shakespeares, die uns erhalten geblieben sind; Briefe nur an einen oder zwei bestimmte Adressaten, Briefe auch, die keine bloß persönlichen Dokumente, die Kunstwerke sind, aber von hier aus dringen wir in die Seele des Menschen, hier ist der Punkt, wo die Werke, die Dramen sich mit dem Menschen, mit der Persönlichkeit zu einem verbinden. Könige aller Sorten; Mörder, Säufer, Beutelschneider, Tunichtgute, Bordellwirte, -- sie alle haben uns keine Geständnisse gemacht, wie tief sie Shakespeare durchschaut hat. Wollen wir für dieses sein unbegreifliches, nie so erreichtes Talent, sich in Lagen, Tätigkeiten, Berufe bis ins einzelne zu versetzen, Zeugnisse haben, so müssen wir uns in ungefährlicheres Fahrwasser begeben. Niemals, in der weiten Welt, im Lauf aller uns bekannten Zeiten ist ein Dichter so einhellig von den Fachmännern bewundert worden wie Shakespeare: Die Juristen, besonders die Advokaten, die Jäger, besonders die von der Falkenbeize, die Ärzte, besonders die Irrenärzte, sagen, er müsse irgendwann in seinem Leben einmal einer der ihren gewesen sein. Zoologen, besonders Entomologen, Botaniker, Gärtner, Navigationskundige, Musiker, Maler, Buchdrucker, Physiologen, alle haben sie spezielle Bücher geschrieben, in denen sie aufzeigen, wie erstaunlich viel Shakespeare von ihrem Fach verstanden habe, und wie weit er darin seiner Zeit voraus gewesen sei. Er hat geologische Anschauungen geäußert, ehe es eine Wissenschaft der Geologie gab; er hat die Lehre von der Blutzirkulation gekannt, die Harvey erst bekanntgab, als Shakespeares Blut nicht mehr zirkulierte; er, der sich nichts draus machte, in Märchenstücken alle Zeiten und Kulturen durcheinanderzubringen und ein Nirgendwo am Meeresstrand Böhmen zu nennen, hat Verhältnisse und einzelne Umstände in Oberitalien so genau gekannt, daß manche Gelehrte drauf schwören, er müsse dort gewesen sein. Das, diese Kenntnisse, die Shakespeare an den Tag legt, bringt ja die Baconianer hauptsächlich dazu, einen Mann der Wissenschaft hinter dem Dichter zu suchen. Wie wenig ahnen sie von der Differenzierung des Geistes! Dieser Bacon, der noch nicht einmal das kleinste Gedicht zurechtstümpern konnte, war ein echter Mann der Forschung, der Kritik, der wissenschaftlichen und denkerischen Sprache. Shakespeares Wissen war völlig andrer Art; war immer mit Anschauung, immer mit Intuition, immer mit einer bestimmten Lebenssphäre verbunden, die es zu gestalten galt. Hätte ihm einer die Aufgabe gestellt, eine botanische Abhandlung über die Flora von Warwickshire oder eine über das Leben der Bienen zu schreiben, er hätte es keineswegs gekonnt oder, wenn’s hätte sein müssen, wäre es ganz armselig geworden. Im Zusammenhang aber von Erlebnissen, in Gemeinschaft mit Gefühlen und Leidenschaften strömten ihm als Gleichnisse die Erinnerungen zu, und verstand er es überdies, sich all das aus Büchern, aus Gesprächen, aus der Umschau, in der freien Natur und im Handwerk zu holen, was er im Zusammenhang seines Schaffens, seiner bestimmten Zwecke brauchte. Wenn etwas gewiß ist, so gerade das, daß Shakespeare gar nichts Lehrhaftes an sich hatte, daß es ihm nie auf die Verbreitung oder auch nur Behauptung einer Ansicht ankam; jede Anschauung, die er äußerte, stand immer im Zusammenhang mit einer bestimmten Seite des Menschenwesens, mit bestimmtem Erleben eines Charakters. Und so bleiben uns diese wissenschaftlichen, all diese Erkenntnis- und Beobachtungsäußerungen auch nur im Gedächtnis im Zusammenhang mit Gefühlen, Repliken, Ausbrüchen; wir empfinden es als völlig unshakespearisch, wenn die Gelehrten solche Äußerungen jede für sich aus ihrem Gefüge lösen und zusammenstellen. Auch Homer, den man am ehesten mit Shakespeare in einem Atem nennen darf, hat sich auf Wagenbau, auf Tischlerei, auf Waffenhandwerk, aufs Schmiedehandwerk, auf Obstbau, auf Schiffahrt, auf Schweinezucht trefflich verstanden, -- aber noch niemand ist auf die Idee gekommen, der Dichter Homer müsse mit dem Mann der Wissenschaft Pythagoras identisch sein. Bei ihm ist’s auch nicht nötig; er hat das Glück, daß man von seinem Leben gar nichts weiß; er lebt nur in seinen Gedichten. William Shakespeare wollte ich im ersten dieser Vorträge weniger in seine Zeit hineinstellen, als in seiner fast schreckhaft-starken Vereinzelung von seiner Zeit abheben; siebzehnmal habe ich dann in seine Werke geführt, und in Liebestragödien, in Liebesspielen, in Machthabertragödien haben wir seine Persönlichkeit gefunden, nie einseitig in einer Gestalt ausgeprägt, vielmehr immer allseitig, immer beidseitig, immer das Tier und die Hoheit, den Trieb und die Vernunft, den Mann der Gier und die adlige Frau, und das verderbliche Weib und den seelenvollen Mann, alle in ihrem Recht, der Ritterkönig und Falstaff, der herrliche Hektor und der gemein zausende, geifernd kritische Thersites; nie einer ein Typus bloß, immer ein einmaliger, ganz individueller Vertreter dieses Typischen. Im 19. der Vorträge habe ich Sie dann von den Werken, von der Sonettendichtung zur Person Shakespeare, heute aber schnell und fast scheu von der Person zurück den Weg zur Persönlichkeit führen wollen, wie sie sich in den Dichtungen offenbart. Ich für meine Person habe es in diesen Vorträgen wohl nicht immer vermieden, persönlich zu sein; und der furchtbare und für die Menschheit vielleicht entscheidend wichtige Zeitabschnitt, in dem wir stehen, hat, ich fühle es selbst, auf meine Art, Shakespeare zu sehen, bestimmend eingewirkt. Der Weg vom Trieb zum Geist hinauf, Shakespeares schwerer und gefahrvoller Weg ist auch der Weg vom Krieg zum Frieden, vom Tod zum Leben, -- ich glaube es, gleichviel, wie lang und gewunden dieser Weg noch sein mag. _Ende_ End of Project Gutenberg's Shakespeare (Volume 2 of 2), by Gustav Landauer *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 52013 ***