*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 45163 *** Anmerkungen zur Transkription ############################# Kursiv gesetzer Text wird zwischen Unterstrichen (_) dargestellt; gesperrter Text steht zwischen Rautensymbolen (#). Die folgenden offensichtlichen Fehler wurden im Text korrigiert: # S. 70: "Sterben" --> "Streben" # S. 189: "... zu unserem persönlichen Wesen kommen. so finden wir ..." Satzpunkt wurde durch Komma ersetzt. # S. 199: nach "befreit." Anführungzeichen («) wurde ergänzt. # S. 218: "Wagschale" --> "Waagschale" Dieser Text enthält eine Reihe von Zitaten, die in Sanskrit abgefasst und in lateinischer Transliteration mit Hilfe diakritischer Zeichen dargestellt werden. Sollte Ihr Text-Editor bzw. Ihre Textverarbeitungssoftware diese Zeichen nicht sinnvoll anzeigen, ist es notwendig, eine Unicode-fähige Schrift zu verwenden. Das Sanskrit-Zitat auf S. 197 wurde wie im ursprünglichen Text wiedergegeben. Das Originalzitat nach http://fiindolo.sub.uni-goettingen.de/gretil/1_sanskr/1_veda/1_sam/1_rv/rvpp_05u.htm lautet: "viśvā ni deva savitaḥ duḥ-itāni parā suva yat bhadram tat naḥ ā suva" RABINDRANATH TAGORE PERSÖNLICHKEIT MÜNCHEN KURT WOLFF VERLAG Einzig autorisierte deutsche Ausgabe. Nach der von Rabindranath Tagore selbst veranstalteten englischen Ausgabe ins Deutsche übertragen von Helene Meyer-Franck 1.-40. Tausend Copyright 1921 by Kurt Wolff Verlag A.-G. in München C. F. ANDREWS GEWIDMET * INHALT WAS IST KUNST? 1 DIE WELT DER PERSÖNLICHKEIT 49 DIE WIEDERGEBURT 94 MEINE SCHULE 134 RELIGIÖSE BETRACHTUNG 182 DIE FRAU PERSÖNLICHKEIT WAS IST KUNST? Wir stehen dieser großen Welt Auge in Auge gegenüber, und mannigfach sind unsre Beziehungen zu ihr. Eine derselben ist die Notwendigkeit zu leben: wir müssen den Boden beackern, uns Nahrung suchen, uns kleiden, und zu allem muß uns die Natur den Stoff liefern. Da wir unausgesetzt bemüht sein müssen, unsre Bedürfnisse zu befriedigen, sind wir in beständiger Berührung mit der Natur. So halten Hunger und Durst und all unsre physischen Bedürfnisse die stete Beziehung zu dieser großen Welt aufrecht. Aber wir haben auch einen Geist, und dieser Geist sucht sich seine eigene Nahrung. Auch er hat seine Bedürfnisse. Er muß den Sinn der Dinge finden. Er steht einer Vielfältigkeit von Tatsachen gegenüber und ist verwirrt, wenn er kein einheitliches Prinzip finden kann, das die Verschiedenartigkeit der Dinge vereinfacht. Der Mensch ist so veranlagt, daß er sich nicht mit Tatsachen begnügen kann, sondern gewisse Gesetze finden muß, die ihm die Last der bloßen Zahl und Menge erleichtern. Doch es ist noch ein drittes Ich in mir neben dem physischen und geistigen, das seelische Ich. Dies Ich hat seine Neigungen und Abneigungen und sucht etwas, das sein Bedürfnis nach Liebe erfüllt. Dies seelische Ich gehört der Sphäre an, wo wir frei sind von aller Notwendigkeit, wo die Bedürfnisse des Körpers und des Geistes keinen Einfluß haben, wo nach Nutzen oder Zweck nicht gefragt wird. Dies seelische Ich ist das Höchste im Menschen. Es hat seine eigenen persönlichen Beziehungen zu der großen Welt und sucht persönliche Befriedigung in ihr. Die Welt der Naturwissenschaft ist nicht eine Welt der Wirklichkeit, sondern eine abstrakte Welt der Kräfte. Wir können sie uns mit Hilfe unsres Verstandes zunutze machen, aber wir können sie nicht mit unsrer Seele erfassen. Sie gleicht einer Schar von Handwerkern, die, wenn sie auch Dinge für uns als persönliche Wesen herstellen, doch bloße Schatten für uns sind. Aber es gibt noch eine andre Welt, die Wirklichkeit für uns hat. Wir sehen sie, wir fühlen sie, wir nehmen mit all unsern Empfindungen an ihr teil. Doch wir können sie nicht erklären und messen, und daher bleibt sie uns ewig geheimnisvoll. Wir können nur in freudigem Erkennen sagen: »Da bist du ja.« Dies ist die Welt, von der die Naturwissenschaft sich abwendet, und in der die Kunst ihren Sitz hat. Und wenn es uns gelingt, die Frage, was Kunst ist, zu beantworten, so werden wir auch wissen, was für eine Welt es ist, mit der die Kunst so nahe verwandt ist. Es ist an sich keine wichtige Frage. Denn die Kunst wächst wie das Leben selbst aus eigenem Antrieb, und der Mensch freut sich an ihr, ohne daß er sich genau klar macht, was sie ist. Und wir könnten diese Frage ruhig im Untergrunde des Bewußtseins schlummern lassen, wo alles Lebendige im Dunkel gehegt und genährt wird. Aber wir leben in einem Zeitalter, wo unsre Welt um und um gekehrt und alles, was auf dem Grunde verborgen lag, an die Oberfläche gezerrt wird. Selbst den Vorgang des Lebens, der ganz unbewußt ist, bringen wir unter das Seziermesser der Wissenschaft, -- auf Kosten des Lebens selbst, das wir durch unsre Untersuchung in ein totes Museumsexemplar verwandeln. Die Frage »Was ist Kunst?« ist oft aufgeworfen und auf verschiedene Weise beantwortet worden. Solche Erörterungen bringen immer etwas von bewußter Absicht in ein Gebiet hinein, wo sowohl das Schaffen wie das Genießen spontan und nur halb bewußt ist. Sie gehen darauf aus, unser Kunsturteil mit ganz bestimmten Maßstäben zu versehen. Und so hören wir heutzutage Kunstrichter nach selbstgefertigten Regeln ihr vernichtendes Urteil fällen über das, was seit Jahrhunderten als groß und unsterblich anerkannt wurde. Diese meteorologische Störung in der Sphäre der Kunstkritik, die ihren Ursprung im Abendlande hat, ist auch an unsre Küste nach Bengalen gekommen und trübt unsern klaren Himmel mit Nebel und Wolken. Auch wir haben angefangen, uns zu fragen, ob Schöpfungen der Kunst nicht danach beurteilt werden sollten, entweder wie weit sie geeignet sind allgemein verstanden zu werden, oder was für eine Lebensphilosophie sie enthalten, oder wieviel sie zur Lösung der großen Zeitprobleme beitragen, oder ob sie etwas zum Ausdruck bringen, was dem Geist des Volkes, dem der Dichter angehört, eigentümlich ist. Wenn also die Menschen allen Ernstes dabei sind, für die Kunst Normen und Maßstäbe aufzustellen, die gar nicht zu ihrem Wesen gehören, wenn man sozusagen die Herrlichkeit eines Flusses von dem Gesichtspunkt des Kanals aus beurteilt, können wir die Frage nicht auf sich beruhen lassen, sondern müssen uns in die Debatte einmischen. Sollten wir zunächst versuchen, den Begriff »Kunst« zu definieren? Aber wenn man lebendige Dinge zu definieren sucht, so heißt dies im Grunde, daß man sein Gesichtsfeld einengt, um deutlicher sehen zu können. Und Deutlichkeit ist nicht ohne weiteres die einzige oder wichtigste Seite bei der Wahrheit. Die Blendlaterne gibt uns ein deutliches, aber nicht ein vollständiges Bild. Wenn wir ein Rad in Bewegung kennen lernen sollen, so macht es nichts, wenn wir die Speichen nicht zählen können. Wenn es nicht auf die Genauigkeit seiner Form, sondern auf die Schnelligkeit seiner Bewegung ankommt, so müssen wir uns mit einem etwas undeutlichen Bilde des Rades begnügen. Lebendige Dinge sind eng verwachsen mit ihrer Umgebung und ihre Wurzeln reichen oft tief hinab in den Boden. Wir können in unserm Erkenntniseifer die Wurzeln und Zweige eines Baumes abhauen und ihn in einen Holzklotz verwandeln, der sich leichter von Klasse zu Klasse rollen und in einem Lehrbuch darstellen läßt. Aber man kann doch nicht sagen, daß solch ein Holzklotz, weil er nackt und deutlich vor aller Augen liegt, vom Baum als Ganzem ein richtigeres Bild gäbe. Daher will ich nicht versuchen, den Begriff der Kunst zu definieren, sondern ich will nach dem Grunde ihres Daseins fragen und herauszufinden suchen, ob sie um irgendeines sozialen Zweckes willen da ist, oder um uns ästhetischen Genuß zu verschaffen, oder ob sie entstanden ist aus dem Bedürfnis, unser eigenes Wesen zum Ausdruck zu bringen. Man hat sich lange um das Wort »L'art pour l'art« gestritten, das bei einem Teil der abendländischen Kritiker in Mißkredit gekommen ist. Es ist ein Zeichen, daß das asketische Ideal des puritanischen Zeitalters wiederkehrt, wo Genuß als Selbstzweck für sündhaft gehalten wurde. Aber jeder Puritanismus ist eine Reaktion. Er kann die Wahrheit nicht mit unbefangenem Auge und daher nicht in ihrer wahren Gestalt sehen. Wenn der Genuß die unmittelbare Berührung mit dem Leben verliert und in der Welt seiner künstlich und mühsam ausgearbeiteten Konventionen immer wählerischer und phantastischer wird, dann kommt der Ruf nach Entsagung, die das Glück selbst als eine Schlinge des Verderbens von sich weist. Ich will mich nicht auf die Geschichte der modernen Kunst einlassen, ich fühle mich hierzu durchaus nicht kompetent, doch ich kann als allgemeine Wahrheit behaupten: wenn der Mensch seinen Trieb nach Freude zu unterdrücken sucht und ihn in einen bloßen Trieb nach Erkenntnis oder Wohltun umwandelt, so muß der Grund darin liegen, daß seine Freudefähigkeit ihre natürliche Frische und Gesundheit verloren hat. Die Ästhetiker im alten Indien trugen kein Bedenken zu sagen, daß Freude, selbstlose Freude, die Seele der Dichtkunst sei. Aber das Wort »Freude« muß richtig verstanden werden. Wenn wir es analysieren, so zeigt uns sein Spektrum eine unendliche Reihe von Streifen, deren Farbe und Intensität je nach den verschiedenen Welten unendlich verschieden ist. Die Welt der Kunst enthält Elemente, die ganz offenbar nur ihr angehören und Strahlen aussenden, die ihre besondere Leuchtkraft und Eigentümlichkeit haben. Es ist unsre Pflicht, sie zu unterscheiden und ihrem Ursprung und Wachstum nachzugehen. Der wichtigste Unterschied zwischen dem Tier und dem Menschen ist der, daß das Tier fast ganz in den Schranken seiner Bedürfnisse eingeschlossen ist, da der größte Teil seiner Tätigkeit zur Selbsterhaltung und zur Erhaltung der Gattung nötig ist. Es hat, wie der Kleinhändler, keinen großen Gewinn auf dem Markt des Lebens, sondern die Hauptmasse seiner Einnahme muß als Zins auf die Bank gezahlt werden. Es braucht den größten Teil seiner Mittel nur, um sein Dasein zu fristen. Aber der Mensch ist auf dem Markte des Lebens ein Großkaufmann. Er verdient sehr viel mehr, als er unbedingt ausgeben muß. Daher hat das Leben des Menschen ein ungeheures Übermaß von Reichtum, das ihm die Freiheit gibt, Verantwortung und Nutzen in weitem Maße außer acht zu lassen. An den Bereich seiner Bedürfnisse schließen sich noch weite Gebiete, deren Gegenstände ihm Selbstzweck sind. Die Tiere brauchen bestimmte Kenntnisse, die sie für ihre Lebenszwecke anwenden müssen. Aber damit begnügen sie sich auch. Sie müssen ihre Umgebung kennen, um Obdach und Nahrung finden zu können, sie müssen die Eigentümlichkeiten bestimmter Dinge kennen, um sich Wohnungen bauen zu können, die Anzeichen der verschiedenen Jahreszeiten, um sich dem Wechsel anpassen zu können. Auch der Mensch braucht bestimmte Kenntnisse, um leben zu können. Aber der Mensch hat einen Überschuß, von dem er stolz behaupten kann: das Wissen ist um des Wissens willen da. Dies Wissen gewährt ihm reine Freude, denn es ist Freiheit. Dieser Überschuß ist der Fonds, von dem seine Wissenschaft und Philosophie lebt. Wiederum hat auch das Tier ein gewisses Maß von Altruismus: den Altruismus der Elternschaft, den Altruismus der Herde und des Bienenstocks. Dieser Altruismus ist unbedingt nötig zur Erhaltung der Gattung. Aber der Mensch hat mehr. Zwar muß auch er gut sein, weil es für die Gattung nötig ist, aber er geht weit darüber hinaus. Seine Güte ist nicht eine magere Kost, die nur gerade genügt, um sein sittliches Dasein kümmerlich zu fristen. Er kann mit vollem Recht sagen, daß er das Gute um des Guten willen tut. Und auf diesem Reichtum an Güte, -- die die Ehrlichkeit nicht darum schätzt, weil sie die beste Politik ist, sondern weil sie mehr wert ist als Politik und es sich leisten kann, aller Politik Trotz zu bieten -- auf diesen Reichtum an Güte gründet sich die Sittlichkeit des Menschen. Auch die Idee »L'art pour l'art« hat ihren Ursprung in dieser Region des Überflusses. Wir wollen daher versuchen festzustellen, welche Tätigkeit es ist, aus deren Überschuß die Kunst entsprießt. Für den Menschen wie für die Tiere ist es ein Bedürfnis, ihre Gefühle der Lust und Unlust, der Furcht, des Zorns und der Liebe zum Ausdruck zu bringen. Bei den Tieren gehen diese Gefühlsausdrücke wenig über die Grenzen der Nützlichkeit hinaus. Aber wenn sie auch beim Menschen noch in ihrem ursprünglichen Zweck ihre Wurzel haben, so sind sie doch aus ihrem Boden hoch in die Luft emporgewachsen und breiten ihre Zweige nach allen Richtungen weit in den unendlichen Himmel. Der Mensch hat einen Vorrat an Gefühlskraft, den er für seine Selbsterhaltung nicht verbraucht. Dieser Überschuß sucht seinen Ausfluß in der Kunstschöpfung, denn die Kultur des Menschen baut sich auf seinem Überfluß auf. Der Krieger begnügt sich nicht mit dem Kampf, zu dem ihn die Notwendigkeit zwingt, er hat auch das Bedürfnis, seinem gesteigerten Kriegerbewußtsein durch Musik und Schmuck Ausdruck zu geben, was nicht nur nicht notwendig, sondern unter Umständen geradezu selbstmörderisch ist. Ein Mensch von starker Religiosität verehrt seine Gottheit nicht nur mit aller Andacht, sondern sein religiöses Gefühl verlangt nach Ausdruck in der Pracht des Tempels und in dem reichen Zeremoniell des Gottesdienstes. Wenn in unserm Herzen ein Gefühl erregt wird, das weit hinausgeht über das, was der Gegenstand, der es hervorbrachte, in sich aufnehmen kann, so schlagen seine Wogen wieder auf uns zurück und erwecken unser Bewußtsein von uns selbst. Wenn wir arm sind, ist unsre ganze Aufmerksamkeit nach außen gerichtet, auf die Gegenstände, die wir zur Stillung unsres Bedürfnisses erwerben müssen. Aber wenn unser Reichtum weit größer ist als unsre Bedürfnisse, so fällt sein Licht auf uns zurück, und wir haben das frohlockende Gefühl, daß wir reich sind. Daher kommt es, daß von allen Geschöpfen nur der Mensch sich selbst kennt, weil sein Erkenntnistrieb sich draußen nicht ausgibt und so zu ihm selbst zurückkehrt. Er fühlt seine Persönlichkeit intensiver als andere Geschöpfe, weil seine Fähigkeit zu fühlen durch die Gegenstände außer ihm nicht erschöpft wird. Dies Bewußtsein seiner Persönlichkeit will sich zum Ausdruck bringen. Daher offenbart der Mensch in der Kunst sich selbst und nicht die Gegenstände. Diese haben ihren Platz in wissenschaftlichen Lehrbüchern, wo er selbst sich ganz verbergen muß. Ich weiß, mancher wird Anstoß daran nehmen, wenn ich das Wort Persönlichkeit gebrauche, das einen so weiten Sinn hat. Solche unbestimmten Wörter können Begriffe nicht nur verschiedenen Umfangs, sondern auch verschiedener Art umschließen. Sie sind wie Regenmäntel, die in der Halle hinter der Haustür hängen und von zerstreuten Besuchern, die kein Eigentumsrecht an sie haben, weggenommen werden können. Als Wissender ist der Mensch noch nicht völlig er selbst, durch sein bloßes Wissen offenbart er noch nicht sein Wesen. Aber als Persönlichkeit ist er ein Organismus, der von Natur die Macht hat, sich die Dinge aus seiner Umgebung auszusuchen und sich zu eigen zu machen. Er hat seine Anziehungs- und Abstoßungskraft, durch die er nicht nur Dinge um sich her anhäuft, sondern auch sein Selbst hervorbringt. Die hauptsächlichsten schöpferischen Kräfte, welche die Dinge in unser lebendiges Selbst umwandeln, sind Gefühlskräfte. Ein religiöser Mensch ist als solcher eine Persönlichkeit, aber er ist es nicht als bloßer Theologe. Sein Gefühl für das Göttliche ist schöpferisch. Aber sein bloßes Wissen um das Göttliche läßt sich nicht in sein eigenes Wesen umwandeln, weil ihm der schöpferische Funke des Gefühls fehlt. Wir wollen versuchen, uns klarzumachen, worin diese Persönlichkeit besteht und welcher Art ihre Beziehungen zur äußeren Welt sind. Diese Welt erscheint uns als eine Einheit, und nicht als ein bloßes Bündel unsichtbarer Kräfte. Dies verdankt sie, wie jeder weiß, zum großen Teil unsern eigenen Sinnen und unserm eigenen Geiste. Diese Welt der Erscheinungen ist die Welt des Menschen. Sie erhält ihre charakteristischen Züge in bezug auf Gestalt, Farbe und Bewegung durch den Umfang und die Qualitäten unsrer Wahrnehmung. Sie ist das, was unsre beschränkten Sinne eigens für uns erworben, aufgebaut und umgrenzt haben. Nicht nur die physischen und chemischen Kräfte, sondern auch die Wahrnehmungskräfte des Menschen sind die in ihr wirksamen Faktoren, denn es ist eine Welt des Menschen und nicht eine abstrakte Welt der Physik oder Metaphysik. Diese Welt, die durch die Form unsrer Wahrnehmung ihre Gestalt erhält, ist doch erst die unvollkommene Welt unsrer Sinne und unsres Verstandes. Sie kehrt als Gast bei uns ein, aber nicht als Verwandter. Erst im Bereich unsres Gefühls machen wir sie uns ganz zu eigen. Wenn unsre Liebe und unser Haß, unsre Freude und unser Schmerz, unsre Furcht und unser Staunen beständig auf sie wirken, wird sie ein Teil unsrer Persönlichkeit. Sie wächst und wandelt sich, wie wir wachsen und uns wandeln. Wir sind groß oder klein in dem Maße, wie wir sie uns einverleiben. Wenn diese Welt verschwände, so würde unsre Persönlichkeit ihren ganzen Inhalt verlieren. Unsre Empfindungen sind die Magensäfte, die diese Welt der Erscheinungen in die innere Welt der Gefühle umwandeln. Doch auch diese äußere Welt hat ihre besonderen Säfte, die ihre besonderen Eigenschaften haben, kraft deren sie unser Gefühlsleben anregen. Eine Dichtung enthält solche Säfte. Sie bringt uns Vorstellungen, die durch Gefühle Leben erhalten haben und die unsre Natur als Lebenssubstanz aufnehmen kann. Bloße Mitteilung von Tatsachen ist nicht Literatur, denn die bloßen Tatsachen hängen nicht mit unserm innern Leben zusammen. Wenn man uns immer die Tatsachen wiederholte, daß die Sonne rund, das Wasser durchsichtig und das Feuer heiß ist, so wäre dies unerträglich. Aber eine Schilderung der Schönheit des Sonnenaufgangs verliert nie ihr Interesse für uns, denn hier ist es nicht die Tatsache, sondern das Erlebnis des Sonnenaufgangs, was der Gegenstand unsres dauerndes Interesses ist. Die Upanischaden lehren, daß wir den Reichtum lieben nicht um des Reichtums willen, sondern um unsrer selbst willen. Das heißt: wir fühlen uns selbst in unserm Reichtum, und daher lieben wir ihn. Die Dinge, die unsre Gefühle erregen, erregen unser Selbst-Gefühl. Es ist, wie wenn wir die Harfensaite berühren: ist die Berührung zu schwach, so spüren wir nichts anderes als die Berührung selbst; aber wenn sie stark ist, so kehrt sie in Tönen zu uns zurück und erhöht unser Bewußtsein. Es gibt die Welt der Naturwissenschaft. Aus ihr ist alles Persönliche sorgfältig ausgeschieden. Hier sind unsre Gefühle nicht am Platze. Aber zu der großen weiten Welt der Wirklichkeit stehen wir in persönlicher Beziehung. Wir müssen sie nicht nur erkennen und dann beiseite lassen, sondern wir müssen sie fühlen, denn indem wir sie fühlen, fühlen wir uns selbst. Aber wie können wir unsre Persönlichkeit zum Ausdruck bringen, die wir nur durch unser Gefühl kennen? Ein Naturwissenschaftler kann das, was er gelernt hat, durch Analyse und Experiment bekannt machen. Aber was ein Künstler zu sagen hat, kann er nicht einfach durch lehrhafte Auseinandersetzung ausdrücken. Um zu sagen, was ich von der Rose weiß, genügt die einfachste Sprache, aber ganz anders ist es, wenn ich sagen will, was ich bei der Rose empfinde. Dies hat nichts mit äußeren Tatsachen oder Naturgesetzen zu tun, sondern ist eine Sache des Schönheitssinnes, der nur durch den Schönheitssinn wahrgenommen werden kann. Daher sagen unsre alten Meister, daß der Dichter Worte brauchen muß, die ihren eigenen Duft und ihre eigene Farbe haben, die nicht nur reden, sondern malen und singen. Denn Bilder und Lieder sind keine bloßen Tatsachen, sie sind persönliche Erlebnisse. Sie sind nicht nur sie selbst, sondern drücken auch unser Selbst aus. Sie lassen sich nicht analysieren und haben unmittelbaren Zugang zu unserm Herzen. Wir müssen allerdings zugeben, daß der Mensch auch in der Welt des Nützlichen seine Persönlichkeit offenbart. Aber hier ist Selbstoffenbarung nicht sein erster und wesentlicher Zweck. Im Alltagsleben, wo wir zumeist durch unsre Gewohnheiten bestimmt werden, sind wir sparsam damit, denn dort ist unser Seelenbewußtsein im Zustand der Ebbe; es hat eben Fülle genug, um in den Rinnen seiner Gewohnheit dahinzugleiten. Aber wenn unser Herz in Liebe oder in einem andern großen Gefühl voll erwacht, dann hat unsre Persönlichkeit ihre Flutzeit. Dann möchte sie ihr innerstes Wesen offenbaren, -- nur um der Offenbarung willen. Dann kommt die Kunst, und wir vergessen die Forderungen der Notdurft und die Vorteile der Nützlichkeit, -- dann suchen die Türme unsres Tempels die Sterne zu küssen und die Töne unsrer Musik die Tiefe des Unaussprechlichen zu ergründen. Die Energien des Menschen, die in zwei getrennten Bahnen, der des Nutzens und der der Selbstoffenbarung, nebeneinander herlaufen, haben immer das Bestreben, sich zu treffen und zu vereinen. Um unsre Gebrauchsgegenstände lagert sich nach und nach eine ganze Schicht von Gefühlen, die die Kunst einladen, sie zu offenbaren. Und so tut sich im verzierten Schwert des Kriegers sein Stolz und seine Liebe kund, und im prunkenden Weinkelch die Kameradschaftlichkeit festlicher Gelage. In der Regel zeichnet sich das Bureau des Rechtsanwalts nicht gerade durch Schönheit aus, und das ist begreiflich. Aber in einer Stadt, wo die Menschen stolz sind auf ihr Bürgertum, müssen die öffentlichen Gebäude durch ihre Bauart diesen Stolz zum Ausdruck bringen. Als der Sitz der britischen Regierung von Kalkutta nach Delhi verlegt und dies die Hauptstadt wurde, beratschlagte man über den Baustil, den die neuen Gebäude haben sollten. Einige waren für den indischen Stil der Mongolenzeit -- den Stil, der aus der Vereinigung des mongolischen und des indischen Geistes entsprungen war. Man übersah dabei die Tatsache, daß jede echte Kunst ihren Ursprung im Gefühl hat. Sowohl das mongolische Delhi wie das mongolische Agra bringen in ihren Bauten menschliche Persönlichkeit zum Ausdruck. Die Mongolenkaiser waren Menschen, nicht bloße Verwaltungsbeamte. Sie lebten und starben, liebten und kämpften in Indien. Das Andenken an ihre Herrschaft lebt nicht in Trümmern von Fabriken und Amtsgebäuden, sondern in unsterblichen Werken der Kunst, nicht nur der Baukunst, sondern auch der Malerei, der Musik, des Kunsthandwerks in Stein und Metall und der Webekunst. Aber die britische Regierung in Indien hat nichts Persönliches. Sie ist amtlich und daher abstrakt. Sie hat nichts in der wahren Sprache der Kunst auszudrücken. Denn Gesetz, mechanische Tüchtigkeit und Ausbeutung gestaltet sich nicht zu steinernen Heldengedichten. Lord Lytton[1], der zu seinem Unglück mit mehr Phantasie ausgestattet war als ein indischer Vizekönig braucht, versuchte eine der mongolischen Staatsfeierlichkeiten, die Durbar[2]-Zeremonie, nachzumachen. Aber solche Staatsfeierlichkeiten sind Kunstwerke. Sie haben ihren natürlichen Ursprung in der wechselseitigen persönlichen Beziehung zwischen dem Volk und seinem Monarchen. Wenn sie nachgemacht werden, tragen sie alle Anzeichen der Unechtheit. Wie sich Zweckmäßigkeit und Gefühl in verschiedenen Formen zum Ausdruck bringen, sehen wir, wenn wir die Kleidung des Mannes mit der der Frau vergleichen. Der Mann vermeidet im allgemeinen alles Überflüssige, was nur als Schmuck dient. Die Frau dagegen wählt von Natur das Dekorative, nicht nur in ihrer Kleidung, sondern auch in ihrem Benehmen und in ihrer ganzen Lebensart. Sie muß schön und harmonisch sein, um das zu offenbaren, was sie in Wahrheit ist, denn sie ist durch die Aufgabe, die sie in dieser Welt hat, konkreter und persönlicher als der Mann. Sie will nicht nach ihrem Nutzen gewertet werden, sondern nach der Freude, die sie gibt. Daher ist sie immer darauf bedacht, nicht ihren Beruf, sondern ihre Persönlichkeit zum Ausdruck zu bringen. Da nun der Ausdruck der Persönlichkeit und nicht der irgendeiner abstrakten oder analysierbaren Sache auch das Hauptziel der Kunst ist, so bedient sie sich mit Notwendigkeit der Sprache der Malerei und Musik. Dies hat uns zu der falschen Annahme geführt, daß die Hervorbringung von Schönheit das Ziel der Kunst sei. Doch die Schönheit ist für die Kunst nichts weiter als ein Mittel, sie ist nicht ihr ganzer und letzter Sinn. Infolgedessen hat man oft die Frage erörtert, ob nicht die Form mehr als der Stoff das wesentliche Element der Kunst sei. Mit solchen Erörterungen kommt man ebensowenig zum Ziel, als wollte man ein bodenloses Faß mit Wasser füllen. Denn man geht dabei von der Vorstellung aus, daß die Schönheit das letzte Ziel der Kunst sei, und da der Stoff an sich nicht die Eigenschaft der Schönheit haben kann, fragt man sich, ob nicht die Form der wesentliche Faktor der Kunst sei. Aber auf dem Wege der Analyse werden wir das wahre Wesen der Kunst nie entdecken. Denn das wahre Prinzip der Kunst ist das Prinzip der Einheit. Wenn wir den Nährwert gewisser Speisen wissen wollen, so müssen wir die Bestandteile, aus denen sie sich zusammensetzen, untersuchen; aber ihr Geschmackswert besteht in ihrer Einheit und läßt sich nicht analysieren. Sowohl Stoff wie Form sind Abstraktionen, die wir vornehmen; der Stoff für sich genommen fällt der naturwissenschaftlichen Betrachtung zu, die Form als solche fällt unter die Gesetze der Ästhetik. Aber wenn sie unlösbar eins sind, finden sie die Gesetze ihrer Harmonie in unsrer Persönlichkeit, die ein organischer Komplex von Stoff und Form, Gedanken und Dingen, Motiven und Handlungen ist. Daher sehen wir, daß alle abstrakten Ideen in der wahren Kunst nicht am Platze sind; um Zutritt zu gewinnen, müssen sie persönliche Gestalt annehmen. So kommt es, daß die Dichtkunst Worte zu wählen sucht, die voll von Leben sind, Worte, die nicht nur der bloßen Mitteilung dienen und durch beständigen Gebrauch abgegriffen sind, sondern in unserm Herzen Heimatrecht haben. Zum Beispiel ist das deutsche Wort »Bewußtsein« noch nicht aus seinem scholastischen Verpuppungszustand zum Schmetterlingsdasein vorgedrungen, daher kommt es in der Poesie selten vor, während das ihm entsprechende indische Wort _cetana_ lebendige Kraft hat und in der Dichtkunst ganz heimisch ist. Dagegen ist das deutsche Wort »Gefühl« von Leben durchblutet, aber das bengalische _anubhūti_ findet in der Dichtung keinen Zutritt, weil es nur Sinn, aber keinen Duft hat. Und so gibt es auch naturwissenschaftliche und philosophische Wahrheiten, die Farbe und Geschmack des Lebens gewonnen haben, und andere, die abstrakt und unpersönlich geblieben sind. Solange sie dies sind, müssen sie wie ungekochte Gemüse beim Festmahl der Kunst draußen bleiben. Solange die Geschichte sich die Naturwissenschaft zum Vorbild nimmt und sich in Abstraktionen bewegt, bleibt sie außerhalb der Domäne der Literatur. Aber wenn sie Begebenheiten darstellt, stellt sie sich dem Epos an die Seite. Denn die Darstellung von Begebenheiten bringt uns die Zeit, in der sie sich zutrugen, persönlich nahe. Durch sie wird jene Zeit für uns lebendig; wir fühlen ihren Herzschlag. Die Welt und des Menschen Persönlichkeit stehen sich Antlitz in Antlitz gegenüber wie Freunde, die ihre innersten Geheimnisse austauschen. Die Welt fragt den innern Menschen: »Freund, siehst du mich? liebst du mich? -- nicht als einen, der dir Nahrung und Genuß verschafft, nicht als einen, dessen Gesetze du entdeckt hast, sondern als persönliches Wesen?« Der Künstler antwortet: »Ja, ich sehe dich, ich kenne und liebe dich, -- nicht weil ich deiner bedarf, nicht weil ich deine Gesetze zu meinen eigenen Machtzwecken brauchen will. Ich kenne die Kräfte, die in dir wirken und treiben und die zu Macht führen, aber das ist es nicht. Ich sehe und liebe dich da, wo du mir gleich bist.« Aber wie können wir wissen, daß der Künstler dieses Welt-Ich erkannt und von Angesicht zu Angesicht geschaut hat? Wenn wir jemand zum erstenmal begegnen, der noch nicht unser Freund ist, so bemerken wir zahllose unwesentliche Züge, die beim ersten Blick unsre Aufmerksamkeit anziehen; und in dem Gewirr der verschiedenen Einzelheiten verlieren wir den, der unser Freund werden sollte. Als unser Schiff an der japanischen Küste landete, befand sich unter den Passagieren ein Japaner, der von Rangoon in die Heimat zurückkehrte, während wir andern zum erstenmal in unserm Leben diese Küste betraten. Es war ein großer Unterschied in der Art, wie wir Ausschau hielten. Wir sahen jede kleine Besonderheit, und unzählige bedeutungslose Dinge zogen unsre Aufmerksamkeit an. Aber der Japaner tauchte sogleich in die Persönlichkeit, in die Seele des Landes ein, wo seine eigene Seele Befriedigung fand. Er sah weniger Dinge als wir, aber was er sah, war die Seele Japans. Zu ihr konnte man nicht gelangen, indem man eine möglichst große Masse von Einzelheiten ins Auge faßte, sondern durch etwas Unsichtbares, das tiefer lag. Weil wir all jene unzähligen Dinge sahen, sahen wir Japan nicht besser als er, im Gegenteil, die Dinge verbauten uns das eigentliche Japan. Wenn wir jemand, der nicht Künstler ist, bitten, irgendeinen besonderen Baum zu zeichnen, so versucht er, jede Einzelheit genau wiederzugeben, aus Furcht, die Eigentümlichkeit könne sonst verloren gehen; er vergißt, daß die Eigentümlichkeit des Baumes nicht seine Persönlichkeit ist. Doch wenn der wahre Künstler kommt, so kümmert er sich nicht um die Einzelheiten und geht auf das, was wesentlich und charakteristisch für den Baum ist. Auch unser Verstand sucht für die Vielheit der Dinge ein inneres, einheitliches Prinzip; er sucht sich von den Einzelheiten zu befreien und in den Kern der Dinge einzudringen, wo sie eins sind. Aber der Unterschied ist der: der Naturwissenschaftler sucht ein unpersönliches Einheitsprinzip, das sich auf alle Dinge anwenden läßt. Er zerstört zum Beispiel den menschlichen Leib, der etwas Individuelles ist, um der Physiologie willen, die unpersönlich und allgemein ist. Aber der Künstler erkennt das Eigenartige, das Individuelle, das im Kern des Universalen ist. Wenn er den Baum ansieht, so sieht er im Baum das Einzigartige, nicht das allgemein Typische wie der Botaniker, der alles in Klassen einteilt. Es ist die Aufgabe des Künstlers, die Eigenart dieses einen Baumes darzustellen. Wie macht er das? Nicht indem er die besondere Eigentümlichkeit aufweist, die der Mißklang der Eigenart ist, sondern die Seele, die Persönlichkeit des Baumes, die Harmonie ist. Daher muß er den Zusammenklang dieses einen Dinges mit allen Dingen ringsum zum Ausdruck bringen. Die Größe und Schönheit der orientalischen, besonders der japanischen und chinesischen Kunst besteht darin, daß die Künstler diese Seele der Dinge erkannt haben und an sie glauben. Das Abendland glaubt wohl an die Seele des Menschen, aber es glaubt nicht wirklich, daß das Weltall eine Seele hat. Doch dies ist der Glaube des Morgenlandes, und alles, was der Osten der Menschheit an geistigem Gut gebracht hat, ist von dieser Idee erfüllt. Daher haben wir Bewohner des Ostens nicht das Bedürfnis, auf Einzelheiten Nachdruck zu legen, denn das Wesentliche ist für uns die Weltseele, über die unsre Weisen nachgesonnen und die unsre Künstler zum Ausdruck gebracht haben. Weil wir im Osten den Glauben an diese Weltseele haben, wissen wir, daß Wahrheit, Macht und Schönheit da zu finden sind, wo Schlichtheit ist, wo der innere Blick nicht durch Außendinge gehemmt wird. Daher haben all unsre Weisen versucht, ihr Leben einfach und rein zu gestalten, weil sie so in einer Wahrheit leben, die, wenn auch unsichtbar, doch wirklicher ist als das, was durch Umfang und Zahl sich aufdrängt. Wenn wir sagen, daß die Kunst es nur mit persönlichen Wahrheiten zu tun hat, so wollen wir damit nicht die philosophischen Ideen ausschließen, die scheinbar abstrakt sind. Sie sind ganz heimisch in unsrer indischen Dichtung, da sie mit allen Fasern unsres persönlichen Wesens verbunden sind. Ich möchte hier ein Beispiel zur Erklärung geben. Das Folgende ist die Übersetzung eines indischen Liedes, das eine Dichterin des Mittelalters gedichtet hat und das das Leben besingt. Ich grüße das Leben, das wie das keimende Saatkorn Mit dem einen Arm hinauf in das Licht, mit dem andern hinab in das Dunkel greift; Das Leben, das eins ist in seiner äußern Form und in seinem innern Saft; Das Leben, das immer wieder emportaucht und immer wieder entschwindet. Ich grüße das Leben, das kommt, und das Leben, das scheidet; Ich grüße das Leben, das sich offenbart, und das in Verborgenheit schlummert; Ich grüße das Leben, das wie der Berg in reglosem Schweigen gebannt ist, Und das Leben, das wie ein Feuermeer auftobt; Das Leben, das zart ist wie ein Lotus, und das Leben, das hart ist wie Donnerkeil. Ich grüße das Leben des Geistes, um das Licht und Dunkel sich streiten. Ich grüße das Leben, das seine Heimstatt gefunden, und das Leben, das draußen in der Fremde irrt; Das Leben, das freudejauchzend dahintanzt, und das Leben, das leidmüde seine Straße schleicht; Das ewig schaukelnde Leben, das die Welt zur Ruhe wiegt, Das tiefe, stille Leben, das hervorbricht in brausenden Wogen. Diese Idee vom Leben ist keine bloße logische Abstraktion; sie ist der Dichterin ebensosehr lebendige Wirklichkeit wie die Luft dem Vogel, der sie bei jedem Flügelschlag fühlt. Die Frau hat das Geheimnis des Lebens in ihrem Kinde tiefer gespürt, als der Mann es je gekonnt. Diese Frauennatur in der Dichterin hat gefühlt, wie überall in der Welt das Leben sich regt. Sie hat seine Unendlichkeit erkannt -- nicht auf dem Wege verstandesmäßiger Überlegung, sondern durch die Erleuchtung ihres Gefühls. Daher wird dieselbe Idee, die für den, dessen Lebensgefühl auf eine enge Sphäre beschränkt ist, bloße Abstraktion bleibt, für einen Menschen mit weitem Lebensgefühl leuchtend klare Wirklichkeit. Wir hören oft, daß die Europäer den indischen Geist als metaphysisch bezeichnen, weil er immer bereit ist, sich ins Unendliche aufzuschwingen. Aber man muß dabei bedenken, daß das Unendliche für Indien mehr ist als ein Gegenstand philosophischer Spekulation; es ist uns ebensosehr Wirklichkeit wie das Sonnenlicht. Wir können ohne es nicht leben, wir müssen es sehen und fühlen und unserm Leben einverleiben. Daher begegnen wir ihm immer wieder in der Literatur und in der Symbolik unsres Gottesdienstes. Der Dichter der Upanischad sagt: »Auch nicht das leiseste Sichregen von Leben wäre möglich, wenn nicht der Raum von unendlicher Freude erfüllt wäre[3].« Diese Allgegenwart des Unendlichen war ebenso wirklich für ihn wie die Erde unter seinen Füßen, ja sie war es noch mehr. Ein Lied eines indischen Dichters aus dem 15. Jahrhundert[4] gibt diesem Gefühl Ausdruck: Dort wechseln Leben und Tod in rhythmischem Spiel, Dort sprudelt Entzücken und strahlt der Raum von Licht, Dort ertönt die Luft von Musik, dem Liebeschor dreier Welten, Dort brennen Millionen Lampen von Sonnen und Monden, Dort schlägt die Trommel und schwingt sich die Liebe im Spiel, Dort erklingen Lieder der Minne, und Licht strömt in Schauern herab. Unsre indische Dichtung ist zum größten Teil religiös, weil Gott für uns kein ferner Gott ist. Er ist uns ebenso nahe in unserm Heim wie in unsern Tempeln. Wir fühlen seine Nähe in allen menschlichen Beziehungen der Liebe und Freundschaft, und bei unsern Festen ist er der Ehrengast. In der Blütenpracht des Frühlings, in den Gewitterschauern des Sommers, in der Früchtefülle des Herbstes sehen wir den Saum seines Mantels und hören seine Tritte. Wo immer wir wahrhaft verehren, verehren wir Ihn; wo immer wir wahrhaft lieben, lieben wir Ihn. Im Weibe, das gut ist, fühlen wir Ihn; im Mann, der wahr ist, erkennen wir Ihn; in unsern Kindern wird er immer wieder geboren, Er, das Ewige Kind. Daher sind religiöse Lieder unsre Liebeslieder, und unsre häuslichen Erlebnisse wie die Geburt eines Sohnes oder die Einkehr der Tochter aus dem Hause des Gatten ins Haus der Eltern und ihr erneutes Scheiden haben in der Dichtung symbolische Bedeutung erhalten. So erstreckt sich das Gebiet der Dichtkunst bis in die Sphäre, die in geheimnisvolles Dunkel gehüllt ist, und gibt ihr Licht und Sprache. Es gewinnt immer mehr Raum, wie der menschliche Geist auf dem Gebiete der Wahrheit. Es greift nicht nur in die Geschichte, in die Naturwissenschaft und Philosophie über, sondern auch in unser soziales Leben, in dem Maße, wie sich unser Bewußtsein weitet und unsre Umgebung liebend und verstehend umfaßt. In der klassischen Literatur der alten Zeit gab es nur Heilige, Könige und Helden. Sie warf ihr Licht nicht auf die Menschen, die im Dunkel liebten und litten. Aber wie das Licht des menschlichen Geistes seinen Schein über einen immer größeren Raum wirft und in verborgene Winkel dringt, so geht auch die Kunst über ihre Schranken hinaus und dehnt ihre Grenzen in unerforschte Gebiete aus. So verkündet die Kunst des Menschen Siegeszug über die Welt, indem sie Symbole von Schönheit aufrichtet an Orten, wo sonst keine Stimme ertönt und keine Farbe leuchtet. Sie webt ihm sein Banner, unter dem er vorwärtsschreitet im Kampf gegen Leere und Trägheit und weit und breit in Gottes Schöpfung die Rechte des Lebens geltend macht. Selbst der Geist der Wüste hat seine Verwandtschaft mit ihm anerkannt, und die einsamen Pyramiden stehen da als Denkmäler des erhabenen Schweigens, in dem sich die Natur und der menschliche Geist begegneten. Das Dunkel der Höhlen hat der Menschenseele seine Stille gegeben und ist dafür heimlich mit dem Kranz der Kunst gekrönt. Glocken läuten in Tempeln, in Dörfern und volkreichen Städten und verkünden, daß das Unendliche dem Menschen keine bloße Leere ist. Dies Sichausbreiten der menschlichen Persönlichkeit hat keine Grenze, und selbst die Märkte und Fabriken unsrer Zeit, selbst die Gefängnisse, in die man Verbrecher einsperrt, und die Schulen, in die man Kinder einsperrt, werden durch die Berührung der Kunst gemildert und verlieren etwas von ihrer unerbittlichen Lebensfeindlichkeit. Denn des Menschen Persönlichkeit ist immer bestrebt, allem, wozu sie nähere Beziehung hat, den Stempel ihres Geistes aufzudrücken. Und die Kunst ist der grüne Pflanzenwuchs, der zeigt, wie weit der Mensch sich die Wüste zu eigen gemacht hat. Wir haben schon gesagt, daß überall, wo die Beziehung unsres Herzens zur Welt über das Notwendige hinausgeht, Kunst geboren wird. Mit andern Worten: wo unsre Persönlichkeit ihren Reichtum fühlt, entfaltet sie sich in Schönheit. Was wir für unsre Bedürfnisse brauchen, wird ganz verbraucht und hinterläßt keine Spur. Was über sie hinausgeht, nimmt Gestalt an. Bloße Nützlichkeit gleicht der Hitze, sie ist dunkel. Wenn sie über sich hinausgeht, wird sie weiß und leuchtend, dann hat sie ihren Ausdruck gefunden. Nehmen wir zum Beispiel unsre Freude am Essen. Sie ist bald erschöpft, sie gibt uns keine Ahnung von dem Unendlichen. Daher hat sie, obwohl sie allgemeiner und weiter verbreitet ist als irgendeine andre Leidenschaft, im Reich der Kunst keinen Zutritt. Da geht es ihr wie dem Einwanderer an der amerikanischen Küste, wenn er mit leerem Beutel kommt. In unserm Leben haben wir eine endliche Seite, wo wir uns mit jedem Schritt ganz ausgeben, und wir haben eine andre Seite, wo unser Streben, unsre Freude und unsre Opfer unendlich sind. Diese unendliche Seite des Menschen offenbart sich in Symbolen, die etwas von dem Wesen der Unsterblichkeit haben. In ihnen sucht sie Vollendung zum Ausdruck zu bringen. Daher verschmäht sie alles, was nichtig und schwach und widersinnig ist. Sie erbaut sich zum Wohnsitz ein Paradies und wählt dazu nur solche Baustoffe, die die Vergänglichkeit des Irdischen abgestreift haben. Denn die Menschen sind Kinder des Lichts. Sobald sie sich ganz erkennen, fühlen sie ihre Unsterblichkeit. Und in dem Maße, wie sie sie fühlen, dehnen sie das Reich der Unsterblichkeit auf jedes Gebiet des menschlichen Lebens aus. Und das ist nun der Beruf der Kunst: die wahre Welt des Menschen, die lebendige Welt der Wahrheit und Schönheit, aufzubauen. Der Mensch ist ganz er selbst, wo er seine Unendlichkeit fühlt, wo er göttlich ist, und das Göttliche ist das Schöpferische in ihm. Daher ist er schöpferisch, sobald er zu seinem wahren Wesen gelangt. Er kann wahrhaft in seiner eigenen Schöpfung leben, indem er aus Gottes Welt seine eigene Welt macht. Das ist in Wahrheit sein eigener Himmel, der Himmel zur Vollendung gestalteter Ideen, mit denen er sich umgibt; wo seine Kinder geboren werden, wo sie lernen, wie sie leben und sterben, lieben und kämpfen müssen, wo sie lernen, daß das Wirkliche nicht nur das äußerlich Sichtbare ist und daß es andre Reichtümer gibt als die Schätze der Erde. Wenn der Mensch nur die Stimme hören könnte, die aus dem Herzen seiner eigenen Schöpfung aufsteigt, würde er dieselbe Botschaft vernehmen, die in alter Zeit der indische Weise verkündete: »Hört auf mich, ihr Kinder des Unsterblichen, ihr Bewohner der himmlischen Welten, ich habe den Höchsten erkannt, der als Licht von jenseits der Finsternis kommt[5].« Ja, es ist der Höchste, der sich dem Menschen offenbart hat und durch den dieses ganze Weltall für ihn mit persönlichem Leben erfüllt ist. Daher sind Indiens Pilgerstätten dort, wo unser Herz in der Vereinigung von Strom und Meer oder im ewigen Schnee der Bergesspitzen oder in der Einsamkeit des Seegestades etwas von dem Wesen des Unendlichen spürt. Dort hat der Mensch in seinen Bildnissen und Tempeln dies Wort hinterlassen: »Hört auf mich, ich habe den Höchsten erkannt.« Erforschen können wir ihn nicht, nicht in den Dingen dieser Welt, noch in ihren Gesetzen; doch wo der Himmel blau ist und das Gras grün, wo die Blume ihre Schönheit und die Frucht ihren Wohlgeschmack spendet, wo nicht nur der Wille zur Erhaltung der Gattung, sondern Freude am Leben und Liebe zu allen Wesen, Mitgefühl und Selbstverleugnung herrscht, dort offenbart sich uns der Unendliche. Dort prasseln nicht nur Tatsachen auf uns nieder, sondern wir fühlen, wie das Band persönlicher Verwandtschaft unsre Herzen ewig mit dieser Welt verbindet. Und dies ist Wirklichkeit, ist Wahrheit, die wir uns zu eigen gemacht haben, Wahrheit, die ewig eins mit dem Höchsten ist. Diese Welt, deren Seele sehnsüchtig nach Ausdruck sucht in dem endlosen Rhythmus ihrer Linien und Farben, Musik und Bewegung, in leisem Flüstern und heimlichen Winken und all den Versuchen, das Unaussprechliche ahnen zu lassen, -- diese Welt findet ihre Harmonie in dem unaufhörlichen Verlangen des menschlichen Herzens, in seinen eigenen Schöpfungen den Höchsten zu offenbaren. Dieses Verlangen macht uns verschwenderisch mit allem, was wir haben. Solange wir Reichtümer ansammeln, legen wir uns Rechenschaft ab von jedem Pfennig; wir rechnen genau und handeln sorgfältig. Aber sobald wir unserm Reichtum Ausdruck geben wollen, kennen wir keine Schranken mehr. Ja, niemand unter uns hat Reichtümer genug, um das, was wir unter Reichtum verstehen, voll zum Ausdruck zu bringen. Wenn wir versuchen, unser Leben gegen den Angriff des Feindes zu schützen, sind wir vorsichtig in unsern Bewegungen. Aber wenn wir uns getrieben fühlen, unsrer persönlichen Tapferkeit Ausdruck zu geben, so nehmen wir freiwillig Gefahren auf uns, wenn es uns auch das Leben kostet. Im Alltagsleben sind wir vorsichtig mit unsern Ausgaben, aber bei festlichen Gelegenheiten, wenn wir unsre Freude ausdrücken, sind wir so verschwenderisch, daß wir selbst über unsre Mittel hinaus gehen. Denn wenn wir uns unsrer eigenen Persönlichkeit intensiv bewußt sind, haben wir kein Auge mehr für die Tyrannei der Tatsachen. Wir sind maßvoll und zurückhaltend dem Menschen gegenüber, mit dem uns nur Klugheitsinteresse verbindet. Aber wir fühlen, daß alles, was wir haben und geben können, für die noch nicht genug ist, die wir lieben. Der Dichter sagt zu der Geliebten: »Mir ist, als sei ich vom Anfang meines Daseins an in den Anblick deiner Schönheit versunken gewesen, als hätte ich dich seit Jahrtausenden in meinen Armen gehalten, und doch ist meine Sehnsucht noch nicht gestillt.« »Die Steine möchten in Zärtlichkeit schmelzen, wenn der Saum deines Mantels sie streift.« Er fühlt, daß »seine Augen wie Vögel ausfliegen möchten, um die Geliebte zu sehen.« Vom Standpunkt der Vernunft aus sind dies Übertreibungen, aber vom Standpunkt des Herzens aus, das von den Schranken der Tatsachen befreit ist, sind sie wahr. Ist es nicht ebenso in Gottes Schöpfung? Dort sind Kraft und Stoff auch bloße Tatsachen; sie können gemessen und gewogen werden, und es wird genau Buch über sie geführt. Allein die Schönheit ist keine bloße Tatsache; sie läßt sich nicht verrechnen, sie läßt sich nicht auf ihren Wert abschätzen und verzeichnen. Sie ist Ausdruck. Tatsachen sind die Becher, die den Wein halten, er verdeckt und überrinnt sie. Die Schönheit ist unendlich in ihren Kundgebungen und überschwänglich in ihrer Sprache. Und nur die Seele, nicht die Wissenschaft, kann diese Sprache verstehen. Sie singt wie jener Dichter: »Mir ist, als sei ich vom Anfang meines Daseins an in den Anblick deiner Schönheit versunken gewesen, als hätte ich dich seit Jahrtausenden in meinen Armen gehalten, und doch ist meine Sehnsucht noch nicht gestillt.« So sehen wir, daß unsre Welt des Ausdrucks der Welt der Tatsachen nicht genau entspricht, da die Persönlichkeit nach allen Richtungen über die Tatsachen hinausgeht. Sie ist sich ihrer Unendlichkeit bewußt und schafft aus ihrem Überfluß heraus, und da in der Kunst die Dinge nach ihrem Ewigkeitswert gemessen werden, verlieren die, die im gewöhnlichen Leben wichtig sind, ihre Wirklichkeit, sobald sie auf das Piedestal der Kunst erhoben werden. Der Zeitungsbericht von irgendeinem häuslichen Ereignis im Leben eines Geschäftsmagnaten ruft vielleicht in der Gesellschaft große Aufregung hervor, doch im Reich der Kunst verliert er alle seine Bedeutung. Wenn er dort durch irgendeinen grausamen Zufall neben Keats' »Ode auf eine griechische Urne« geriete, müßte er in Scham sein Gesicht verbergen. Und doch könnte dasselbe Ereignis, wenn es in seiner Tiefe erfaßt und seiner konventionellen Oberflächlichkeit entkleidet würde, noch eher einen Platz in der Kunst finden als die Unterhandlungen über eine große chinesische Geldanleihe oder die Niederlage der britischen Diplomatie in der Türkei. Ein bloßes Familienereignis, die Eifersuchtstat eines Gatten, wie Shakespeare sie in einer seiner Tragödien schildert, hat im Reich der Kunst größeren Wert als die Kastenordnung in Manus Gesetzbuch[6] oder das Gesetz, das den Bewohner des einen Weltteils hindert, auf einem andern menschlich behandelt zu werden. Denn wenn Tatsachen nichts als die Glieder einer Kette von Tatsachen sind, weist die Kunst sie zurück. Wenn jedoch solche Gesetze und Verordnungen, wie ich sie eben erwähnte, uns in ihrer Anwendung auf einen bestimmten Menschen gezeigt werden, wenn wir die ganze Ungerechtigkeit und Grausamkeit und das ganze Elend, das sie im Gefolge haben, sehen, dann werden sie ein Gegenstand für die Kunst. Die Anordnung einer großen Schlacht mag eine wichtige Tatsache sein, aber für den Zweck der Kunst ist sie unbrauchbar. Aber was diese Schlacht einem einzelnen Soldaten bringt, der von seinen Lieben losgerissen, auf Lebenszeit verkrüppelt wird, das hat für die Kunst, die es mit der lebendigen Wirklichkeit zu tun hat, den höchsten Wert. Des Menschen soziale Welt gleicht einem Nebelsternsystem; sie besteht zum größten Teile aus abstrakten Begriffen wie: Gesellschaft, Staat, Nation, Handel, Politik und Krieg. Im dichten Nebel dieser Begriffe ist der Mensch verborgen und die Wahrheit verwischt. Die ganz unbestimmte Idee des Krieges allein schon verdeckt unserm Blick eine Menge von Elend und trübt unsern Wirklichkeitssinn. Die Nation ist schuld an Verbrechen, die uns entsetzen würden, wenn man einen Augenblick den Nebel um sie verscheuchen könnte. Die Idee Gesellschaft hat zahllose Formen von Sklaverei geschaffen, die wir nur dulden, weil sie unser Gefühl für die menschliche Persönlichkeit abgestumpft hat. Und im Namen der Religion konnten Taten verübt werden, für die die Hölle selbst nicht Strafen genug haben kann, weil sie fast den ganzen fühlenden Leib der Menschheit mit einer gefühllos machenden Kruste von Glaubensbekenntnissen und Dogmen überzogen hat. Überall in der Menschenwelt leidet die Gottheit darunter, daß die lebendige Wirklichkeit des Menschen unter der Last von Abstraktionen erstickt wird. In unsern Schulen verbirgt der Begriff Klasse die Individualität der Kinder, sie werden _nur_ Schüler. Wir empfinden es gar nicht mehr, wenn wir sehen, wie das Leben der Kinder in der Klasse erdrückt wird, wie Blumen, die man in einem Buch preßt. In der Regierung hat die Bureaukratie es nur mit Klassenbegriffen und nicht mit Menschen zu tun, und so verübt sie unbedenklich Grausamkeiten im großen. Sobald wir einen wissenschaftlichen Grundsatz wie den der »natürlichen Auslese« als Wahrheit anerkennen, verwandelt er sofort die ganze Welt der menschlichen Persönlichkeit in eine trostlose Wüste von Abstraktionen, wo alle Dinge furchtbar einfach werden, weil sie ihres Lebensgeheimnisses beraubt sind. Auf diesen weiten Nebelstrecken erschafft die Kunst ihre Sterne. Durch sie erkennen wir uns als Kinder des Unsterblichen und als Erben der himmlischen Welten. Was ist es, das dem Menschen trotz der unleugbaren Tatsache des Todes doch die Gewißheit der Unsterblichkeit gibt? Es ist weder seine physische noch seine geistige Organisation. Es ist jene innere Einheit, jenes letzte Geheimnis in ihm, das aus dem Zentrum seiner Welt nach allen Seiten ausstrahlt, das in seinem Körper und in seinem Geiste ist und doch über beide hinausgeht, das sich durch alle Dinge, die ihm gehören, offenbart und doch etwas anderes ist als sie; das seine Gegenwart füllt und die Ufer seiner Vergangenheit und Zukunft überflutet. Es ist die Persönlichkeit des Menschen, die sich ihrer unerschöpflichen Fülle bewußt ist, die den scheinbaren Widerspruch in sich trägt, daß sie mehr ist als sie selbst, mehr als von ihr sichtbar und erkennbar ist. Und dies Unendlichkeitsbewußtsein im Menschen strebt immer nach unvergänglichem Ausdruck und sucht sich die ganze Welt zu eigen zu machen. Die Werke der Kunst sind Grüße, die die menschliche Seele dem Höchsten als Antwort sendet, wenn er sich uns durch die dunkle Welt von Tatsachen hindurch in einer Welt unendlicher Schönheit offenbart. DIE WELT DER PERSÖNLICHKEIT »Die Nacht ist ein dunkles Kind, das eben vom Tag geboren ist. Millionen von Sternen stehen dicht gedrängt um seine Wiege und beobachten es, regungslos, damit es nicht aufwacht.« So will ich fortfahren, aber die Naturwissenschaft unterbricht mich lachend. Sie nimmt Anstoß an meiner Behauptung, daß die Sterne stillstehen. Doch wenn ich mich irre, so bin nicht ich schuld daran, sondern die Sterne selbst. Es ist ganz offenbar, daß sie stillstehen. Es ist eine Tatsache, die sich nicht wegdisputieren läßt. Allein die Wissenschaft hat nun einmal die Gewohnheit, zu disputieren. Sie sagt: »Wenn du meinst, daß die Sterne stillstehen, so beweist dies nur, daß du zu weit von ihnen entfernt bist.« Ich antworte prompt: »Wenn ihr sagt, daß die Sterne umherrasen, so beweist das nur, daß ihr ihnen zu nahe seid.« Die Naturwissenschaft ist erstaunt über meine Verwegenheit. Aber ich bleibe hartnäckig bei meiner Behauptung und sage, daß, wenn die Naturwissenschaft sich die Freiheit nimmt, den Standpunkt der Nähe zu wählen und den der Ferne zu mißachten, sie mich nicht tadeln darf, wenn ich den entgegengesetzten Standpunkt einnehme und die Glaubwürdigkeit der Nähe bezweifle. Die Naturwissenschaft ist unerschütterlich überzeugt, daß der Anblick aus der Nähe der zuverlässigste ist. Aber ich zweifle, ob sie in ihren Ansichten konsequent ist. Denn als ich sicher war, daß die Erde unter meinen Füßen flach sei, da belehrte sie mich eines Bessern, indem sie mir sagte, daß der Anblick aus der Nähe nicht das richtige Bild gäbe und daß man Abstand nehmen müsse, um zur vollkommenen Wahrheit zu gelangen. Ich will ihr gern zustimmen. Denn sehen wir nicht an uns selbst, daß wir, wenn wir unserm Ich zu nahe bleiben, es mit den Augen der Selbstsucht sehen und eine flache und isolierte Ansicht von uns gewinnen, aber wenn wir über uns hinausgehen und uns in andern sehen, so erhalten wir ein rundes und zusammenhängendes Bild, das uns unser wahres Wesen zeigt? Aber wenn die Naturwissenschaft überhaupt glaubt, daß der Abstand von den Dingen uns ein richtigeres Bild von ihnen gibt, so muß sie auch ihren Aberglauben von der Ruhelosigkeit der Sterne aufgeben. Wir Kinder der Erde gehen in die Schule der Nacht, um einen Blick auf die Welt als Ganzes zu werfen. Unser großer Meister weiß, daß wir den vollen Anblick des Weltalls ebensowenig ertragen könnten wie den Anblick der Mittagssonne. Wir müssen sie durch ein geschwärztes Glas sehen. Die gütige Natur hält das dunkle Glas der Nacht vor unsre Augen und läßt uns das Weltall aus der Ferne sehen. Und was ist es, was wir sehen? Wir sehen, daß die Welt der Sterne stillsteht. Denn wir sehen diese Sterne in ihrer Beziehung zueinander, und sie erscheinen uns wie Ketten von Diamanten um den Hals einer schweigenden Gottheit. Aber die Astronomie reißt wie ein neugieriges Kind einen einzelnen Stern von der Kette los und stellt dann fest, daß er umherrollt. Wem soll man nun glauben? Die Glaubwürdigkeit der Sternenwelt kommt nicht in Frage. Man braucht nur seine Augen aufzuheben und ihnen ins Antlitz sehen, so muß man ihnen glauben. Sie bringen keine scharfsinnigen Beweisgründe vor, und das erscheint mir immer als bester Beweis der Zuverlässigkeit. Sie geraten nicht außer sich, wenn man ihnen nicht glaubt. Aber wenn ein einzelner von diesen Sternen von der Tribüne des Weltalls heruntersteigt und der Mathematik verstohlen sein Geheimnis ins Ohr flüstert, so sehen wir, daß die Sache sich ganz anders verhält. Daher wollen wir kühn behaupten, daß beide Aussagen gleich wahr sind. Laßt uns annehmen, daß die Sterne auf der Ebene des Abstands stillstehen und auf der Ebene der Nähe sich bewegen. Auf die eine Weise angesehen, sind die Sterne in Wahrheit regungslos und auf die andere in Bewegung. Nähe und Ferne sind die Hüter zweier verschiedener Reihen von Tatsachen, aber beide sind _einer_ Wahrheit untertan. Wenn wir daher uns auf Seite der einen stellen und die andere schmähen, so verletzen wir die Wahrheit, die beide umfaßt. Von dieser Wahrheit sagt die Ischa-Upanischad[7]: »Sie bewegt sich. Sie bewegt sich nicht. Sie ist fern. Sie ist nahe.« Der Sinn ist der: Wenn wir die Wahrheit in ihren einzelnen Teilen, die uns nahe sind, verfolgen, so sehen wir sie sich bewegen. Wenn wir die Wahrheit von einem gewissen Abstand aus als Ganzes überblicken, so steht sie still. Es ist, wie wenn wir ein Buch lesen: alles in ihm ist in Bewegung, so lange wir den Inhalt von Kapitel zu Kapitel verfolgen, doch wenn wir damit fertig sind, wenn wir das ganze Buch kennen, steht es still und umfaßt zugleich alle Kapitel in ihren gegenseitigen Beziehungen. Es gibt im Geheimnis des Daseins einen Punkt, wo Gegensätze sich vereinen, wo Bewegung nicht nur Bewegung und Ruhe nicht nur Ruhe ist, wo Idee und Form, Inneres und Äußeres eins werden, wo das Unendliche endlich wird, ohne seine Unendlichkeit zu verlieren. Wenn diese Einheit aufgehoben ist, verlieren die Dinge ihr wahres Wesen. Wenn ich ein Rosenblatt durch ein Mikroskop betrachte, sehe ich es ausgedehnter als es mir gewöhnlich erscheint. Je mehr ich seine Ausdehnung vergrößere, um so unbestimmter wird es, bis es im unendlichen Raum weder ein Rosenblatt noch sonst etwas ist. Es wird erst ein Rosenblatt, wo das Unendliche in einem bestimmten Raum Endlichkeit wird. Wenn wir die Grenzen dieses Raumes weiter oder enger ziehen, so beginnt das Rosenblatt seine Wirklichkeit zu verlieren. Wie mit dem Raum, so ist es auch mit der Zeit. Wenn ich durch irgendeinen Zufall die Schnelligkeit der Zeit in bezug auf das Rosenblatt steigern könnte, indem ich, sagen wir, einen Monat in eine Minute verdichtete, während ich selbst dabei auf meiner normalen Zeitebene bliebe, so würde es mit solcher rasenden Geschwindigkeit vom Punkt des ersten Erscheinens bis zum Punkt des Verschwindens eilen, daß ich nicht imstande wäre, es wahrzunehmen. Wir können sicher sein, daß es Dinge in dieser Welt gibt, die andre Geschöpfe wahrnehmen, aber die für uns nicht da sind, da ihre Zeit der unsern nicht entspricht. Unsre Geruchsnerven halten nicht Schritt mit denen des Hundes, daher existieren viele Erscheinungen für uns gar nicht, die ein Hund als Geruch wahrnimmt. Wir hören zum Beispiel von mathematischen Wunderkindern, die in unglaublich kurzer Zeit schwierige Aufgaben ausrechnen. Ihr Geist arbeitet in bezug auf mathematische Berechnungen auf einer andern Zeitebene nicht nur als unserer, sondern auch als ihrer eigenen in den übrigen Lebensgebieten. Es ist, als ob der mathematische Teil ihres Geistes auf einem Kometen lebte, während die andern Teile Bewohner dieser Erde sind. Daher ist der Vorgang, durch den sie zu ihrem Resultat kommen, nicht nur uns unsichtbar, sondern auch sie selbst sehen ihn nicht. Es ist eine ganz bekannte Tatsache, daß unsre Träume oft in einem Zeitmaß dahinfließen, das ganz verschieden von dem unsres wachen Bewußtseins ist. Fünfzig Minuten der Sonnenuhr unsres Traumlandes sind vielleicht fünf Minuten unsrer Stubenuhr. Wenn wir von dem Terrain unsres wachen Bewußtseins aus diese Träume beobachten könnten, so würden sie wie ein Schnellzug an uns vorbeirasen. Oder wenn wir vom Fenster unsrer schnell dahinfliehenden Träume aus die langsamere Welt unsres wachen Bewußtseins beobachten könnten, so würde sie mit großer Geschwindigkeit hinter uns zurückzuweichen scheinen. Ja, wenn die Gedanken, die sich in andern Hirnen bewegen, offen vor uns lägen, so würden wir sie anders wahrnehmen als jene selbst, da unser geistiges Zeitmaß ein anderes ist. Wenn wir den Maßstab unsrer Zeitwahrnehmung nach Belieben vergrößern oder verkleinern könnten, so würden wir den Wasserfall stillstehen und den Fichtenwald wie einen grünen Niagara schnell dahinrauschen sehen. So ist es fast ein Gemeinplatz, wenn wir sagen, die Welt ist das, als was wir sie wahrnehmen. Wir bilden uns ein, unser Geist sei ein Spiegel, der mehr oder weniger genau das zurückwirft, was sich draußen ereignet. Im Gegenteil, unser Geist selbst ist der eigentliche Schöpfer. Während ich die Welt beobachte, erschaffe ich sie mir unaufhörlich selbst in Zeit und Raum. Die Ursache der Mannigfaltigkeit der Schöpfung ist, daß der Geist die verschiedenen Erscheinungen in verschiedener zeitlicher und räumlicher Einstellung wahrnimmt. Wenn er die Sterne in einem Raum sieht, den man bildlich als dicht bezeichnen könnte, so sind sie nahe beieinander und bewegungslos. Wenn er die Planeten sieht, so sieht er sie in weit geringerer Raumdichtigkeit, und da erscheinen sie weit voneinander entfernt und in Bewegung. Wenn wir die Moleküle eines Eisenstückes in einem ganz andern Raum sehen könnten, so würden wir sehen, wie sie sich bewegen. Aber da wir die Dinge in ihren bestimmten Raum- und Zeitmaßen sehen, ist Eisen für uns Eisen, Wasser ist Wasser und Wolken sind Wolken. Es ist eine ganz bekannte psychologische Tatsache, daß durch Änderung unsrer geistigen Einstellung Gegenstände ihr Wesen zu verändern scheinen; was uns angenehm war, wird uns zuwider, und umgekehrt. In einem gewissen Zustande der Verzücktheit haben die Menschen in der Kasteiung ihres Fleisches Genuß gesucht. Die außerordentlichen Leiden der Märtyrer scheinen uns übermenschlich, weil wir die geistige Haltung, unter deren Einfluß man sie ertragen, ja ersehnen kann, noch nicht an uns erfahren haben. In Indien hat man oft gesehen, daß Fakire über glühendes Eisen gingen, wenn solche Fälle auch wissenschaftlich noch nicht untersucht sind. Man kann verschiedener Meinung sein über die Wirksamkeit der Glaubensheilung, die den Einfluß des Geistes auf die Materie zeigt, aber seit den frühesten Zeiten haben Menschen an sie geglaubt und danach gehandelt. Unsre sittliche Erziehung gründet sich auf die Tatsache, daß durch unsre veränderte geistige Einstellung unsre Perspektive, ja in gewisser Hinsicht die ganze Welt eine andre wird, worin alles einen andern Wert bekommt. Daher wird das, was für einen Menschen wertvoll ist, solange er sittlich unentwickelt ist, schlimmer als wertlos für ihn, wenn er zu einer höhern Sittlichkeit gelangt. Walt Whitman zeigt in seinen Gedichten eine große Geschicklichkeit, seinen geistigen Standpunkt zu wechseln und damit seiner Welt eine neue und von der der andern Menschen verschiedene Gestalt zu geben, indem er die Verhältnisse der Dinge umordnet und ihnen dadurch eine ganz neue Bedeutung gibt. Solche Beweglichkeit des Geistes wirft alle Konventionen über den Haufen. Daher sagt er in einem seiner Gedichte: Ich höre, man macht mir den Vorwurf, ich wolle die Institutionen zerstören. Doch was sind mir Institutionen? Was habe ich mit ihnen zu schaffen, und was sollte mir ihre Zerstörung? Nur _eine_ Institution gibt es, die ich gründen will, In dir, Mannahatta, und in jeder Stadt dieser Staaten, im Binnenlande und an der Küste, In Feldern und Wäldern und auf der See, über jedem Kiel, der ihre Wasser durchschneidet; Ich will sie gründen ohne Haus, ohne Hüter und ohne Satzungen: Die Institution treuer Bruderliebe. Solide Institutionen von massivem Bau lösen sich in der Welt dieses Dichters in Dunst auf. Sie ist wie eine Welt von Röntgenstrahlen, für die manche festen Dinge als solche nicht bestehen. Dagegen hat die Bruderliebe, die in der gewöhnlichen Welt etwas Fließendes ist, wie die Wolken, die über den Himmel hinziehen ohne eine Spur zurückzulassen, in der Welt des Dichters mehr Festigkeit und Dauer als alle Institutionen. Hier sieht er die Dinge in einer Zeit, wo die Berge wie Schatten dahinschwinden und wo die Regenwolken mit ihrer scheinbaren Vergänglichkeit ewig sind. Hier erkennt er, daß die Bruderliebe wie die Wolken, die keines festen Fundamentes bedürfen, Halt und Dauer hat, ohne Haus, ohne Hüter und ohne Satzungen. Whitman steht auf einer andern Zeitebene, seine Welt fällt noch nicht in Trümmer, wenn man sie aus den Angeln hebt, weil sie seine eigene Persönlichkeit zum Zentrum hat. Alle Geschehnisse und Gestalten dieser Welt haben ihre Beziehung zu dieser zentralen schöpferischen Kraft, daher sind sie auch ganz von selbst untereinander verbunden. Seine Welt mag wohl ein Komet unter Sternen sein und ihre eigene Bewegung haben, aber sie hat auch ihre eigene Gesetzmäßigkeit durch die Zentralkraft der Persönlichkeit. Es mag eine verwegene, ja eine tolle Welt sein, deren exzentrischer Schweif eine ungeheure Bahn beschreibt, aber eine Welt ist es. Doch mit der Naturwissenschaft ist es anders. Denn sie versucht, jene zentrale Persönlichkeit ganz auszuschalten, durch die die Welt erst eine Welt wird. Die Naturwissenschaft stellt einen unpersönlichen und unveränderlichen Maßstab für Raum und Zeit auf, der nicht der Maßstab der Schöpfung ist. Daher wirkt seine Berührung so vernichtend auf die lebendige Wirklichkeit der Welt, daß sie zu einem leeren Begriff wird und ihre Dinge sich in Nichts auflösen. Denn die Welt ist etwas anderes als Atome und Moleküle oder Radioaktivität und andere Kräfte, der Diamant ist etwas anderes als Kohlenstoff, und Licht ist etwas anderes als Schwingungen des Äthers. Auf dem Wege der Auflösung und Zerstörung wird man nie zur Wahrheit der Schöpfung gelangen. Nicht nur die Welt, sondern Gott selbst wird von der Naturwissenschaft seiner Wirklichkeit entkleidet; sie unterwirft ihn im Laboratorium der Vernunft, wo jede persönliche Beziehung aufhört, einer chemischen Analyse und verkündet als Resultat, daß man nichts von ihm weiß noch wissen kann. Es ist eine bloße Tautologie, zu behaupten, daß Gott unerkennbar ist, wenn man den, der ihn allein kennt und kennen kann, die menschliche Persönlichkeit, ganz außer Betracht läßt. Es ist, als ob man von einer Speise sagte, sie sei ungenießbar, wenn niemand da ist, sie zu essen. Unsre trocknen Moralisten machen es ebenso, sie lenken unser Herz von dem Ziel seiner Sehnsucht ab. Statt uns eine Welt zu erschaffen, in der die sittlichen Ideale in ihrer natürlichen Schönheit leben, versuchen sie, unsre Welt, die wir uns, wenn auch noch so unvollkommen, selbst erbaut haben, zu verkümmern. Statt menschlicher Persönlichkeiten stellen sich moralische Grundsätze vor uns auf und zeigen uns die Dinge im Zustande der Auflösung, um zu beweisen, daß hinter ihrer Erscheinung abscheulicher Trug ist. Aber wenn man die Wahrheit ihrer äußern Erscheinung beraubt, so verliert sie damit den besten Teil ihrer Wirklichkeit. Denn die Erscheinung ist es, durch die sie zu mir in persönlicher Beziehung steht, sie ist eigens für mich da. Von dieser Erscheinung, die nur Oberfläche zu sein scheint, die aber von dem innern Wesen Botschaft bringt, sagt euer Dichter: Der erste Schritt schon brachte mir soviel Freude! Das bloße Bewußtsein, all diese Formen, die Kraft der Bewegung, Das kleinste Insekt oder Tier, die Sinne, das Schauen, die Liebe -- Was brachte der erste Schritt schon an Staunen und Freude! Ich bin noch nicht weiter gegangen und möcht' es auch kaum, Ich möchte nur immer verweilen und in ekstatischen Liedern lobpreisen! Unsre wissenschaftliche Welt ist unsre Welt des Verstandes. Sie hat ihre Größe und ihren Nutzen und ihre Reize. Wir wollen ihr gern die ihr gebührende Huldigung erweisen. Aber wenn sie sich rühmt, die wirkliche Welt erst für uns entdeckt zu haben und über alle Welten der einfältigen Geister lacht, dann erscheint sie uns wie ein Feldherr, der, durch seine Macht berauscht, den Thron seines Königs usurpiert. Denn die Welt in ihrer lebendigen Wirklichkeit ist das Reich der menschlichen Persönlichkeit und nicht des Verstandes, der, mag er noch so nützlich und groß sein, doch nicht der Mensch selbst ist. Wenn wir ein Musikstück als das, was es in Beethovens Geist war, vollkommen erkennen könnten, so könnten wir selbst jeder ein Beethoven werden. Aber weil wir sein Geheimnis nicht ergründen können, so können wir auch bezweifeln, daß etwas von Beethovens Persönlichkeit in seiner Sonate lebt, -- obgleich wir uns wohl bewußt sind, daß ihr wahrer Wert in ihrer Wirkung auf unsre eigene Persönlichkeit besteht. Doch es ist noch einfacher, diese Tatsachen zu beobachten, wenn diese Sonate auf dem Klavier gespielt wird. Wir können die schwarzen und weißen Tasten der Klaviatur zählen, die Länge der Saiten messen, die Kraft, Geschwindigkeit und Reihenfolge in den Bewegungen der Finger feststellen und dann triumphierend behaupten, dies sei Beethovens Sonate. Und nicht nur das, wir können vorhersagen, daß, wo und wann auch immer der Versuch in der beobachteten Weise wiederholt wird, auch genau dieselbe Sonate wieder ertönt. Wenn wir die Sonate nur immer von diesem Gesichtspunkt aus betrachten, so vergessen wir leicht, daß ihr Ursprung und ihr Ziel die menschliche Persönlichkeit ist und daß, wie genau und vollkommen auch die technische Ausführung sein mag, diese doch noch nicht die letzte Wirklichkeit der Musik umfaßt. Ein Spiel ist ein Spiel, sobald ein Spieler da ist, der es spielt. Natürlich hat das Spiel seine Regeln, die man kennen und beherrschen muß. Aber wenn jemand behaupten wollte, daß in diesen Regeln das wahre Wesen des Spiels läge, so müßten wir das ablehnen. Denn das Spiel ist das, was es für die Spieler bedeutet. Es wechselt seinen Charakter nach der Persönlichkeit der Spieler: für einige hat es den Zweck, ihre Gewinnsucht zu befriedigen, andern dient es zur Befriedigung ihres Ehrgeizes; einigen ist es ein Mittel, die Zeit hinzubringen, und andern ein Mittel, ihrem Hang zur Geselligkeit zu frönen; und noch andere gibt es, die ganz frei von eigennützigen Zwecken nur seine Geheimnisse studieren wollen. Und doch bleibt bei allen diesen mannigfachen Gesichtspunkten das Gesetz des Spiels immer das gleiche. Denn die Natur des wahren Seins ist die Einheit in der Mannigfaltigkeit. Und die Welt ist für uns wie solch ein Spiel, sie ist für uns alle die gleiche und doch nicht die gleiche. Die Naturwissenschaft hat es nur mit der Gleichartigkeit zu tun, mit dem Gesetz der Perspektive und Farbenzusammenstellung und nicht mit dem Gemälde --, dem Gemälde, das die Schöpfung einer Persönlichkeit ist und sich an die Persönlichkeit dessen wendet, die es sieht. Die Naturwissenschaft will aus ihrem Forschungsgebiet die schöpferische Persönlichkeit ganz ausschalten und ihre Aufmerksamkeit nur auf das Medium der Schöpfung richten. Was ist dieses Medium? Es ist das Medium der Endlichkeit, durch das der Unendliche sich uns offenbaren will. Es ist das Medium, das seine selbstauferlegten Begrenzungen darstellt, das Gesetz von Zeit und Raum, Form und Bewegung. Dies Gesetz ist die Vernunft, die allen gemeinsam ist, die Vernunft, die den endlosen Rhythmus der schöpferischen Idee leitet, wenn sie sich uns in immer wechselnden Formen offenbart. Unsre Einzelseelen sind die Saiten, die bei den Schwingungen dieser Weltseele mitschwingen und in der Musik von Raum und Zeit Antwort geben. Diese Saiten sind untereinander verschieden an Tonhöhe und Klangfarbe und sind noch nicht zur Vollkommenheit gestimmt, aber ihr Gesetz ist das Gesetz der Weltseele, des Instrumentes, auf dem der ewige Spieler seinen Schöpfungstanz spielt. Durch diese Seeleninstrumente, die wir in uns haben, sind auch wir Schöpfer. Wir schaffen nicht nur Kunst und soziale Organisationen, sondern auch uns selbst, unsre innere Natur und unsre Umgebung, deren Wesenserfüllung von ihrer Harmonie mit dem Gesetz der Weltseele abhängt. Freilich sind unsre Schöpfungen bloße Variationen der großen Weltmelodie Gottes. Wenn wir Dissonanzen hervorbringen, so müssen sie sich entweder in Wohlklang auflösen oder verstummen. Unsre Schöpferfreiheit findet ihre höchste Freude darin, daß sie ihre eigene Stimme in den Chor der Welt-Musik einfügt. Die Naturwissenschaft traut dem gesunden Verstand des Dichters nicht recht. Sie weist die paradoxe Behauptung, daß das Unendliche Endlichkeit annehme, zurück. Ich kann zu meiner Verteidigung sagen, daß diese Paradoxie viel älter ist als ich. Es ist dieselbe Paradoxie, die an der Wurzel allen Seins liegt. Sie ist ebenso geheimnisvoll und einfach zugleich wie die Tatsache, daß ich imstande bin, diese Wand wahrzunehmen, was im letzten Grunde ein unerklärliches Wunder ist. Kehren wir noch einmal zu der Ischa-Upanischad zurück, um zu hören, was der Weise über den Widerspruch des Unendlichen und des Endlichen sagt. Er sagt: »Die geraten ins Dunkel, die sich nur mit der Erkenntnis des Endlichen beschäftigen, aber die geraten in ein noch größeres Dunkel, die sich nur mit der Erkenntnis des Unendlichen beschäftigen.« Wer die Erkenntnis des Endlichen sucht um ihrer selbst willen, wird die Wahrheit nicht finden. Denn diese Erkenntnis ist ihm nur eine tote Mauer, die ihm das Drüben verbaut. Sie hilft ihm nur zu materiellem Gewinn, aber sie leuchtet ihm nicht. Sie ist wie eine Lampe ohne Licht, wie eine Geige ohne Musik. Man kann ein Buch nicht kennen lernen, wenn man es mißt und wägt und seine Seiten zählt oder sein Papier chemisch untersucht. Eine neugierige Maus kann sich in das Innere eines Klaviers hineinnagen und zwischen seinen Saiten herumstöbern, soviel sie will, der Musik kommt sie dadurch nicht näher. So machen es die, die das Endliche um seiner selbst willen suchen. Aber die Upanischad lehrt uns, daß das alleinige Streben nach Erkenntnis des Unendlichen in ein noch tieferes Dunkel führt. Denn das schlechthin Unendliche ist Leere. Jedes Endliche ist etwas. Vielleicht ist es nur ein Scheckbuch ohne Guthaben auf der Bank. Aber das schlechthin Unendliche hat weder Geld noch Scheckbuch. Wie tief das geistige Dunkel des primitiven Menschen auch sein mag, der in der Überzeugung lebt, daß jeder Apfel nach seiner Laune zu Boden fällt, es ist noch nichts gegen die Blindheit dessen, der sein Leben im Grübeln über das Gesetz der Schwere verbringt, ohne den fallenden Apfel zu sehen. Daher lehrt die Ischa-Upanischad: »Wer da weiß, daß die Erkenntnis des Endlichen und Unendlichen eins ist, überschreitet den Abgrund des Todes mit Hilfe der Erkenntnis des Endlichen und erringt Unsterblichkeit durch die Erkenntnis des Unendlichen.« Das Unendliche und das Endliche sind eins wie Lied und Gesang. Das Singen ist das Endliche, das durch beständiges Streben das Lied, das vollkommen ist, hervorbringt. Das schlechthin Unendliche ist wie Musik ohne alle bestimmten Töne und daher ohne Sinn. Das schlechthin Ewige ist Zeitlosigkeit, ein leeres Wort, das nichts sagt. Die Wirklichkeit des Ewigen umfaßt alle Zeiten. Daher heißt es in der Upanischad: »Die geraten ins Dunkel, die nur nach dem Vergänglichen streben. Aber die geraten in ein noch tieferes Dunkel, die nur nach dem Ewigen streben. Wer da weiß, daß Vergängliches und Ewiges eins sind, der überschreitet den Abgrund des Todes mit Hilfe des Vergänglichen und gewinnt Unsterblichkeit mit Hilfe des Ewigen.« Wir haben gesehen, daß die Formen der Dinge in ihrem mannigfaltigen Wechsel keine absolute Wirklichkeit haben. Ihre Wirklichkeit ist nur in unsrer Persönlichkeit. Wir haben gesehen, daß ein Berg oder ein Wasserfall etwas ganz anderes oder auch nichts mehr für uns sein würde, wenn unser Geist seine Einstellung in bezug auf Zeit und Raum änderte. Wir haben ebenfalls gesehen, daß diese relative Welt keine Welt der Willkür ist. Sie ist persönlich und allgemein zugleich. Meine Welt ist meine eigene, eine Welt meines Geistes, und doch ist sie nicht etwas ganz anderes als die Welt der andern. Sie hat also ihre Wirklichkeit nicht in meinem Einzel-Ich, sondern in einem unendlichen Ich. Wenn wir das Naturgesetz an die Stelle dieser Wirklichkeit setzen, so löst sich die ganze Welt in Abstraktionen auf; dann besteht sie nur noch aus Elementen und Kräften, Ionen und Elektronen; sie verliert ihre äußere Erscheinung, man sieht und spürt sie nicht mehr; das Welt-Drama mit der Sprache der Schönheit verstummt, die Musik schweigt, die Bühne steht im Dunkel da wie ihr eigenes Gespenst, ein wesenloser Schatten, dem der Zuschauer fehlt. Hier möchte ich wieder den Dichterpropheten Walt Whitman reden lassen: Als ich den gelehrten Astronomen hörte, Als seine Zahlen und Beweise in langen Reihen mich anstarrten, Als ich die Sternkarten und Zeichnungen nun selbst vergleichen und messen sollte, Als ich dasaß im Hörsaal und den Astronomen Mit großem Beifall seinen Vortrag halten hörte, Wie ward mir da so seltsam müde und elend zumute! Bis ich mich hinausschlich und einsam meines Weges ging, Hinaus in das geheimnisvolle Dunkel der feuchten Nacht, Und nur von Zeit zu Zeit einen stillen Blick Nach oben sandte zu den Sternen. Die Prosodie der Sterne, ihre rhythmische Bewegung, läßt sich durch Zeichnungen an der Wandtafel darstellen, aber die Poesie der Sterne liegt in der schweigenden Begegnung der Seele mit der Seele, beim Zusammenfluß von Licht und Dunkel, wo das Unendliche die Stirn des Endlichen küßt, wo wir die Musik des großen Welt-Ich von dem gewaltigen Orgelwerk der Schöpfung in endloser Harmonie erbrausen hören. Es ist vollkommen klar, daß die Welt Bewegung ist. (Das Sanskritwort für Welt bedeutet »die sich Bewegende«.) All ihre Formen sind vergänglich, aber das ist nur ihre negative Seite. Durch all ihre Wandlungen geht eine Kette von Verwandtschaft, die ewig ist. Es ist wie in einem Geschichtenbuch, ein Satz folgt auf den andern, aber das positive Element des Buches ist der Zusammenhang der Sätze in der Geschichte. Dieser Zusammenhang offenbart, daß in dem Verfasser ein persönlicher Wille wirksam ist, wodurch eine Harmonie mit der Persönlichkeit des Lesers hergestellt wird. Wenn das Buch eine Sammlung losgelöster Worte ohne Bewegung und Sinn wäre, so könnten wir es mit Recht ein Zufallsprodukt nennen, und in diesem Fall würde es in der Persönlichkeit des Lesers keinen Widerhall finden. Ebenso ist auch die Welt in all ihren Wandlungen kein flüchtiger Schein, der uns entgleitet, sondern offenbart uns gerade durch ihre Bewegung etwas, was ewig ist. Zur Offenbarung einer Idee ist Form unbedingt nötig. Aber die Idee, die unendlich ist, kann nicht in Formen ihren Ausdruck finden, die schlechthin endlich sind. Daher müssen die Formen sich beständig wandeln und bewegen, sie müssen vergehen, um das Unvergängliche zu offenbaren. Der Ausdruck als Ausdruck muß bestimmt sein, und das kann er nur in der Form; aber als Ausdruck des Unendlichen muß er zugleich unbestimmt sein, und das kann er nur in der Bewegung. Daher geht die Welt in allen ihren Gestalten immer über diese hinaus, sie zerbricht immer wieder achtlos ihre eigenen Formen, um zu sagen, daß sie ihren ganzen Sinn doch nie fassen können. Der Moralist schüttelt traurig den Kopf und sagt, daß die Welt eitel ist. Aber diese Eitelkeit ist nicht Leere, nein, diese Eitelkeit selbst schließt Wahrheit in sich. Wenn die Welt stillstände und damit endgültig würde, dann würde sie zu einem Gefängnis verwaister Tatsachen, die die Freiheit der Wahrheit verloren hätten, der Wahrheit, die unendlich ist. Daher hat der moderne Denker darin recht, daß in der Bewegung der Sinn aller Dinge liegt, weil dieser Sinn nicht gänzlich den Dingen selbst innewohnt, sondern dem, worauf sie hindeuten, wenn sie über ihre Grenzen hinauswachsen. Dies meint die Ischa-Upanischad, wenn sie sagt, daß weder das Vergängliche, noch das Ewige für sich einen Sinn hat. Erst wenn wir sie im Einklang miteinander erkennen, gelangen wir über das Vergängliche hinaus und erfassen das Ewige. Weil diese Welt die Welt unendlicher Persönlichkeit ist, ist es das Ziel unsres Lebens, uns in eine vollkommene und persönliche Beziehung zu ihr zu setzen. So lehrt die Ischa-Upanischad. Daher beginnt sie mit dem Verse: »Wisse, daß alles, was in dieser Welt lebt und webt, von der Unendlichkeit Gottes getragen wird, und genieße das, was er dir hingibt. Begehre keinen andern Besitz.« Das heißt, wir sollen erkennen, daß die Bewegungen dieser Welt nicht sinnlos und zufällig sind, sondern zu dem Willen eines höchsten Ich in Beziehung stehen. Ein bloßes Wissen um die Wahrheit ist unvollkommen, da es unpersönlich ist. Aber Freude ist persönlich, und der Gott meiner Freude ist Bewegung, Handeln, Selbsthingabe. In dieser Hingabe hat der Unendliche die Gestalt des Endlichen angenommen und ist daher Wirklichkeit geworden, so daß ich meine Freude in ihm haben kann. Im Schmelztiegel unsrer Vernunft verschwindet die Welt der Erscheinungen, und wir nennen sie Täuschung. Dies ist die negative Seite des Erlebens. Aber unsre Freude ist positiv. Eine Blume ist nichts, wenn wir sie zergliedern, aber sie ist in Wahrheit eine Blume, wenn wir uns an ihr freuen. Diese Freude ist etwas Wirkliches, weil sie etwas Persönliches ist. Und die Wahrheit kann in ihrer Vollkommenheit nur durch unsre Persönlichkeit erkannt werden. Und daher lehrt die Upanischad: »Weder Verstand noch Worte können ihn fassen. Aber wer die Freude Brahmas erkannt hat, für den gibt es keine Furcht mehr.« Das Folgende ist die Übersetzung eines andern Verses aus der Ischa-Upanischad, der von der passiven und aktiven Natur Brahmas handelt: »Er, der Fleckenlose, Körperlose, Unverwundbare, Reine, dem kein Übel anhaftet, geht in alles ein. Der Dichter, der Beherrscher des Geistes, der in allen Gestalten Lebende, aus sich selbst Geborene, spendet den endlosen Jahren vollkommene Erfüllung.« Die negative Natur Brahmas ist Ruhe, die positive ist Bewegung, die in alle Zeiten wirkt. Er ist der Dichter, dessen Instrument die Seele ist, er offenbart sich in Schranken, und diese Offenbarung hat ihren Grund nicht in irgendeinem äußern Zwange, sondern in der Überfülle seiner Freude. Daher ist er es, der durch endlose Zeiten all unser Verlangen stillen kann, indem er sich selbst hingibt. Mit dieser Erkenntnis haben wir auch den Sinn und Zweck unsres Daseins gefunden. Beständige Selbsthingabe ist die Wahrheit unsres Lebens, und je vollkommener unsre Selbsthingabe ist, um so vollkommener ist unser Leben. Wir müssen dies unser Leben in all seinen Ausdrucksformen zu einem Gedicht gestalten; es muß von unsrer Seele zeugen, die unendlich ist, und nicht nur von unserm irdischen Besitz, der keinen Sinn in sich selbst hat. Das Bewußtsein des Unendlichen in uns tut sich in der Freude kund, mit der wir uns aus der Fülle unsres Überflusses hingeben. Dann ist unser Leben ein unaufhörliches, selbstentsagendes Sichausströmen wie das Leben des Flusses. Laßt uns leben. Laßt uns die wahre Lebensfreude kosten, die Freude des Dichters, dessen Seele sich in sein Gedicht ergießt. Laßt uns unser unvergängliches Wesen in allen Dingen um uns her zum Ausdruck bringen, in der Arbeit, die wir tun, in den Dingen, die wir gebrauchen, in den Menschen, mit denen wir zu tun haben, in unsrer Freude an der Welt, die uns umgibt. Laßt unsre Seele alles um uns her mit ihrem Wesen füllen und in allen Dingen Gestalt werden und ihren Reichtum offenbaren, indem sie das hervorbringt, was der Menschheit ewig Bedürfnis ist. Dies unser Leben ist mit den Gaben des unendlichen Gebers angefüllt. Die Sterne singen ihm ihr Lied, der Morgen überströmt es täglich mit segnendem Licht, die Früchte bieten ihm ihre Süße dar, und die Erde breitet ihren Grasteppich aus, damit es darauf ruhe. So laßt seine Seele bei dieser Berührung der unendlichen Seele in den vollen Strom ihrer Musik ausbrechen. Daher sagt der Dichter der Ischa-Upanischad: »Wenn du in dieser Welt schaffst und wirkst, so solltest du wünschen, hundert Jahre zu leben. So und nicht anders soll dein Wirken sein. Laß nicht dein Werk an dir haften.« Nur wenn wir unser Leben voll leben, können wir darüber hinauswachsen. Wenn die Lebenszeit der Frucht erfüllt ist, die Zeit, wo sie im Winde tanzend und in der Sonne reifend den Saft aus dem Zweige sog, dann fühlt sie in ihrem Kern den Ruf des Jenseits und bereitet sich zu einem weiteren Leben. Aber die Weisheit des Lebens besteht in dem, was uns die Kraft gibt, es aufzugeben. Denn der Tod ist das Tor zur Unsterblichkeit. Daher heißt es: Tu deine Arbeit, aber laß nicht deine Arbeit dich festhalten. Denn die Arbeit ist nur Ausdruck deines Lebens, solange sie mit seinem Strom fließt; doch wenn sie sich festklammert, wird sie zum Hemmnis und zeugt nicht von deinem Leben, sondern nur von sich selbst. Dann ist sie wie der Sand, den der Fluß mitführt: sie hemmt den Strom deiner Seele. Die Tätigkeit der Glieder gehört zur Natur des physischen Lebens, doch wenn die Glieder sich im Krampf bewegen, so sind die Bewegungen nicht in Harmonie mit dem Leben, sondern eine Krankheit, wie eine Arbeit, die einen Menschen umklammert und seine Seele erdrosselt. Nein, wir dürfen unsre Seele nicht töten. Wir dürfen nicht vergessen, daß unser Leben das Ewige in uns zum Ausdruck bringen soll. Wenn wir unser Bewußtsein des Unendlichen entweder durch Trägheit verkümmern lassen oder durch leidenschaftliches Jagen nach vergänglichen und nichtigen Dingen ersticken, so sinken wir ins Ur-Dunkel des Gestaltlosen zurück wie die Frucht, deren Same tot ist. Das Leben ist unaufhörliche Schöpfung, es findet seinen Sinn, wenn es über sich hinaus ins Unendliche wächst. Doch wenn es stillsteht und Schätze aufhäuft und immer wieder zu sich selbst zurückkehrt, wenn es den Ausblick auf das Jenseits verloren hat, so muß es sterben. Dann wird es aus der Welt des Wachstums ausgestoßen und zerfällt mit all seiner Habe in Staub. Von solchem Leben heißt es in der Ischa-Upanischad: »Die ihre Seele töten, gehen dahin ins Dunkel der sonnenlosen Welt.« Auf die Frage: »Was ist die Seele?« gibt die Ischa-Upanischad folgende Antwort: »Sie ist das Eine, das, obgleich bewegungslos, schneller ist als der Gedanke; die Sinne können es nicht erreichen; während es stillsteht, überholt es die, die dahineilen; in ihm sind die fließenden Kräfte des Lebens enthalten.« Der Geist hat seine Schranken, die Sinnesorgane sind jedes für sich mit seinen Aufgaben beschäftigt, aber es ist ein Prinzip der Einheit in uns, das über die Gedanken des Geistes und über die Funktionen der Körperorgane hinausgeht, das in seinem gegenwärtigen Augenblick eine ganze Ewigkeit umfaßt, während durch seine Gegenwart der Lebenstrieb die Lebenskräfte immer weiterdrängt. Weil wir dies Eine in uns fühlen, das mehr ist als alles, was von ihm umfaßt wird, das im beständigen Wandel seiner Teile sich gleich bleibt, können wir nicht glauben, daß es sterben kann. Weil es eins ist, weil es mehr ist als seine Teile, weil es ein beständiges Überleben, ein beständiges Überfließen ist, fühlen wir, daß es jenseits der Schranken des Todes ist. Dies Bewußtsein der Einheit und Ganzheit über alle Schranken hinaus ist das Bewußtsein der Seele. Und von dieser Seele sagt die Ischa-Upanischad: »Sie bewegt sich, und sie bewegt sich nicht. Sie ist fern, und sie ist nah. Sie ist in allem, und sie ist außerhalb von allem.« Dies heißt, die Seele erkennen als jenseits aller Schranken des Nahen und Fernen, des Innen und Außen. Ich habe dies Wunder aller Wunder erkannt, dies Eine in mir, das das Zentrum alles wahren Seins für mich ist. Aber ich kann mit meiner Erkenntnis hier nicht stehenbleiben. Ich kann nicht sagen, daß es über alle Grenzen hinausgeht und doch von mir selbst begrenzt wird. Daher heißt es in der Ischa-Upanischad: »Wer alle Dinge in der Seele und die Seele in allen Dingen sieht, der braucht sich nicht mehr zu verbergen.« Wir sind in uns selbst verborgen, wie eine Wahrheit in den einzelnen Tatsachen verborgen ist. Wenn wir wissen, daß dies Eine in uns zugleich das Eine in allen ist, dann erst haben wir die letzte Wahrheit erkannt. Aber diese Erkenntnis von der Einheit der Seele darf kein bloßes abstraktes Wissen sein. Nicht jene negative Art des Universalismus, die weder sich selbst noch andern angehört. Nicht eine abstrakte Seele, sondern meine eigene Seele muß ich in andern erkennen. Ich muß erkennen, daß, wenn meine Seele ausschließlich mein wäre, sie noch nicht zu ihrem wahren Wesen gelangt wäre, daß aber wiederum, wenn sie nicht zuinnerst mein wäre, sie überhaupt keine Wirklichkeit hätte. Auf dem Wege der Logik wären wir niemals zu der Wahrheit gelangt, daß die Seele, die das Prinzip der Einheit in uns ist, in der Vereinigung mit andern ihre Vollendung findet. Wir haben diese Wahrheit durch die Freude, die sie gibt, erkannt. Denn unsre Freude ist, uns in andern wiederzufinden. Wenn ich liebe, mit andern Worten, wenn ich mein eigenes Wesen wahrer und reiner in andern erkenne als in mir selber, dann bin ich froh, denn das Eine in mir kommt zu seiner Verwirklichung, indem es sich mit andern vereint, und darin hat es seine Freude. Daher braucht das Prinzip der Einheit in Gott die Vielen, um die Einheit zu verwirklichen. Gott gibt sich in Liebe allen hin. Die Ischa-Upanischad sagt: »Du sollst genießen, was Gott hingibt.« Er gibt beständig hin, und ich bin voll Freude, wenn ich fühle, daß er sich selbst hingibt. Denn diese meine Freude ist die Freude der Liebe, die aus meiner Selbsthingabe an ihn entspringt. Da, wo die Upanischad uns ermahnt, diese Hingabe Gottes zu genießen, fährt sie fort: »Laß dich nicht gelüsten nach dem Besitz anderer.« Denn die Begierde hemmt die Liebe. Sie geht in einer der Wahrheit entgegengesetzten Richtung und gelangt zu der Täuschung, daß unser Ich unser letztes Ziel sei. Daher hat die Verwirklichung unsrer Seele eine sittliche und eine religiöse Seite. Das Sittliche besteht in der Übung der Selbstlosigkeit, in der Zügelung der Begierden; das Religiöse in Mitgefühl und Liebe. Beide Seiten sollten nie getrennt, sondern immer vereint geübt werden. Die Entwicklung der rein sittlichen Seite unsrer Natur führt uns zu Engherzigkeit und Härte, zu Intoleranz und Pharisäertum; die einseitige Entwicklung des Religiösen führt uns zum Schwelgen im ungezügelten Spiel der Phantasie. Indem wir dem Dichter der Upanischad soweit gefolgt sind, haben wir den Sinn alles wahren Seins gefunden: Die Endlichkeit ist die Form, in der sich der Unendliche hingibt. Die Welt ist der Ausdruck einer Persönlichkeit, ebenso wie ein Gedicht oder ein anderes Kunstwerk. Der Höchste gibt sich selbst in seiner Welt und ich mache sie zu der meinen, wie ich mir ein Gedicht zu eigen mache, indem ich mich selbst darin wiederfinde. Wenn meine eigene Persönlichkeit das Zentrum meiner Welt verläßt, so verliert diese in einem Augenblick ihr ganzes Wesen. Daraus erkenne ich, daß meine Welt nur in Beziehung zu mir existiert, und ich weiß, daß sie meinem persönlichen Ich durch ein persönliches Wesen gegeben ist. Die Naturwissenschaft kann wohl ihre Feststellungen darüber machen, wie dieses Geben vor sich geht, aber die Gabe selbst erfaßt sie nicht. Denn die Gabe ist die Seele, die sich der Seele schenkt, daher kann nur die Seele sie sich durch Freude zu eigen machen, aber nicht die Vernunft durch Logik. Daher ist es immer das sehnlichste Verlangen des Menschen gewesen, den Höchsten zu erkennen. Vom Anfang seiner Geschichte an hat der Mensch in der ganzen Schöpfung die Berührung eines persönlichen Wesens gespürt und versucht, ihm Namen und Gestalt zu geben; er hat sein Leben und das Leben seines Geschlechts mit Sagen von ihm umwoben, ihm Altäre gebaut und durch unzählige heilige Bräuche Beziehung zu ihm hergestellt. Dies Ahnen und Fühlen eines persönlichen Wesens hat dem zentrifugalen Triebe im Menschenherzen den Impuls gegeben, in einem unerschöpflichen Strom von Gegenwirkung hervorzubrechen in Liedern und Bildern und Gedichten, in Statuen und Tempeln und Festlichkeiten. Dies Gefühl war die Zentripetalkraft, die die Menschen bewog, sich in Haufen und Stämmen und Gemeindeorganisationen zusammenzuschließen. Und während der Mensch seinen Acker pflügt und seine Kleider webt, heiratet und Kinder aufzieht, sich um Reichtum abmüht und um Macht kämpft, vergißt er nicht, in Worten von feierlichem Rhythmus, in geheimnisvollen Symbolen, in majestätischen Steinbauten zu verkünden, daß er im Herzen seiner Welt dem Unsterblichen begegnet ist. Im Leid des Todes und im Schmerz der Verzweiflung, wenn das Vertrauen verraten und die Liebe entweiht wurde, wenn das Dasein fade und sinnlos wird, streckt der Mensch, auf den Trümmern seiner Hoffnungen stehend, die Hände zum Himmel, um durch das Dunkel seiner Welt hindurch die Berührung dieses Einen zu spüren. Der Mensch hat die Beziehung seines Ichs zu diesem Welt-Ich auch unmittelbar erfahren, unmittelbar, nicht durch die Welt der Formen und Wandlungen, die Welt der Ausdehnung in Raum und Zeit, sondern in der innersten Einsamkeit des Bewußtseins, in der Welt der Tiefe und Intensität. Durch diese Begegnung hat er die Schöpfung einer neuen Welt gefühlt, einer Welt von Licht und Liebe, die keine Sprache hat als die Musik des Schweigens. Von dieser Welt hat der Dichter[8] gesungen: Es gibt eine endlose Welt, o mein Bruder, Und ein namenloses Wesen, von dem nichts gesagt werden kann. Nur der, der ihre Ufer erreicht hat, weiß: Sie ist anders als alles, wovon man hört und sagt. Da ist nicht Form, nicht Stoff, nicht Länge, nicht Breite, Wie kann ich dir sagen, welcher Art sie ist? Kabir sagt: »Keine Zunge kann sie mit Worten schildern, und keine Feder kann sie beschreiben. Wie soll der Stumme auch klar machen, welche Süße er gekostet hat?« Nein, es kann nicht geschildert, es muß erlebt werden; und wenn dem Menschen dies Erlebnis zuteil geworden ist, singt er[9]: Das Innen und das Außen sind zu #einem# Himmel vereint, Das Unendliche und Endliche sind eins geworden; Ich bin trunken vom Anblick des Alls. Der Dichter hat das wahre Sein erlangt, das unaussprechlich ist, wo alle Widersprüche sich in Harmonie gelöst haben. Denn dies wahre Sein, die letzte Wirklichkeit, liegt in der Persönlichkeit, nicht in Gesetz und Stoff. Und der Mensch muß fühlen: wenn dies Weltall nicht die Offenbarung einer höchsten Persönlichkeit wäre, so wäre es ein ungeheurer Betrug und eine beständige Schmach für ihn. Er muß wissen, daß unter einer solch ungeheuren Last von Fremdheit seine eigene Persönlichkeit gleich am Anfang zermalmt und zu einer leeren Abstraktion geworden wäre, für die selbst die Grundlage eines Geistes fehlte, der sie hätte konzipieren können. Der Dichter der Upanischad bricht am Ende seiner Lehren plötzlich in ein Lied aus, das in seiner tiefen Schlichtheit das lyrische Schweigen der weiten Erde in sich trägt, wenn sie die Morgensonne anschaut. Er singt: »In dem goldnen Gefäß verbirgt sich das Antlitz der Wahrheit. O du Spender des Lebens, decke es auf, daß wir das Gesetz der Wahrheit erkennen. O du Spender des Lebens, der du aus eigener Kraft wirkst und schaffst, der du die Schöpfung lenkst, du Herr aller Kreaturen, breite aus deine Strahlen, sammle all dein Licht, laß mich in dir das heiligste aller Wesen schauen, -- den Einen, der da ist, der da ist, das wahre Ich[10].« Und am Schluß singt dieser Dichter der unsterblichen Persönlichkeit vom Tode: »Der Lebensodem ist der Odem der Unsterblichkeit. Der Leib wird zu Asche. O mein Wille[11], gedenke deiner Taten! O mein Wille, gedenke deiner Taten! O Gott, o Feuer, du kennst alle Taten. Führe uns auf guten Wegen zur Vollendung. Halte die Sünde von uns fern, die krumme Wege wandelt. Dir bieten wir unsern Gruß.« Hiermit endet der Dichter der Upanischad, der vom Leben zum Tode und vom Tode wieder zum Leben gepilgert ist; der die Kühnheit gehabt hat, in Brahma das unendliche Sein und das endliche Werden zugleich zu sehen; der verkündet, daß wahres Leben Arbeit bedeutet, Arbeit, in der sich die Seele ausdrückt; der uns lehrt, daß unsre Seele ihr wahres Wesen in dem höchsten Wesen findet, indem sie sich selbst aufgibt und eins mit dem All wird. Die tiefe Wahrheit, die der Dichter der Upanischad verkündet, ist die Wahrheit des einfältigen Herzens, das das geheimnisvolle Leben mit tiefer Liebe liebt und nicht an die Endgültigkeit jener Logik glauben kann, die mit ihrer zersetzenden Methode das Weltall an den Rand der Auflösung bringt. Erschien mir nicht das Licht der Sonne heller, der Glanz des Mondes weicher und tiefer, wenn mein Herz in plötzlicher Liebe aufwallte in der Gewißheit, daß die Welt eins ist mit meiner Seele? Wenn ich die heraufziehenden Wolken besang, so fand der prasselnde Regen seinen leidenschaftlichen Ausdruck in meinen Liedern. Vom Anfang der Geschichte an haben die Dichter und Künstler dieses Dasein mit den Farben und der Musik ihrer Seele getränkt. Und dies gibt mir die Gewißheit, daß Erde und Himmel aus den Fibern des Menschengeistes, der zugleich der Allgeist ist, gewoben sind. Wenn dies nicht wahr wäre, so wäre Poesie Lüge und Musik Täuschung, und die stumme Welt würde des Menschen Herz für immer in Schweigen erstarren machen. Der große Meister spielt die Flöte: der Atem ist sein, das Instrument ist unsre Seele, durch die er seine Schöpfungslieder ertönen läßt; und daher weiß ich, daß ich kein bloßer Fremdling bin, der auf der Reise seines Daseins in der Herberge dieser Erde Rast macht, sondern ich lebe in einer Welt, deren Leben mit dem meinen eng verknüpft ist. Der Dichter wußte, daß das Sein dieser Welt ein persönliches Sein ist, und sang[12]: Die Erde ist seine Freude, seine Freude ist der Himmel; Seine Freude ist der Glanz von Sonne und Mond; Seine Freude ist der Anfang, die Mitte und das Ende; Seine Freude ist das Schauen, das Dunkel und das Licht. Ozean und Wogen sind seine Freude; Seine Freude ist die Sarasvati, die Jamuna und der Ganges. Er ist der All-Eine: und Leben und Tod, Vereinigung und Trennung sind Spiele seiner Freude. DIE WIEDERGEBURT Für uns ist die leblose Natur die Seite des Daseins, die wir nur von außen sehen. Wir wissen nur, wie sie uns erscheint, aber wir wissen nicht, was sie in Wahrheit ist. Dies können wir nur durch die Liebe erfassen. Aber da hebt sich der Vorhang, das Leben erscheint auf der Bühne, das Drama beginnt und wir verstehen seinen Sinn an den Gebärden und der Sprache, die den unsern gleich sind. Wir erkennen das Leben, nicht an seinen äußeren Zügen, nicht durch Zerlegung in seine einzelnen Teile, sondern durch die unmittelbare Wahrnehmung, die auf innerer Verwandtschaft beruht. Und dies ist wirkliche Erkenntnis. Wir sehen einen Baum. Er ist durch die Tatsache seines individuellen Lebens von seiner Umgebung abgesondert. Sein ganzes Streben geht dahin, diese Besonderheit seiner schöpferischen Individualität gegenüber dem ganzen Weltall aufrecht zu erhalten. Sein Leben gründet sich auf einen Dualismus -- auf der einen Seite diese Individualität des Baumes, und auf der andern das Weltall. Aber wenn dieser Dualismus in sich Feindschaft und gegenseitige Ausschließung bedeutete, so gäbe es für den Baum keine Möglichkeit, sein Dasein zu behaupten; er würde von der vereinten Gewalt dieser ungeheuren Kräfte in Stücke gerissen werden. Jedoch dieser Dualismus bedeutet Verwandtschaft. Je vollkommener die Harmonie des Baumes mit der Außenwelt, mit Sonne, Erdboden und Jahreszeiten ist, je vollkommener entwickelt sich seine Individualität. Es wird verhängnisvoll für ihn, wenn diese gegenseitige Beziehung gestört wird. Daher muß das Leben an seinem negativen Pol die Abgesondertheit von allem andern aufrecht halten, während es an seinem positiven Pol die Einheit mit dem Weltall wahrt. In dieser Einheit liegt seine Erfüllung. Im Leben eines Tieres ist auf der negativen Seite das Element der Abgesondertheit noch entschiedener, und deswegen ist auf der positiven Seite die Beziehung zur Welt viel weiter ausgedehnt. Das Tier ist von seiner Nahrung viel mehr abgetrennt als der Baum. Es muß sie suchen und kennenlernen, getrieben von Lust und Schmerz. Daher steht sie in engerer Beziehung zu seiner Erkenntnis- und Gefühlswelt. Dasselbe gilt in bezug auf die Trennung der Geschlechter. Diese Trennung und das daraus folgende Streben nach Vereinigung bewirken ein gesteigertes Lebensgefühl und Ichbewußtsein bei den Tieren und bereichern ihre Persönlichkeit durch die Begegnung mit unvorhergesehenen Hindernissen und unerwarteten Möglichkeiten. Bei den Bäumen wird die Trennung von ihrer Nachkommenschaft jedesmal zu einer endgültigen, während bei den Tieren die Beziehung bestehen bleibt. So gewinnt das Lebensinteresse der Tiere durch diese Trennungen noch an Weite und Intensität und ihr Bewußtsein umfaßt ein viel größeres Gebiet. Dies weitere Reich ihrer Individualität müssen sie beständig durch die mannigfachen Beziehungen zu ihrer Welt behaupten. Jede Hemmung dieser Beziehungen ist verhängnisvoll. Beim Menschen ist dieser Dualismus des physischen Lebens noch mannigfaltiger. Seine Bedürfnisse sind nicht nur größer an Zahl und erfordern daher ein weiteres Feld für ihre Befriedigung, sondern sie sind auch komplizierter und verlangen eine tiefere Kenntnis der Dinge. Dies gibt ihm ein stärkeres Bewußtsein seiner selbst. Sein Geist tritt an Stelle der Triebe und Instinkte, die die Bewegungen und Tätigkeiten der Bäume und Tiere leiten. Dieser Geist hat auch seine negative und positive Seite der Absonderung und der Einheit. Denn einerseits trennt er die Gegenstände seiner Erkenntnis von dem Erkennenden ab, dann aber läßt er beide durch die Erkenntnis eins werden. Zu der Beziehung von Hunger und Liebe, auf die sich das physische Leben gründet, tritt in zweiter Reihe die geistige Beziehung. So machen wir uns diese Welt auf doppelte Weise zu eigen, indem wir in ihr leben und sie erkennen. Aber es gibt noch einen andern Dualismus im Menschen, der sich nicht aus der Art seines physischen Lebens erklären läßt. Es ist der Zwiespalt in seinem Bewußtsein zwischen dem, was ist, und dem, was sein sollte. Das Tier kennt diesen Zwiespalt nicht; bei ihm besteht der Widerstreit zwischen dem, was es hat, und dem, was es begehrt, während er beim Menschen zwischen dem, was er begehrt, und dem, was er begehren sollte, besteht. Unsre Begierden entspringen unserm natürlichen Leben, das wir mit den Tieren teilen, aber das, was wir begehren sollten, gehört einem Leben an, das weit darüber hinausgeht. So hat im Menschen eine Wiedergeburt stattgefunden. Wenn er auch noch sehr viele Gewohnheiten und Triebe seines Tierlebens beibehalten hat, so liegt doch sein wahres Leben in der Sphäre dessen, was sein sollte. Durch diese Tatsache wird eine Verbindung, aber auch zugleich ein Widerstreit geschaffen. Viele Dinge, die gut für das eine Leben sind, sind schädlich für das andere. Daraus entsteht die Notwendigkeit eines innern Kampfes, der in des Menschen Persönlichkeit das hineinbringt, was man Charakter nennt. Aus dem Triebleben führt er den Menschen zum Zweckleben. Dies ist das Leben der sittlichen Welt. Hier gelangen wir aus der Welt der Natur in die des Menschentums. Wir leben und wirken und haben unser Sein im Allgemeinmenschlichen. Das Menschenkind wird in zwei Welten zugleich hineingeboren, in die Welt der Natur und in die Menschenwelt. Diese letztere ist eine Welt von Ideen und Einrichtungen, von Erkenntnisschätzen und durch Erziehung erlangten Gewohnheiten. Sie ist durch rastloses Streben von Jahrtausenden, durch Märtyrerleiden heldenhafter Menschen erbaut. Ihre verschiedenen Schichten sind Niederschläge von Entsagungen zahlloser Einzelwesen aller Zeitalter und Länder. Sie hat ihre guten und bösen Elemente, denn die Ungleichheiten ihrer Oberfläche und Temperatur machen den Fluß des Lebens reich an Überraschungen. Dies ist die Welt der Wiedergeburt des Menschen, die außernatürliche Welt, wo der Dualismus des Tierlebens und der Sittlichkeit uns unsrer Persönlichkeit als Mensch bewußt macht. Alles, was dies Menschenleben daran hindert, die Beziehung zu seiner sittlichen Welt vollkommen zu machen, ist vom Übel. Es bedeutet Tod, einen viel schlimmeren Tod als den Tod des natürlichen Lebens. In der Welt der Natur wandelt der Mensch mit Hilfe der Wissenschaft die Tyrannei der Naturkräfte in Gehorsam. Aber in seiner sittlichen Welt hat er eine schwerere Aufgabe zu erfüllen. Er hat die Tyrannei seiner eigenen Leidenschaften und Begierden in Gehorsam zu wandeln. Und in allen Zeiten und Ländern ist dies das Ziel menschlichen Strebens gewesen. Fast alle unsre Institutionen sind das Resultat dieses Strebens. Sie geben unserm Willen die Richtung und graben ihm Kanäle, damit er ungehindert und ohne unnützen Kraftverlust seinen Lauf nehmen kann. Wir haben gesehen, daß das physische Leben allmählich in das geistige hineinwuchs. Die geistigen Fähigkeiten der Tiere sind vollkommen in Anspruch genommen von der Sorge für ihre unmittelbaren Lebensbedürfnisse. Diese Bedürfnisse sind beim Menschen mannigfaltiger, und daher bedarf er größerer geistiger Fähigkeiten. So kam er zu der Erkenntnis, daß die Welt seiner unmittelbaren Bedürfnisse eins ist mit einer Welt, die weit über seine unmittelbaren Bedürfnisse hinausgeht. Er erkannte, daß diese Welt nicht nur seinen Leib mit Nahrung versieht, sondern auch seinen Geist; daß er durch seinen Geist auf unsichtbare Weise mit allen Dingen verbunden ist. Was der Intellekt in der Welt der Natur ist, das ist der Wille in der sittlichen Welt. Je freier und weiter er wird, desto wahrer, weiter und mannigfacher werden auch unsre sittlichen Beziehungen. Seine äußere Freiheit ist die Unabhängigkeit von Lust- und Schmerzempfindungen, seine innere Freiheit ist die Befreiung aus der Enge der Selbstsucht. Wir wissen, daß, wenn der Intellekt von den Banden des Eigennutzes befreit ist, er die Welt der allgemeinen Vernunft erkennt, mit der er in Harmonie sein muß, um seine Bedürfnisse ganz befriedigen zu können; ebenso erkennt auch der Wille, wenn er aus seinen Schranken befreit ist, wenn er gut wird, d. h. wenn er alle Menschen und alle Zeiten umfaßt, eine Welt, die über die sittliche Welt der Menschheit hinausgeht. Er entdeckt eine Welt, wo alle Lehren unsres sittlichen Lebens ihre letzte Wahrheit finden, und unser Geist erhebt sich zu dem Gedanken, daß es ein unendliches Medium der Wahrheit gibt, durch das das Gute seinen Sinn erhält. Daß ich mehr werde durch die Vereinigung mit andern, ist keine bloße mathematische Tatsache. Wir haben erkannt, wenn verschiedene Menschen sich in Liebe, die das Band vollkommener Einheit ist, zusammenschließen, so wird nicht einfach Kraft zu Kraft gefügt, sondern das, was unvollkommen war, findet seine Vollendung in der Wahrheit und daher in der Freude; was sinnlos war, solange es isoliert war, findet seinen vollen Sinn in der Vereinigung. Diese Vollendung ist nicht etwas, was sich messen oder analysieren läßt, sie ist ein Ganzes, das über die Summe seiner Teile hinausgeht. Sie eröffnet uns das tiefste Geheimnis aller Dinge, das zugleich jenseits aller Dinge liegt, wie die Schönheit einer Blume weit mehr ist als ihre botanischen Tatsachen; wie der Sinn der Menschheit selbst sich nicht im bloßen Herdenleben erschöpft. Diese Vollendung in der Liebe, die vollkommene Einheit ist, öffnet uns das Tor der Welt des Unendlichen, der sich in der Einheit aller Wesen offenbart; der Verlust, Selbstaufopferung und Tod mit reicherem Gewinn und höherem Leben krönt; der durch seine eigene Fülle die Leere der Entsagung in Fülle wandelt. Dies ist der größte Dualismus in uns, der Dualismus des Endlichen und Unendlichen. Durch ihn werden wir uns der Verwandtschaft bewußt zwischen dem, was in uns ist, und dem, was über uns hinausgeht, zwischen dem Gegenwärtigen und Zukünftigen. Dies Bewußtsein dämmerte in uns auf mit unserm physischen Leben, wo Trennung und Vereinigung stattfand zwischen unserm Einzelleben und der allgemeinen Welt der Dinge; es vertiefte sich in unserm geistigen Leben, wo Trennung und Vereinigung stattfand zwischen unserm individuellen Geist und der allgemeinen Welt der Vernunft; es erweiterte sich, wo Trennung und Vereinigung stattfand zwischen unserm Einzelwillen und der allgemeinen Welt der menschlichen Persönlichkeit; es fand seinen letzten Sinn in der Trennung und Harmonie unsrer Einzelseele mit der All-Seele. Und auf dieser Stufe der ewigen Trennung und Wiedervereinigung beider bricht der Mensch aus in das wundervolle Lied: Dies ist der höchste Pfad, Dies ist der höchste Schatz, Dies ist die höchste Welt, Dies ist die höchste Wonne[13]. Das Leben ist in beständiger Verbindung mit diesem Höchsten. Die Welt der Dinge und Menschen bewegt sich beständig in mannigfachen Weisen nach diesem Rhythmus, doch sie selbst kennt seinen Sinn nicht, bis er sich ihr in der vollkommenen Vereinigung mit dem Höchsten offenbart. So nahe die Beziehung des noch ungeborenen Kindes zum Mutterleibe auch ist, so hat sie doch noch nicht ihren letzten Sinn gefunden. Wenn auch alle seine Bedürfnisse ihm dort bis ins einzelnste befriedigt werden, so bleibt sein größtes Bedürfnis noch ungestillt. Es muß in die Welt von Licht und Raum und freiem Handeln hineingeboren werden. Diese Welt ist in jeder Hinsicht so gänzlich verschieden von der des Mutterleibes, daß das ungeborne Kind, wenn es die Fähigkeit zu denken hätte, sich nie eine Vorstellung von jener weiteren Welt machen könnte. Und doch hat es seine Glieder, die erst in der Freiheit von Luft und Licht ihren Sinn bekommen. So hat auch der Mensch in der Welt der Natur alles, was er zur Ernährung seines Ichs braucht. Dort ist sein Ich seine Hauptsorge -- das Ich, dessen Interesse von dem der andern abgesondert ist. Wie mit seinem Ich so ist es auch mit den Dingen seiner Welt; sie haben für ihn keine andere Bedeutung als die des Nutzens. Aber es entwickeln sich Fähigkeiten in ihm wie die Glieder beim ungeborenen Kinde, die ihm die Kraft geben, die Einheit der Welt zu erkennen -- die Einheit, die der Seele und nicht den Dingen eigen ist. Er hat im Schönheitssinn und in der Liebe die Fähigkeit, an andern mehr Freude zu finden als an sich selbst. Die Fähigkeit, die ihn irdische Freuden verschmähen und Schmerz und Tod auf sich nehmen läßt, treibt ihn, unaufhaltsam vorwärts zu streben und führt ihn zu Erkenntnissen und Taten, die scheinbar keinen Nutzen für ihn haben. Dies führt zum Widerstreit mit den Gesetzen der Welt der Natur, und das Prinzip der Auslese der Tauglichsten ändert seinen Sinn. Und damit kommen wir zu dem Dualismus, durch den der Mensch am meisten leidet: dem Dualismus von Natur und Seele. Das Übel, das den natürlichen Menschen verletzt, ist der Schmerz, aber das Übel, das seine Seele verletzt, hat einen besonderen Namen erhalten, es heißt Sünde. Denn wenn es auch durchaus nicht als Schmerz empfunden wird, so ist es doch ein Übel, ebenso wie Blindheit oder Lahmheit für den Embryo nichts bedeutet, aber nach der Geburt zu einem großen Übel wird, das den Zweck des Lebens hemmt. Das Verbrechen richtet sich gegen den Menschen, die Sünde richtet sich gegen das Göttliche in uns. Was ist dieses Göttliche? Es ist das, was seinen eigentlichen und wahren Sinn im Unendlichen hat, was in dem embryonischen Leben des Ichs nicht die letzte Wahrheit sieht. Die ganze Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte von Geburtswehen, eine Geschichte von Leiden, wie kein Tier sie je durchzumachen hat. Die Menschheit hat keine Ruhe, all ihre Triebkräfte drängen sie vorwärts. Wenn sie sich auf ihrem Wohlstand zur Ruhe legt, ihr Leben durch Konventionen einschnürt, ihre Ideale zu verhöhnen beginnt und all ihre Kräfte auf die Vergrößerung ihres Ichs verwendet, dann beginnt ihr Verfall und Tod; alles, was sie an Kraft hat, wirkt nur noch zerstörend, denn sie braucht diese Kraft nur, um Zurüstungen für den Tod zu machen, weil sie nicht an unsterbliches Leben glaubt. Für alle andern Kreaturen ist das natürliche Leben alles. Leben, die Gattung fortpflanzen und sterben, das ist ihr Daseinszweck. Und damit sind sie zufrieden. Sie rufen nie sehnsüchtig nach Erlösung, nach Befreiung aus den Schranken des Lebens; sie fühlen sich nie eingeengt und erstickt und schlagen verzweifelt gegen die Grenzmauern ihrer Welt; sie wissen nicht, was es heißt, ein Leben des Überflusses aufgeben und durch Entsagung den Eintritt ins Reich himmlischer Wonne zu gewinnen. Sie schämen sich nicht ihrer Begierden und empfinden sie nicht als unrein, denn sie gehören zu ihrem vollen Leben. Sie sind nicht grausam in ihrer Grausamkeit, nicht gierig in ihrer Gier, denn Grausamkeit und Gier reichen nicht weiter als die Gegenstände derselben, die an sich endlich sind. Aber der Mensch hat seine Unendlichkeit, und daher verachtet er jene Leidenschaften, die seine Unsterblichkeit nicht anerkennen. Im Menschen hat das Leben des Tiers seinen Bereich geweitet. Er ist an die Schwelle einer Welt gekommen, die erst durch seinen eigenen Willen und seine eigene Kraft geschaffen werden muß. Er ist über das rezeptive Stadium hinaus, wo das Ich versucht, alles, was es umgibt, in sein eigenes Zentrum zu ziehen, ohne selbst etwas zu geben. Jetzt beginnt des Menschen schöpferisches Leben, wo er von seinem Überfluß spendet. Durch unaufhörliches Entsagen soll er wachsen. Alles was die Freiheit dieses endlosen Wachstums hemmt, ist Sünde, das Übel, das seiner Unsterblichkeit entgegenarbeitet. Diese schöpferische Kraft im Menschen hat sich schon von Anfang seines Lebens an gezeigt. Denn selbst sein physischer Bedarf wird ihm in der Kinderstube der Natur nicht gebrauchsfertig vorgesetzt. Von seinen ersten Tagen an ist er geschäftig gewesen, sich aus dem Rohmaterial, das um ihn herumliegt, seinen Lebensbedarf zu bereiten. Selbst seine Speisegerichte sind seine eigene Schöpfung, und im Gegensatz zu den Tieren wird er nackt geboren und muß sich seine Kleidung selbst schaffen. Dies beweist, daß der Mensch aus der Welt der Naturzwecke in die Welt der Freiheit geboren ist. Denn Schaffen bedeutet Freiheit. Wir leben in einem Gefängnis, wenn wir in dem leben müssen, was schon da ist, denn es bedeutet in etwas leben, was etwas anderes ist als wir selbst. Dort müssen wir ohnmächtig es der Natur überlassen, mit uns zu schalten und walten und für uns zu wählen, und so kommen wir unter das Gesetz der natürlichen Auslese. Aber in unsrer eigenen Schöpfung leben wir in dem, was unser ist, und dort wird die Welt mehr und mehr eine Welt unsrer eigenen Auslese; sie bewegt sich mit uns im gleichen Schritt und gibt uns Raum, wohin wir uns auch wenden. So kommt es, daß der Mensch sich nicht mit der ihm gegebenen Welt begnügt; er strebt danach, sie zu seiner eigenen Welt zu machen. Und er legt den ganzen Mechanismus des Weltalls auseinander, um ihn zu studieren und wieder nach seinen eigenen Bedürfnissen zusammenzusetzen. Er lehnt sich auf gegen den Zwang der Naturgesetze. Sie hemmen bei jedem Schritt die Freiheit seines Laufes, und er muß die Tyrannei der Materie erdulden, die seine Natur sich sträubt als endgültig und unvermeidlich anzuerkennen. Schon in der Zeit seiner Wildheit versuchte er durch Zaubermittel die Ordnung der Dinge zu durchbrechen. Er träumte von Aladdins Wunderlampe und von mächtigen Geistern, die ihm gehorchen und die Welt auf den Kopf stellen mußten, wenn es ihm einfiel. Denn sein freier Geist stieß immer wieder gegen Dinge, die ohne Rücksicht auf ihn eingerichtet waren. Er mußte sich scheinbar in die ihm aufgezwungene Naturordnung fügen oder sterben. Aber im tiefsten Herzen konnte er doch trotz der ihn widerlegenden harten Tatsachen nicht daran glauben. Daher träumte er von einem Paradiese der Freiheit, vom Märchenlande, vom Heldenzeitalter, wo der Mensch in beständigem Verkehr mit Göttern lebte, vom Stein der Weisen, vom Lebenselixier. Obgleich er nirgends das Tor finden konnte, das in die Freiheit führte, suchte er doch unermüdlich tastend danach, er härmte sich in Sehnsucht ab und betete inbrünstig um Befreiung. Denn er fühlte instinktiv, daß diese Welt nicht seine endgültige Welt ist und daß seine Seele nur eine sinnlose Qual für ihn bedeuten würde, wenn es nicht eine andre Welt für ihn gäbe. Die Naturwissenschaft hat die Führung in der Rebellion des Menschen gegen die Herrschaft der Natur. Sie versucht, der Natur den Zauberstab der Macht zu entwinden und ihn dem Menschen in die Hand zu geben; sie will unsern Geist aus der Sklaverei der Dinge befreien. Die Naturwissenschaft hat ein materialistisches Aussehen, weil sie damit beschäftigt ist, den Kerker der Materie zu zerbrechen, und auf seinem Trümmerhaufen arbeitet. Beim Einfall in ein neues Land ist Plünderung die Losung des Tages. Doch wenn das Land erobert ist, werden die Dinge anders, und die, die eben noch raubten, werden zu Polizisten und stellen Frieden und Ordnung wieder her. Die Naturwissenschaft beginnt eben erst den Einfall in die materielle Welt, und alles hascht gierig nach Beute und verleugnet schamlos die wahre Natur des Menschen. Aber die Zeit wird kommen, wo die großen Kräfte der Natur jedem Einzelnen zu Gebote stehen, und wo mit wenig Kosten und Mühe für die elementaren Lebensbedürfnisse aller gesorgt werden kann. Wo es für den Menschen ebenso leicht sein wird zu leben wie zu atmen und sein Geist frei ist, sich seine eigene Welt zu schaffen. In früheren Zeiten, als die Naturwissenschaft den Schlüssel zum Vorratshause der Naturkräfte noch nicht gefunden hatte, hatte der Mensch doch schon den stoischen Mut, die Materie zu verachten. Er sagte, er könne sich ohne Nahrung behelfen und könne auch die Kleidung als Schutz gegen Kälte entbehren. Er war stolz darauf, seinen Leib zu kasteien. Es war ihm eine Lust, offen zu verkünden, daß er der Natur nur sehr wenig von dem Zoll zahlte, den sie von ihm forderte. Er bewies, daß er die Angst vor Schmerz und Tod, mit deren Hilfe die Natur ihn zu knechten suchte, aufs äußerste verachtete. Woher dieser Stolz? Warum hat der Mensch sich von jeher gegen die demütigende Zumutung aufgelehnt, seinen Nacken unter physische Notwendigkeiten zu beugen? Warum konnte er sich nie damit aussöhnen, die Beschränkungen, die die Natur ihm auferlegte, als unbedingt geltend hinzunehmen? Warum konnte er in seiner physischen und sittlichen Welt die kühnsten Unmöglichkeiten versuchen, ohne je, trotz wiederholter Enttäuschungen, eine Niederlage zuzugeben? Vom Standpunkt der Natur aus betrachtet, ist der Mensch töricht. Er traut der Welt, in der er lebt, nicht ganz. Er hat vom Anfang seiner Geschichte an Krieg mit ihr geführt. Er scheint sich durchaus an allen Ecken stoßen und verletzen zu wollen. Es ist schwer, sich vorzustellen, wie die sorgsame Meisterin der natürlichen Auslese Schlupflöcher lassen konnte, durch die solche überflüssigen und gefährlichen Elemente in ihre Wirtschaft hineingelangen und den Menschen ermutigen konnten, dieselbe Welt, die ihn erhält, zu durchbrechen. Aber das junge Vöglein benimmt sich genau so unbegreiflich töricht, wenn es die Wand seiner kleinen Welt durchbricht. Es hat doch mit der unbeirrbaren Sicherheit des Instinkts gefühlt, daß jenseits seines lieben Schalenkerkers etwas auf ihn wartet, das seinem Dasein Erfüllung bringen wird, wie seine Phantasie sie nie träumen kann. So glaubt auch der Mensch fast blindlings seinem Instinkt, daß er, wie dicht auch die Hülle sein mag, die ihn hier umgibt, doch aus dem Mutterschoße der Natur in die Welt des Geistes geboren werden soll, in die Welt, wo er seine schöpferische Freiheit erlangt, wo er an der Schöpfung des Unendlichen teilnimmt, wo er im Zusammenwirken mit dem Unendlichen schafft, wo seine Schöpfung und Gottes Schöpfung in Harmonie eins werden. In fast allen Religionssystemen gibt es ein großes Feld des Pessimismus, wo das Leben als ein Übel und die Welt als Fallstrick und Trug angesehen wird, wo der Mensch in der Welt um ihn her seinen erbittertsten Feind sieht. Er fühlt den Druck der Dinge so intensiv, daß er glaubt, es müsse ein böser Geist in der Welt sein, der ihn versuche und mit arger List ihn ins Verderben zu reißen trachte. In seiner Verzweiflung beschließt der Mensch dann, sich ganz von der Natur abzuwenden und zu beweisen, daß er sich selbst genügt. Aber dies ist der heftige und schmerzhafte Kampf des Kindeslebens gegen das Leben der Mutter an der Schwelle seiner Geburt. Er ist grausam und zerstörend und sieht in dem Augenblick wie Undank aus. Aller religiöse Pessimismus ist schwärzester Undank, der den Menschen treibt, nach dem zu schlagen, was ihn so lange mit seinem eigenen Leben getragen und genährt hat. Und doch macht uns die Tatsache, daß es eine so unmögliche Paradoxie gibt, nachdenklich. Wir sind zu Zeiten geneigt, unsre Geschichte ganz aus den Augen zu verlieren und zu glauben, solche Anfälle von Pessimismus seien mit Absicht und Überlegung von gewissen Mönchen und Priestern hervorgerufen, die in einer Zeit der Gesetzlosigkeit unter unnatürlichen Bedingungen lebten. Wir vergessen dabei, daß Verschwörungen Erzeugnisse der Geschichte sind, aber die Geschichte nicht ein Erzeugnis von Verschwörungen. Die menschliche Natur wird von innen heraus mit Heftigkeit getrieben, sich selbst den Krieg zu erklären. Und wenn diese Heftigkeit auch nachläßt, so ist der Schlachtruf doch noch nicht ganz verstummt. Wir müssen wissen, daß Übergangsperioden ihre Sprache haben, die man nicht buchstäblich nehmen darf. Wenn die Seele sich zum erstenmal im Menschen bemerkbar macht, so betont sie ihren Gegensatz zur Natur mit solcher Heftigkeit, als wäre sie bereit, einen Vernichtungskrieg gegen sie zu beginnen. Aber dies ist die negative Seite. Wenn die Revolution, die die Freiheit aufrichten will, ausbricht, hat sie das Aussehen der Anarchie. Doch ihr wahrer Sinn ist nicht die Zerstörung der Regierung, sondern die Freiheit der Regierung. So ist auch die Geburt der Seele in die geistige Welt nicht die Auflösung der Beziehung zu dem, was wir Natur nennen, sondern vollkommene Verwirklichung dieser Beziehung in der Freiheit. In der Natur sind wir blind und lahm wie ein Kind vor seiner Geburt. Aber im geistigen Leben sind wir frei geboren. Und sobald wir aus der blinden Knechtschaft der Natur befreit sind, steht sie uns im hellen Licht gegenüber, und wo wir bisher nichts als Hülle sahen, erkennen wir jetzt die Mutter. Aber was ist das Endziel der Freiheit, zu der des Menschen Leben gelangt ist? Sie muß ihren Sinn in etwas haben, über das hinaus wir nicht zu forschen brauchen. Die Antwort ist dieselbe, die uns das Leben des Tieres gibt, wenn wir nach seinem letzten Sinn fragen. Wenn die Tiere ihren Hunger und ihre andern Begierden befriedigen, so fühlen sie, daß sie sind. Und das ist auch unser Sinn und Ziel: zu wissen, daß wir sind. Das Tier weiß es, aber sein Wissen ist wie Rauch, nicht wie Feuer, es kommt als blindes Gefühl, nicht als Erleuchtung, und wenn es auch die Wahrheit aus ihrem Schlummer aufweckt, so läßt es sie doch im Dunkel. Es ist das Bewußtsein, das anfängt, das Ich vom Nicht-Ich zu unterscheiden. Es hat gerade genug Umfang, um sich als Mittelpunkt zu fühlen. Auch das letzte Ziel der Freiheit ist zu wissen, daß »ich bin«. Doch dieses Ich-Bewußtsein ist ein anderes: es ist das Bewußtsein der Einheit mit dem All im Gegensatz zu dem der Abgesondertheit von allem andern. Diese Freiheit findet ihre Vollendung nicht in der Extensität, sondern in der Intensität, in der Liebe. Die Freiheit, zu der das Kind gelangt, wenn es aus dem Mutterleibe geboren wird, besteht nicht darin, daß es sich seiner Mutter völliger bewußt wird, sondern daß es zum intensiven Bewußtsein ihrer in der Liebe gelangt. Im Mutterleibe wurde es genährt und warm gehalten, aber es war in seiner Einsamkeit ganz auf sich selbst beschränkt. Nachdem das Kind in die Freiheit geboren ist, bringt die wechselseitige Beziehung der Liebe zwischen Mutter und Kind dem Kinde die Freude des vollkommensten Bewußtseins seines Ichs. Diese Mutterliebe gibt seiner ganzen Welt ihren Sinn. Wenn das Kind nur ein vegetierender Organismus wäre, dann brauchte es sich nur mit seinen Wurzeln in seiner Welt festzuklammern und könnte gedeihen. Aber das Kind ist eine Persönlichkeit, und diese Persönlichkeit strebt nach vollkommener Verwirklichung, die nie in der Gefangenschaft des Mutterleibes geschehen kann. Sie muß frei sein, und diese Freiheit findet ihre Erfüllung nicht in sich selbst, sondern in einer andern Persönlichkeit, und dies ist Liebe. Es ist nicht wahr, daß die Tiere keine Liebe empfinden. Aber sie ist zu schwach, um das Bewußtsein so weit zu erleuchten, daß es ihnen die ganze Wahrheit der Liebe offenbaren könnte. Ihre Liebe ist ein leises Glühen, das ihr Ich erhellt, aber nicht die Flamme, die über das Geheimnis des eigenen Ichs hinausgeht. Ihr Bereich ist zu eng umgrenzt, um bis an die paradoxe Wahrheit zu reichen, daß die Persönlichkeit, die das Bewußtsein der Einheit im eigenen Selbst ist, doch erst in der Einheit mit andern ihre ganze Wahrheit findet. Diese Paradoxie hat den Menschen zu der Erkenntnis geführt, daß die Natur, in die hinein wir geboren werden, nur eine unvollkommene Wahrheit ist wie die Wahrheit des Mutterleibes. Die volle Wahrheit ist, daß wir im Schoß der unendlichen Persönlichkeit geboren werden. Unsere wahre Welt ist nicht die Welt der Naturgesetze, der Gesetze von Kraft und Stoff, sondern die Welt der Persönlichkeit. Wenn wir das vollkommen erkannt haben, haben wir unsre wahre Freiheit gefunden. Dann verstehen wir das Wort der Upanischad: »Erkenne alles, was in der Welt lebt und wirkt, als von Gott umschlossen, und genieße, was er dir hingibt[14].« Wir haben gesehen, daß das Bewußtsein der Persönlichkeit mit dem Gefühl der Abgesondertheit von allen andern beginnt und in dem Gefühl der Einheit mit allen gipfelt. Selbstverständlich ist das Bewußtsein der Abgetrenntheit auch zugleich mit einem Bewußtsein der Einheit verbunden, denn es kann nicht für sich allein existieren. Das Leben, wo das Bewußtsein der Abgesondertheit an erster und das der Einheit an zweiter Stelle steht, und wo infolgedessen die Persönlichkeit eng und vom Licht der Wahrheit nur matt erleuchtet ist, -- dies Leben ist das Leben des Ichs. Aber das Leben, wo das Bewußtsein der Einheit der erste Faktor ist, und wo daher die Persönlichkeit weit und vom Licht der Wahrheit hell erleuchtet ist, dies Leben ist das Leben der Seele. Die ganze Aufgabe des Menschen liegt darin, vom Ich-Bewußtsein zum Seelenbewußtsein zu gelangen, seinen inneren Kräften die Richtung auf das Unendliche zu geben und so von der Verengung des Ichs in der Begierde zur Ausweitung der Seele in der Liebe fortzuschreiten. Dies Seelenbewußtsein, das das bewußte Prinzip der Einheit, der Mittelpunkt aller Beziehungen ist, ist das wahre Sein und daher das letzte Ziel alles Strebens. Ich muß auf diese Tatsache den größten Nachdruck legen, daß diese Welt nur in ihrer Beziehung zu einer zentralen Persönlichkeit Wirklichkeit hat. Ohne diesen Mittelpunkt fällt sie auseinander, wird zu einem Haufen von Abstraktionen, wie Kraft und Stoff, und selbst diese, die blassesten Spiegelungen des Seins, würden in absolutes Nichts verschwinden, wenn das denkende Ich im Mittelpunkt, zu dem sie durch eine gewisse Vernunftharmonie in Beziehung stehen, fehlte. Aber es gibt unzählige solche Zentren. Jedes Wesen hat seine eigene kleine Welt, deren Zentrum es ist. Daher stellt sich uns unwillkürlich die Frage: »Gibt es ebensoviele unüberbrückbar voneinander verschiedene Wirklichkeiten?« Unsre ganze Natur lehnt sich auf gegen die Bejahung dieser Frage. Denn wir wissen, daß das Prinzip der Einheit in uns die Grundlage alles wahren Seins ist. Daher ist der Mensch vom trüben Dämmerlicht seiner Fragen und Vorstellungen durch all seine Zweifel und Erörterungen zu der Wahrheit gekommen, daß es einen ewigen Mittelpunkt gibt, zu dem alle Persönlichkeiten und daher die ganze Welt der Wirklichkeit ihre Beziehung hat. Dies ist »_Mahān puruṣaḥ_«, die eine höchste Persönlichkeit; es ist »_Satyaṃ_«, die eine höchste Wahrheit; es ist »_Jn̆ānaṃ_«, der die höchste Erkenntnis in sich hat und daher sich selbst in allem erkennt; es ist »_Sarvānubhūḥ_«, der die Gefühle aller Wesen in sich und daher sich in allen Wesen fühlt. Aber dieser Höchste, der Mittelpunkt alles Seins, ist nicht nur ein passives, rezeptives Wesen, er ist _ānanda-rūpam amṛtaṃ yad vibhāti_ -- die Freude, die sich in Formen offenbart. Sein Wille ist es, der schafft. Der Wille findet seine höchste Erfüllung nicht in der Welt des Gesetzes, sondern in der Welt der Freiheit, nicht in der Welt der Natur, sondern in der geistigen Welt. Dies erkennen wir an uns selbst. Unsre Sklaven tun, was wir ihnen befehlen, und versehen uns mit dem, was wir brauchen, aber unsre Beziehung zu ihnen ist unvollkommen. Wir haben unsre Willensfreiheit, die nur in der Willensfreiheit anderer ihre Harmonie finden kann. Wo wir selbst Sklaven sind, in unsern selbstsüchtigen Begierden, da befriedigt uns das Sklaventum in andern. Denn die Sklaverei entspricht unserm eigenen Sklaventum und läßt uns in ihm Genüge finden. Als daher Amerika seine Sklaven befreite, befreite es in Wahrheit sich selbst. Wir finden unsre höchste Freude in der Liebe. Denn in ihr sehen wir die Willensfreiheit anderer verwirklicht. Bei unsern Freunden begegnet ihr Wille unserm Willen in vollkommener Freiheit, nicht im Zwang der Not oder der Furcht; daher findet unsre Persönlichkeit in dieser Liebe ihre höchste Verwirklichung. Weil die Wahrheit unsres Willens in seiner Freiheit besteht, daher ist auch reine Freude nur in der Freiheit möglich. Wir finden Freude in der Befriedigung unsrer Bedürfnisse, aber diese Freude ist negativer Art. Denn das Bedürfnis ist eine Sklaverei, von der wir durch die Befriedigung des Bedürfnisses befreit werden. Aber damit ist auch die Freude zu Ende. Es ist anders mit unsrer Freude an der Schönheit. Sie ist positiver Art. Im harmonischen Rhythmus finden wir die Vollendung. Dort sehen wir nicht die Substanz oder das Gesetz, sondern die reine Form, die mit unsrer Persönlichkeit in Harmonie ist. Aus der Knechtschaft bloßen Stoffes und bloßer Linien geht das hervor, was über alle Schranken hinaus ist. Wir fühlen uns sogleich frei von der tyrannischen Sinnlosigkeit der Einzeldinge, -- jetzt geben sie uns etwas, was zu unserm eignen Selbst in persönlicher Beziehung steht. Die Offenbarung der Einheit in ihrer passiven Vollkommenheit, die wir in der Natur finden, ist die Schönheit; die Offenbarung der Einheit in ihrer aktiven Vollkommenheit, die wir in der geistigen Welt finden, ist die Liebe. Diese besteht nicht in der Harmonie der äußeren Formen, sondern in der Harmonie der Willen. Der Wille, der frei ist, bedarf zur Verwirklichung seiner Harmonie andrer Willen, die auch frei sind, und darin liegt die Bedeutung des religiösen Lebens. Der ewige Mittelpunkt alles Seins, das höchste Wesen, das seine Freude ausstrahlt, indem es sich in Freiheit hingibt, muß andre Freiheitszentren schaffen, um sich mit ihnen in Harmonie zu einen. Die Schönheit ist die Harmonie, die sich in Dingen verwirklicht, die durch das Naturgesetz gebunden sind. Die Liebe ist die Harmonie, die sich in Willen verwirklicht, welche frei sind. Im Menschen sind solche Freiheitszentren geschaffen. Er soll kein bloßer Empfänger von Gaben der Natur sein; er soll sich voll ausstrahlen im Schaffen seiner Kraft und in der Vervollkommnung seiner Liebe. Sein Ziel muß der Unendliche sein, wie der Unendliche in ihm sein Ziel hat. Die Schöpfung der natürlichen Welt ist Gottes eigene Schöpfung, wir können sie nur empfangen und dadurch uns zu eigen machen. Aber bei der Schöpfung der geistigen Welt sind wir Gottes Partner. Bei dieser Arbeit muß Gott warten, daß unser Wille mit dem seinen übereinstimmt. Nicht Macht ist es, was diese geistige Welt aufbaut; nirgends, auch nicht in dem entferntesten Winkel, gibt es in ihr Passivität oder Zwang. Das Bewußtsein muß alle Nebel der Täuschung abgestreift haben, der Wille muß von allen Gegenkräften der Leidenschaften und Begierden befreit sein, bevor wir an Gottes Schöpfungswerk teilnehmen. Solange wir nur Empfänger seiner Gaben sind, hat unser Verhältnis zu ihm noch nicht seine volle Wahrheit gefunden, denn es ist einseitig und daher unvollkommen. Wie er uns aus seiner eigenen Fülle gibt, sollen auch wir ihm von unserm Überfluß geben. Daraus quillt reine Freude, nicht nur für uns, sondern auch für Gott. In unserm Lande haben die Wischnusänger diese Wahrheit erkannt und sie kühn verkündet, indem sie sagten, erst in den Menschenseelen fände Gott die Erfüllung seiner Liebe. In der Liebe muß Freiheit sein, daher muß Gott nicht nur warten, bis unsre Seele freiwillig den Einklang mit seiner Seele sucht, sondern er muß auch leiden, wenn sie dieser Harmonie widerstrebt und sich gegen ihn auflehnt. Daher hat es bei der Schöpfung der geistigen Welt, an der der Mensch in Gemeinschaft mit Gott arbeiten muß, Leiden gegeben, von denen die Tiere keine Ahnung haben können. Beim Stimmen der Instrumente haben die Saiten oft in schrillen Dissonanzen aufgeschrien, und oft sind sie gerissen. Wenn wir die Mitarbeit des Menschen am Werke Gottes von dieser Seite sehen, so erscheint sie uns sinnlos und schädlich. Das Ideal, das im Herzen dieser Schöpfung ist, läßt uns jeden Fehler und Mißton wie einen Dolchstoß empfinden, und die Seele stöhnt und blutet. Oft hat die Freiheit sich in ihr Gegenteil gewandelt, um zu beweisen, daß sie Freiheit ist, und der Mensch hat gelitten, und Gott mit ihm, auf daß diese Welt des Geistes geläutert und rein aus ihrem Feuerbade hervorgehen möge, mit leuchtenden Gliedern wie ein göttliches Kind. Es hat Heuchelei und Lüge gegeben, grausame Überhebung, die sich über die Wunden entrüstet, die sie selbst geschlagen, geistlichen Hochmut, der im Namen Gottes den Menschen schmäht, Machthochmut, der Gott lästert, indem er ihn seinen Verbündeten nennt; jahrhundertelang hat man den Schmerzensschrei der Gequälten gewaltsam erstickt und Menschenkinder ihres rechten Armes beraubt, um sie für alle Zeit wehr- und hilflos zu machen; man hat die Felder mit dem blutigen Schweiß der Sklaverei gedüngt, um Leckerbissen darauf zu bauen, und seinen Reichtum aufgerichtet auf Mangel und Hungersnot. Aber ich frage: Hat dieser Riesengeist der Verneinung gesiegt? Ist das Leiden, das er im Herzen des Unendlichen hervorgerufen hat, nicht seine größte Niederlage? Und wird sein gefühlloser Stolz nicht in jedem Augenblick seines aufgeblasenen Daseins selbst durch das Gras am Wege und die Blumen auf dem Felde beschämt? Trägt nicht das Verbrechen an Gott und Menschen seine Strafe selbst als Krone der Häßlichkeit auf dem Haupte? Ja, das Göttliche im Menschen läßt sich durch Erfolg oder Organisationen seines Gegners nicht einschüchtern; es setzt sein Vertrauen nicht auf die Größe seiner Macht und auf kluge Vorsicht. Seine Stärke liegt nicht in Muskel- oder Maschinenkraft, nicht in Klugheit der Politik, noch in Robustheit des Gewissens, sondern in seinem Streben nach Vollendung. Wenn auch das Heute es verhöhnt, so hat es doch die Ewigkeit des Morgen auf seiner Seite. Dem Anschein nach ist es hilflos wie ein neugebornes Kind, aber seine nächtlichen Leidenstränen setzen alle unsichtbaren Kräfte des Himmels in Bewegung, sie rufen in der ganzen Schöpfung die Mutter wach. Kerkermauern fallen ein, ungeheure Berge von Reichtümern stürzen, vom Mißverhältnis ihrer eigenen Last umgerissen, kopfüber in den Staub. Die Geschichte der Erde ist die Geschichte von Erdbeben und Sintfluten und vulkanischen Ausbrüchen, und doch ist sie bei alledem die Geschichte der grünen Felder und der murmelnden Bäche, der Schönheit und des fruchtbaren Lebens. Und die geistige Welt, die aus dem Leben des Menschen und dem Leben Gottes emporwächst, wird diese Zeit der ersten Kindheit, wo sie immer wieder hilflos zu Fall kommt und sich verletzt, hinter sich lassen und eines Tages in der Kraft der Jugend auf festen Füßen stehen, in frohem Genuß der Schönheit und Freiheit ihrer Bewegung. Das Leiden gerade ist unsre größte Hoffnung. Denn es ist der Sehnsuchtsschrei der Unvollkommenheit, der von ihrem Glauben an Vollkommenheit zeugt, wie der Schrei des Kindes von dem Glauben an die Mutter. Dies Leiden treibt den Menschen dazu, mit seinem Gebet ans Tor des Unendlichen, des Göttlichen in ihm zu pochen und so seinen tiefsten Instinkt, seinen unmittelbaren Glauben an das Ideal zu beweisen, den Glauben, mit dem er dem Tode mutig entgegentritt und allem entsagt, was zu seinem engeren Selbst gehört. Gottes Leben, das sich in seine Schöpfung ergießt, hat das Leben des Menschen berührt, das nun auch der Freiheit zuströmt. Immer wenn in die Harmonie des Schöpfungsliedes hinein eine Dissonanz schrillt, ruft der Mensch aus: »_Asato mā sad gamaya_«, »Hilf mir aus dem Nichtsein zum wahren Sein.« Er gibt sein Selbst hin, daß es für die Musik der Seele gestimmt werde. Auf diese Hingabe wartet Gott, denn die geistige Harmonie kann nur durch Freiheit entstehen. Daher ist die freiwillige Hingabe des Menschen an den Unendlichen der Anfang der vollkommenen Vereinigung mit ihm. Erst dann, durch das Medium der Freiheit, kann Gottes Liebe voll auf die Menschenseele wirken. Diese Hingabe besteht in der freien Wahl unsrer Seele, ihr Leben dem Werke Gottes zu weihen, die Welt des Naturgesetzes in eine Welt der Liebe umzuwandeln. In der Geschichte des Menschen hat es Augenblicke gegeben, wo sein Leben mit der Musik von Gottes Leben in vollkommener Harmonie zusammenklang. Wir haben gesehen, wie des Menschen Persönlichkeit in restloser Selbsthingabe aus überquellender Liebe ihre Vollendung fand, indem sie selbst göttliches Wesen erlangte. Es sind Menschen in dieser Welt der Natur geboren, mit menschlichen Begierden und Schwächen, die dennoch bewiesen haben, daß sie in der Welt des Geistes atmeten, daß die höchste Wirklichkeit die Freiheit der Persönlichkeit in der vollkommenen Vereinigung der Liebe ist. Sie machten sich frei von allen selbstsüchtigen Wünschen und Begierden, von allen engen Vorurteilen der Kaste und der Nationalität, von der Menschenfurcht und der Knechtschaft der Glaubensdogmen und Konventionen. Sie wurden eins mit ihrem Gott im freien, tätigen Wirken mit ihm. Sie liebten und litten. Sie boten ihre Brust den Pfeilen des Bösen und bewiesen, daß der Geist unsterbliches Leben hat. Große Königreiche wechseln ihre Formen und verschwinden wie Wolken, Institutionen zerfließen in der Luft wie Träume, Nationen spielen ihre Rolle und versinken in Dunkel, aber jene Einzelwesen tragen das unsterbliche Leben der ganzen Menschheit in sich: Ihr Leben fließt wie ein ewiger, gewaltiger Strom durch grüne Felder und Wüsten und durch die langen, dunklen Höhlen der Vergessenheit in die tanzende Freude des Sonnenlichts hinein und bringt im endlosen Lauf der Jahre Wasser des Lebens an die Türen von Millionen Menschen, das ihren Durst löscht und ihre Leiden heilt und sie reinigt vom Staub des Alltags, und singt mit heller Stimme durch den Lärm der Märkte das Lied des ewigen Lebens, das Jubellied: Dies ist der höchste Pfad, Dies ist der höchste Schatz, Dies ist die höchste Welt, Dies ist die höchste Wonne. MEINE SCHULE Als ich mich den Vierzigern näherte, eröffnete ich eine Schule in Bengalen. Das hatte man sicherlich nicht von mir erwartet, der ich den größten Teil meines Lebens damit zugebracht hatte, Verse zu machen. Daher dachten die Menschen natürlich, daß diese Anstalt wohl keine Musterschule werden würde; jedenfalls aber würde sie etwas unerhört Neues sein, da ich mich so ganz ohne alle Erfahrung an das Unternehmen gewagt hatte. Dies ist der Grund, warum ich so oft gefragt werde, was denn eigentlich die Idee ist, die meiner Schule zugrunde liegt. Die Frage setzt mich sehr in Verlegenheit, denn ich darf nichts Alltägliches darauf antworten, wenn ich die Erwartung der Fragenden befriedigen will. Ich will jedoch der Versuchung, originell zu sein, widerstehen und mich damit begnügen, nur wahr zu sein. Ich muß gleich gestehen, daß es schwer für mich ist, diese Frage überhaupt zu beantworten. Denn eine Idee ist nicht etwas wie ein festes Fundament, worauf man ein Gebäude errichtet. Sie ist mehr wie ein Samenkorn, das auch nicht gleich, so wie es anfängt zu keimen und zu wachsen, auseinandergelegt und erklärt werden kann. Nun aber verdankt diese Schule ihren Ursprung gar nicht irgendeiner neuen Erziehungstheorie, sondern einfach der Erinnerung an meine eigene Schulzeit. Wenn diese Zeit für mich eine unglückliche war, so liegt der Grund dafür nicht nur in meiner persönlichen Anlage oder in den besonderen Übelständen der Schulen, die ich besuchte. Es kann schon sein, daß ich, wenn ich etwas robuster gewesen wäre, mich dem Druck allmählich angepaßt und es schließlich bis zum Abschluß des Universitätsstudiums gebracht hätte. Aber Schulen sind nun einmal Schulen, wenn auch einige besser sind als andere, je nach dem Maßstab, den sie an sich legen. Die Vorsehung hat dafür gesorgt, daß die Kinder sich von der Milch der Mutter nähren. Sie finden ihre Mutter und ihre Nahrung zu gleicher Zeit, und Körper und Seele kommen zugleich zu ihrem Recht. So lernen sie gleich die große Wahrheit, daß die wahre Beziehung des Menschen zur Welt die persönliche Liebe ist und nicht das mechanische Kausalgesetz. Einleitung und Schluß eines Buches haben ähnlichen Charakter. In beiden wird die Wahrheit als Ganzes vor den Leser hingestellt, ohne daß die Einzelheiten entwickelt werden. Der Unterschied ist nur, daß diese Wahrheit uns in der Einleitung einfach erscheint, weil sie noch nicht analysiert ist, und am Schluß, weil die Analyse vollständig ist. Zwischen beiden entfaltet sich die Wahrheit, hier verwickelt sie sich, stößt sich an Hindernissen und bricht ganz auseinander, um sich endlich in vollkommener Einheit wiederzufinden. So wird auch dem Menschen gleich beim Eintritt in die Welt der Weisheit letzter Schluß in dieser einfachen Form offenbart. Er wird in eine Welt geboren, die für ihn intensivstes Leben ist, wo er als Einzelwesen die volle Aufmerksamkeit seiner Umgebung in Anspruch nimmt. Wie er heranwächst, geht ihm die naive Sicherheit in der Auffassung der Wirklichkeit verloren, er kann sich in der Kompliziertheit der Dinge nicht mehr zurechtfinden und trennt sich von seiner Umgebung, oft im Geiste des Widerspruchs. Doch wenn so die Einheit der Wahrheit zerbricht und ein hartnäckiger Bürgerkrieg zwischen seiner Persönlichkeit und seiner Umgebung anhebt, so kann Sinn und Ziel doch nicht ewige Zwietracht sein. Um diesen Sinn und den rechten Schluß für sein Leben zu finden, muß er über den Umweg des Zweifels wieder den Weg zur schlichten, vollkommenen Wahrheit finden, zur Einheit mit der Welt durch das Band unendlicher Liebe. Daher sollte man dem Menschen in seiner Kindheit sein volles Maß vom Trunk des Lebens geben, nach dem ihn so unaufhörlich dürstet. Das junge Gemüt sollte ganz von dem Gefühl durchdrungen werden, daß es hineingeboren ist in eine Menschenwelt, die in Harmonie ist mit der umgebenden Welt. Und dies gerade ist es, was unsere herkömmliche Schule mit überlegener Weisheitsmiene streng und hochmütig übersieht. Sie reißt die Kinder mit Gewalt aus einer Welt, die voll ist von dem geheimnisvollen Wirken Gottes, voll von Hindeutungen auf persönliches Leben. Aus bloßen Gründen der Schulzucht weigert sie sich, das einzelne Kind zu berücksichtigen. Sie ist eine Fabrik, die eigens dazu eingerichtet ist, Waren von möglichst gleichförmigem Schliff herzustellen. Sie zieht eine gerade Linie nach dem Durchschnittsmaß, und dieser Linie folgt sie, wenn sie die Kanäle des Unterrichts gräbt. Aber das Leben hält sich nicht an die gerade Linie, es hat seinen Spaß daran, mit dieser Durchschnittslinie auf- und abzuwippen, und lädt so den Zorn der Schule auf sein Haupt. Denn nach der Auffassung der Schule ist das Leben vollkommen, wenn es sich behandeln läßt, als ob es tot sei, so daß man es nach Belieben symmetrisch zerlegen kann. Das war es, worunter ich litt, als ich zur Schule geschickt wurde. Denn plötzlich entwich meine Welt rings um mich her und machte hölzernen Bänken und geraden Wänden Platz, die mich mit dem leeren Blick des Blinden anstarrten. Der Schulmeister hatte mich nicht geschaffen, das Unterrichtsministerium war nicht zu Rate gezogen, als ich in diese Welt kam. Aber war das ein Grund, das Versehen meines Schöpfers an mir zu rächen? Doch die Sage lehrt uns ja, daß man nicht im Paradiese bleiben darf, wenn man vom Baum der Erkenntnis ißt. Daher müssen die Kinder der Menschen aus ihrem Paradiese in ein Reich des Todes verbannt werden, in dem der Geist der Uniform herrscht. So mußte mein Geist sich in die enge Hülle der Schule zwängen lassen, die wie die Schuhe der Chinesin meine Natur bei jeder Bewegung überall drückte und quetschte. Ich war glücklich genug, mich ihrer zu entledigen, bevor mein Gefühl ganz abstarb. Obgleich ich nicht die volle Bußzeit abzudienen brauchte, die die Menschen meines Standes auf sich nehmen müssen, um Zutritt zu der Gesellschaft der Gebildeten zu erlangen, so bin ich doch froh, daß mir ihre Plage nicht ganz erspart blieb. Denn so habe ich an mir selbst das Unrecht erfahren, das die Kinder der Menschen erleiden. Die Ursache dieses Unrechts ist, daß der Erziehungsplan der Menschen dem Plan Gottes zuwiderläuft. Wie wir unsre Geschäfte betreiben, ist unsre Sache, und daher können wir in unserm Geschäftsbureau schaffen und wirken, wie es unserm besonderen Zweck entspricht. Aber solch ein Geschäftsbetrieb paßt nicht für Gottes Schöpfung. Und die Kinder sind Gottes eigene Schöpfung. Wir sind in diese Welt gekommen, nicht nur, daß wir sie kennen, sondern daß wir sie bejahen. Macht können wir durch Wissen erlangen, aber zur Vollendung gelangen wir nur durch die Liebe. Die höchste Erziehung ist die, welche sich nicht damit begnügt, uns Kenntnisse zu vermitteln, sondern die unser Leben in Harmonie bringt mit allem Sein. Aber wir finden, daß man diese Erziehung zur Harmonie in den Schulen nicht nur systematisch außer acht läßt, sondern daß man sie konsequent unterdrückt. Von klein auf werden wir so erzogen und unterrichtet, daß wir der Natur entfremdet und unsre innere und äußere Welt in Gegensatz zueinander gestellt werden. So wird die höchste Erziehung, die Gott uns bestimmte, vernachlässigt, und man nimmt uns unsre Welt, um uns dafür einen Sack voll Wissen zu geben. Wir berauben das Kind seiner Erde, um es Erdkunde zu lehren, seiner Sprache, um es Grammatik zu lehren. Es hungert nach Heldengeschichten, aber man gibt ihm nüchterne Tatsachen und Daten. Es wurde in die Menschenwelt geboren, aber es wird in die Welt lebender Grammophone verbannt, um für die Erbsünde, in Unwissenheit geboren zu sein, zu büßen. Die Natur des Kindes lehnt sich mit der ganzen Kraft des Leidens gegen solch Elend auf, bis sie schließlich durch Strafen zum Schweigen gebracht wird. Wir alle wissen, Kinder lieben den Staub der Erde; Leib und Seele dieser kleinen Geschöpfe dürsten nach Luft und Sonnenschein wie die Blumen. Sie sind immer bereit, den Einladungen zu unmittelbarem Verkehr zu folgen, die fortwährend aus der Welt an ihre Sinne gelangen. Aber zum Unglück für die Kinder leben ihre Eltern in ihrer eigenen Welt von Gewohnheiten, wie sie ihr Beruf und die gesellschaftliche Tradition mit sich gebracht haben. Das läßt sich in mancher Beziehung nicht ändern. Denn die Menschen sind durch die Verhältnisse und durch das Bedürfnis nach sozialer Gleichförmigkeit gezwungen, sich nach einer bestimmten Richtung hin zu entwickeln. Aber unsre Kindheit ist die Zeit, wo wir noch frei sind -- oder sein sollten -- frei von dem Zwang, uns innerhalb der engen Grenzen zu entwickeln, welche berufliche und gesellschaftliche Konventionen aufgerichtet haben. Ich erinnere mich noch sehr gut, welch unwilliges Erstaunen ein erfahrener Schuldirektor, der den Ruf hatte, vorzügliche Disziplin zu halten, zeigte, als er sah, wie einer meiner Schüler auf einen Baum kletterte, um oben auf der Gabelung eines Astes seine Aufgaben zu lernen. Ich mußte ihm zur Erklärung sagen: die Kindheit ist die einzige Zeit, wo ein zivilisierter Mensch noch die Wahl hat zwischen den Zweigen eines Baumes und einem Wohnzimmerstuhl; sollte ich, weil mir als einem Erwachsenen dies Vorrecht versagt ist, es darum dem Knaben rauben? Überraschend ist es, daß derselbe Direktor ganz damit einverstanden war, daß die Knaben Botanik studierten. Er legt Gewicht auf eine unpersönliche Kenntnis von dem Baume, weil das Wissenschaft ist, aber er hält nichts von einer persönlichen Bekanntschaft mit ihm. Diese wachsende Erfahrung bildet allmählich den Instinkt, der das Ergebnis der Methode ist, nach welcher die Natur ihre Geschöpfe lehrt. Die Knaben meiner Schule haben eine instinktive Kenntnis von der äußeren Erscheinung des Baumes gewonnen. Durch die leiseste Berührung wissen sie, wo sie auf einem scheinbar ungastlichen Baumstamm Fuß fassen können; sie wissen, wie weit sie sich auf die Zweige wagen dürfen, wie sie ihr Körpergewicht verteilen müssen, um den jungen Ästen nicht zu schwer zu werden. Meine Schüler verstehen es, den Baum auf die bestmögliche Weise zu benutzen, sei es nun, daß sie seine Früchte pflücken, auf seinen Zweigen ausruhen oder sich vor unerwünschten Verfolgern in ihnen verbergen. Ich selbst bin in einem gebildeten städtischen Heim aufgewachsen und habe mich mein ganzes Leben lang so benehmen müssen, als ob ich in einer Welt lebte, in der es keine Bäume gäbe. Daher betrachte ich es als einen Teil meiner Erziehungsaufgabe, meinen Schülern in vollem Maße begreiflich zu machen, daß Bäume in diesem Weltsystem eine wirkliche Tatsache sind, daß sie nicht nur dazu da sind, um Chlorophyll zu erzeugen und die Kohlensäure aus der Luft zu nehmen, sondern daß sie lebendige Wesen sind. Von Natur sind unsre Fußsohlen so gemacht, daß sie die besten Werkzeuge zum Stehen und Gehen auf der Erde sind. Von dem Tage an, wo wir anfingen, Schuhe zu tragen, setzten wir die Bedeutung unsrer Füße herab. Dadurch, daß wir ihre Verantwortlichkeit verminderten, nahmen wir ihnen ihre Würde, und jetzt lassen sie sich Socken und Pantoffeln von allen Preisen und Formen oder Unformen gefallen. Es ist, als ob wir Gott Vorwürfe machten, daß er uns nicht Hufe gegeben hat, statt der mit schöner Empfindungsfähigkeit ausgestatteten Sohlen. Ich will gar nicht die Fußbekleidung völlig aus dem Gebrauch der Menschen verbannen. Aber ich möchte doch dafür eintreten, daß man den Fußsohlen der Kinder die Erziehung, die ihnen die Natur kostenlos gibt, nicht vorenthalten soll. Von allen unsern Gliedern sind die Füße am geeignetsten, mit der Erde durch Berührung vertraut zu werden. Denn die Erde hat ihre fein geschwungenen Konturen, die sich nur ihren echten Liebhabern, den Füßen, zum Kusse darbieten. Ich muß wiederum gestehen, daß ich in einem respektablen Hause aufwuchs, wo meine Füße von klein auf sorgfältig vor der nackten Berührung mit dem Staube gehütet wurden. Wenn ich versuche, es meinen Schülern im Barfußgehen gleichzutun, dann wird es mir schmerzhaft klar, welch dicke Schicht von Unwissenheit in bezug auf die Erde ich unter meinen Füßen trage. Ich suche mit unfehlbarer Sicherheit die Dornen aus, um darauf zu treten, in einer Weise, daß es eine wahre Lust für die Dornen ist. Meinen Füßen fehlt der Instinkt, den Linien zu folgen, die am wenigsten Widerstand bieten. Denn selbst die ebenste Erdfläche hat ihre winzigen Hügel und Täler, die nur fein gebildete Füße spüren. Ich habe mich oft gewundert über das scheinbar zwecklose Zickzack von Wegen, die über vollkommen ebene Felder führten. Und es ist noch unbegreiflicher, wenn man bedenkt, daß ein Fußpfad nicht durch die Laune eines Einzelnen entsteht. Wenn nicht die meisten Fußgänger genau dieselbe Laune hätten, so könnten solche augenscheinlich unzweckmäßigen Steige nicht entstehen. Aber die wahre Ursache liegt in den feinen Eingebungen von seiten der Erde, denen unsre Füße unbewußt folgen. Die, denen solche natürlichen Beziehungen nicht abgeschnitten sind, können die Muskeln ihrer Füße mit großer Schnelligkeit dem geringsten Winke anpassen. So können sie sich gegen das Eindringen von Dornen schützen, selbst wenn sie auf sie treten, und sie können ohne das geringste Unbehagen barfuß über einen Kiesweg gehen. Ich weiß, daß es in der Praxis heutzutage ohne Schuhe, ohne gepflasterte Straßen und ohne Wagen nicht geht. Aber sollte man die Kinder nicht in ihrer Erziehungszeit die Wahrheit erfahren lassen, daß die Welt nicht überall Gesellschaftszimmer ist, daß es so etwas wie Natur gibt, und daß ihre Glieder für den Verkehr mit ihr wunderbar geschaffen sind? Es gibt Leute, welche glauben, daß ich durch die Einfachheit der Lebensweise, die ich in meiner Schule eingeführt habe, das Ideal der Armut, das das Mittelalter beherrschte, predigen will. Ich kann diesen Gegenstand an dieser Stelle nicht nach allen Seiten erörtern; aber wenn wir ihn vom Standpunkt der Erziehung aus betrachten, müssen wir da nicht zugeben, daß die Armut die Schule ist, in der der Mensch seinen ersten Unterricht und seine beste Erziehung empfängt? Selbst der Sohn eines Millionärs wird in hilfloser Armut geboren und muß die Aufgabe seines Lebens von Anfang an lernen. Er muß gehen lernen wie das ärmste Kind, wenn er auch die Mittel hat, ohne Beine durch die Welt zu kommen. Die Armut bringt uns in die engste Berührung mit dem Leben und der Welt, denn als Reicher leben, heißt meistens durch Stellvertreter leben und infolgedessen in einer Welt von geringerer Wirklichkeit. Dies mag gut sein für unser Vergnügen oder unsren Stolz, aber nicht für unsre Erziehung. Der Reichtum ist ein goldener Käfig, in dem den Kindern der Reichen ihre natürlichen Gaben künstlich ertötet werden. Daher mußte ich in meiner Schule, zum Entsetzen der Leute mit kostspieligen Gewohnheiten, für diese große Lehrmeisterin -- diese Dürftigkeit der Ausstattung -- sorgen, nicht um der Armut selbst willen, sondern weil sie zu persönlicher Welterfahrung führt. Mein Vorschlag ist, daß jedem Menschen in seinem Leben ein begrenzter Zeitraum vorbehalten sein müßte, wo er in ursprünglicher Einfachheit das Leben des Naturmenschen lebt. Die geschäftigen Kulturmenschen müssen das ungeborene Kind noch in Frieden lassen. Im Leib der Mutter hat es Muße, die erste Entwicklungsstufe vegetativen Lebens durchzumachen. Aber sobald es geboren ist, ausgerüstet mit allen Instinkten für die nächste Stufe, nämlich für das natürliche Leben, da stürzt sich sofort die Gesellschaft mit ihren kultivierten Gewohnheiten darauf und reißt es aus den offenen Armen von Erde, Wasser und Himmel, von Luft und Sonnenlicht. Zuerst sträubt es sich und weint bitterlich, und dann vergißt es allmählich, daß Gottes ganze Schöpfung sein Erbe ist; dann schließt es seine Fenster, zieht die Vorhänge herab und ist stolz auf das, was es auf Kosten seiner Welt und vielleicht gar seiner Seele angehäuft hat. Die Welt der Zivilisation mit ihren Konventionen und toten Dingen beherrscht die Mitte des täglichen Lebenslaufs. Anfang und Ende desselben sind nicht ihr Reich. Ihre ungeheure Kompliziertheit und ihre Anstandsregeln haben ihren Nutzen. Aber wenn sie sie als Selbstzweck ansieht und es zur Regel macht, daß dem Menschen kein grünes Fleckchen bleibt, wohin er aus ihrem Gebiet von Rauch und Lärm, von drapierter und dekorierter Korrektheit, fliehen kann, dann leiden die Kinder, und bei der Jugend entsteht Weltmüdigkeit, während das Alter es verlernt, in Frieden und Schönheit alt zu werden, und nichts weiter als verfallene Jugend ist, die sich ihrer Löcher und Flicken schämt. Es ist jedoch gewiß, daß die Kinder, als sie bereit waren, auf dieser Erde geboren zu werden, kein Verlangen hatten nach einer so eingeengten und verhangenen Welt äußeren Anstands. Wenn sie geahnt hätten, daß sie ihre Augen dem Licht nur öffneten, um sich in der Gewalt des Schulbetriebes zu finden, bis sie die Frische ihres Geistes und die Schärfe ihrer Sinne verloren haben, so würden sie es sich noch einmal überlegt haben, bevor sie sich auf die menschliche Lebensbahn wagten. Gottes Einrichtungen haben nicht die Anmaßung spezieller Einrichtungen. Sie haben immer die Harmonie der Ganzheit und des ununterbrochenen Zusammenhanges mit allen Dingen. Was mich daher in meiner Schulzeit quälte, war die Tatsache, daß die Schule nicht die Vollständigkeit der Welt hatte. Sie war eine besondere Einrichtung für den Unterricht. Sie konnte nur für Erwachsene passen, die sich der besonderen Notwendigkeit solcher Orte bewußt und bereit waren, mit dem Unterricht die Trennung vom Leben in den Kauf zu nehmen. Aber Kinder lieben das Leben, und es ist ihre erste Liebe. Es lockt sie mit all seinen Farben und seiner Bewegung. Und sind wir unsrer Weisheit so sicher, wenn wir diese Liebe ersticken? Kinder werden nicht als Asketen geboren, daß sie geeignet wären, sich sogleich der Mönchszucht zu unterwerfen, indem sie ihr Streben ganz auf den Erwerb von Kenntnissen richten. Ihr erstes Wissen sammeln sie durch ihre Liebe zum Leben, dann entsagen sie dem Leben, um Wissen zu erwerben, und endlich kehren sie mit reicher Weisheit zum volleren Leben zurück. Aber die Gesellschaft hat ihre eigenen Einrichtungen getroffen, um den Geist der Menschen nach ihrem besonderen Muster zuzustutzen. Diese Einrichtungen sind so dicht gefügt, daß es schwer ist, eine Lücke zu finden, wo die Natur hineinkommen kann. Eine ganze Reihenfolge von Strafen droht dem, der es wagt, gegen irgendeine dieser Einrichtungen zu verstoßen, und gelte es auch sein Seelenheil. Daher heißt, die Wahrheit erkennen, noch nicht, sie praktisch anwenden, da der ganze Strom des herrschenden Systems ihr entgegenläuft. So kam es, daß ich bei der Frage, welche Erziehung ich meinem Sohn geben sollte, in Verlegenheit war, wie ich sie praktisch lösen könnte. Das erste, was ich tat, war, daß ich ihn aus der städtischen Umgebung fortnahm und in ein Dorf brachte, wo er, soweit es heutzutage möglich ist, ein Leben in natürlicher Freiheit leben konnte. Da war ein Fluß, der als gefährlich bekannt war; hier konnte er nach Herzenslust schwimmen und rudern, ohne durch die Ängstlichkeit der Erwachsenen gehindert zu werden. Er verbrachte seine Zeit draußen im Feld und auf den unbetretenen Sandbänken, und niemand stellte ihn zur Rede, wenn er zu spät zum Essen kam. Er besaß keinen von jenen Luxusgegenständen, die Knaben seines Standes sonst haben und von denen man meint, daß sie sie anständigerweise haben müssen. Ich bin sicher, daß die Leute, denen die Gesellschaft die Welt bedeutet, ihn wegen dieser Entbehrungen bemitleideten und seine Eltern tadelten. Aber ich wußte, daß Luxusgegenstände für Knaben eine Last sind, die Last der Gewohnheiten anderer, die Last, die sie um des Stolzes und Vergnügens ihrer Eltern willen tragen müssen. Doch als Einzelner, mit beschränkten Mitteln, konnte ich meinen Erziehungsplan nur zum Teil ausführen. Immerhin hatte mein Sohn Bewegungsfreiheit; es waren nur sehr wenige von den Schranken geblieben, die der Reichtum und die Gesetze äußeren Anstandes zwischen den Menschen und der Natur aufrichten. So hatte er eine bessere Gelegenheit, diese Welt wirklich kennen zu lernen, als ich sie je gehabt habe. Aber eine Frage beschäftigte mich, die mir wichtiger schien als alles andere. Das Ziel der Erziehung ist nicht, dem Menschen einzelne Kenntnisse zu vermitteln, sondern ihn zur Erkenntnis der Wahrheit als Ganzes zu führen. Früher, als das Leben noch einfach war, da waren all die verschiedenen Elemente des Menschen in vollständiger Harmonie. Aber als das Intellektuelle sich vom Seelischen und Physischen trennte, legte die Schulerziehung den ganzen Nachdruck auf die intellektuelle und physische Seite des Menschen. Wir widmen unsre ganze Aufmerksamkeit der Vermittlung von Kenntnissen und bedenken nicht, daß wir durch diese einseitige Ausbildung des Intellekts einen Bruch herbeiführen zwischen dem intellektuellen, physischen und seelischen Leben des Kindes. Ich glaube an eine geistige Welt, nicht als etwas, was außerhalb dieser Welt ist, sondern als ihre innerste Wahrheit. Mit jedem Atemzuge müssen wir diese Wahrheit fühlen: daß wir in Gott leben. Als Kinder dieser großen Welt, die erfüllt ist von dem Geheimnis des Unendlichen, können wir unser Dasein nicht als eine flüchtige Laune des Zufalls ansehen, das auf dem Strom der Materie einem ewigen Nichts zutreibt. Wir können unser Leben nicht ansehen als Traumgebilde eines Träumers, für den es nie ein Erwachen gibt. Wir sind als Persönlichkeiten geschaffen, für die Stoff und Kraft nichts bedeuten, wenn sie nicht auf eine unendliche Persönlichkeit bezogen werden, deren Natur wir in gewissem Maße wiederfinden in der menschlichen Liebe, in der Größe des Guten, im Martyrium der Heldenseelen, in der unaussprechlichen Schönheit der Natur, die nicht eine rein physische Tatsache, sondern nur der Ausdruck einer Persönlichkeit sein kann. Die Erfahrung dieser geistigen Welt, die uns nicht zuteil wird, weil wir von klein auf gewöhnt werden, sie zu übersehen, müssen die Kinder dadurch gewinnen, daß sie ganz darin leben; sie kann ihnen nicht durch theologische Belehrung zugänglich gemacht werden. Aber wie dies geschehen soll, ist heutzutage ein schwieriges Problem. Denn die Menschen haben es fertig gebracht, ihre Zeit so zu besetzen, daß sie gar nicht Muße haben, darüber nachzudenken, wie ihre ganze Tätigkeit nur Bewegung ist, ohne wahren Sinn, und wie heimatlos ihre Seele ist. In Indien halten wir noch die Überlieferung von den Waldkolonien großer Lehrer in hohen Ehren. Diese Orte waren weder Schulen noch Klöster im heutigen Sinn des Wortes. Sie bestanden aus Heimstätten, wo Männer mit ihrer Familie lebten, deren Ziel war, die Welt in Gott zu sehen und ihr eigenes Leben in ihm zu begreifen. Obgleich sie außerhalb der menschlichen Gesellschaft lebten, so waren sie ihr doch, was die Sonne den Planeten ist, der Mittelpunkt, von dem sie Leben und Licht empfing. Und hier wuchsen die Knaben auf im nahen Anschauen des Ewigen, bevor man sie für geeignet hielt, Haupt einer Familie zu werden. So war im alten Indien Schule und Leben vereinigt. Da wurden die Schüler nicht in der akademischen Atmosphäre von Gelehrsamkeit und Wissenschaft oder in dem verstümmelten Leben mönchischer Abgeschlossenheit erzogen, sondern in der Atmosphäre lebendigen Wirkens und Strebens. Sie brachten das Vieh auf die Weide, sammelten Brennholz, pflückten Obst, waren gütig zu allen Geschöpfen und nahmen zu an Geist zugleich mit ihren Lehrern. Dies war möglich, weil der Hauptzweck dieser Orte nicht der Unterricht war, sondern denen Zuflucht und Schutz zu bieten, die ein Leben in Gott leben wollten. Daß diese Überlieferung von dem familienhaften Zusammenleben von Lehrern und Schülern nicht eine bloße romantische Erdichtung ist, sehen wir noch an vereinzelten Schulen, die ein Überbleibsel dieses einheimischen Erziehungssystems sind. Dies System ist, nachdem es Jahrhunderte hindurch seine Unabhängigkeit bewahrt hat, jetzt im Begriff, der bureaukratischen Kontrolle der Fremdherrschaft zu erliegen. Diese _catuspāṭhī_, wie man auf Sanskrit die Universitäten nennt, haben nicht den Charakter einer Schule. Die Schüler leben im Hause ihres Lehrers wie die Kinder des Hauses, ohne für Wohnung, Kost und Erziehung zu bezahlen. Der Lehrer geht seinen eigenen Studien nach, indem er ein Leben der Einfachheit lebt und seinen Schülern bei ihrem Studium hilft, was er nicht als sein Geschäft betrachtet, sondern als einen Teil seines Lebens. Dies Ideal einer Erziehung, die darin besteht, daß der Schüler an dem Leben und hohen Streben seines Lehrers teilnimmt, ließ mich nicht los. Die kerkerhafte Enge unsrer Zukunft und die Trostlosigkeit unsrer beschnittenen Möglichkeiten drängten mich nur noch mehr zu seiner Verwirklichung. Die in anderen Ländern mit unbegrenzten Aussichten auf weltlichen Gewinn begünstigt sind, können sich solche Dinge zum Ziel der Erziehung setzen. Der Spielraum ihres Lebens ist mannigfach und weit genug, um ihnen die Freiheit zu gewähren, die sie zur Entfaltung ihrer Kräfte brauchen. Aber wenn wir die Selbstachtung bewahren sollen, die wir uns und unserm Schöpfer schulden, so darf unser Erziehungsziel nicht hinter dem höchsten Ziel des Menschen überhaupt, der größten Vollkommenheit und Freiheit der Seele zurückbleiben. Es ist kläglich, wenn man nach kleinen Gaben irdischen Besitzes haschen muß. Laßt uns nur trachten nach dem Zugang zum Leben, das über alle äußeren Lebenslagen erhaben ist und über den Tod hinausgeht, laßt uns Gott suchen, laßt uns leben für jene endgültige Wahrheit, die uns frei macht von der Knechtschaft des Staubes und uns den wahren Reichtum gibt: nicht Reichtum an toten Dingen, sondern an innerem Licht, nicht an Macht, sondern an Liebe. Solche Befreiung der Seele haben wir in unserm Lande gefunden bei Menschen, denen jede Bücherweisheit fehlte und die in vollständiger Armut lebten. Wir haben in Indien das Erbe dieses Schatzes geistiger Weisheit. Laßt das Ziel unsrer Erziehung sein, es vor uns auszubreiten und die Kraft zu gewinnen, im Leben den rechten Gebrauch davon zu machen, auf daß wir es einst, wenn die Zeit kommt, der übrigen Welt darbieten als unsern Beitrag zu ihrem ewigen Heil. Ich war ganz in meine literarische Tätigkeit vertieft, als dieser Gedanke mich mit schmerzhafter Heftigkeit packte. Ich hatte plötzlich ein Gefühl wie jemand, der unter einem Alpdruck stöhnt. Nicht nur meine eigene Seele, sondern die Seele meines Landes schien in mir nach Atem zu ringen. Ich fühlte klar, daß das, was uns not tut, nicht materieller Art ist, nicht Reichtum, Behagen oder Macht, sondern ein Erwachen zum vollen Bewußtsein unsrer seelischen Freiheit, der Freiheit, ein Leben in Gott zu führen, wo wir nicht in Feindschaft leben mit denen, die nicht anders können als kämpfen, und nicht im Wettbewerb mit denen, deren einziges Ziel Geldgewinn ist, wo wir vor allen Angriffen und Schmähungen sicher sind. Zum Glück hatte ich schon einen Platz bereit, wo ich meine Arbeit beginnen konnte. Mein Vater hatte auf einer seiner zahlreichen Reisen sich diesen einsamen Ort erwählt, der ihm geeignet schien zu einem Leben stiller Gemeinschaft mit Gott. Diesen Ort hatte er mit allem, was zum Lebensunterhalt nötig war, denen gestiftet, die Ruhe und Abgeschlossenheit für religiöse Übungen und Betrachtungen suchten. Ich hatte etwa zehn Knaben bei mir, als ich dorthin ging, und begann mein neues Leben ohne irgendwelche frühere Erfahrung. Die Gegend, die unsre Einsiedelei umgibt, ist weites offenes Land, ganz kahl bis an den Horizont hin, nur daß hier und da ein paar verkümmerte Dattelpalmen oder Dornsträucher die Ameisenhügel zu überragen suchen. Jenseits der Felder und tiefer als diese erstreckt sich eine Fläche mit zahllosen Erdhügeln und kleinen Hügelchen von rotem Kies und Kieseln von allen Formen und Farben, die von schmalen Regenrinnen durchschnitten wird. In geringer Entfernung nach Süden zu, nahe beim Dorfe, sieht man durch eine Reihe von Palmen hindurch die stahlblaue Fläche des Wassers glitzern, das sich in einer Vertiefung des Bodens angesammelt hat. Ein Pfad, den die Dorfleute benützen, wenn sie ihre Einkäufe in der Stadt machen, schlängelt sich durch die einsamen Felder und schimmert rötlich in der Sonne. Die Reisenden, die diesen Pfad hinaufkommen, können schon in der Ferne auf dem höchsten Punkt des welligen Hügellandes die Spitze eines Tempels und das Dach eines Gebäudes sehen. Denn hier liegt inmitten von Myrobalanenhainen die Einsiedelei Santi-Niketan, zu der eine Allee von stattlichen Salbäumen hinanführt. Und hier hat sich nun seit mehr als fünfzehn Jahren die Schule entwickelt. Manchen Wechsel und manche ernste Krisis hat sie erlebt. Da ich den üblen Ruf hatte, ein Dichter zu sein, wurde es mir sehr schwer, das Vertrauen meiner Landsleute zu gewinnen und dem Verdacht der Bureaukratie zu entgehen. Wenn ich am Ende einen gewissen Erfolg hatte, so liegt es daran, daß ich ihn nie erwartete, sondern meinen eigenen Weg ging, ohne auf Beifall, Rat oder Hilfe von außen zu warten. Meine Mittel waren außerordentlich gering, da das Unternehmen mich tief in Schulden gestürzt hatte. Aber diese Armut selbst gab mir Kraft und lehrte mich, mein Vertrauen auf die Macht der Idee zu setzen, statt auf äußere Hilfsmittel. Da die Entwicklung der Schule meine eigene Entwicklung bedeutete und nicht die bloße Verwirklichung meiner Theorien, so wandelten sich ihre Ideale auch während ihres Reifens, wie eine reifende Frucht nicht nur größer wird und sich tiefer färbt, sondern auch in der Beschaffenheit ihres Fleisches Veränderungen erfährt. Als ich anfing, hatte ich die Idee, daß ich einen wohltätigen Zweck verfolgte. Ich arbeitete angestrengt; doch die einzige Befriedigung, die ich hatte, war, daß ich mir ausrechnete, welche Opfer an Geld und Kraft und Zeit ich brachte, und dabei meine unermüdliche Güte bewunderte. Aber was dabei herauskam, hatte wenig Wert. Ich baute nur immer ein System auf das andere auf, um nachher alles wieder umzureißen. So tat ich im Grunde nichts anderes, als meine Zeit ausfüllen; was ich schuf, war innerlich leer. Ich weiß noch, wie ein alter Schüler meines Vaters kam und zu mir sagte: »Was ich hier sehe, ist wie ein Hochzeitssaal, wo alles bereit ist, nur der Bräutigam fehlt.« Der Fehler, den ich gemacht hatte, war, daß ich meinte, mein eigener Zweck sei dieser Bräutigam. Aber allmählich fand mein Herz diesen Mittelpunkt. Er war nicht in der Arbeit, nicht in meinen Wünschen, sondern in der Wahrheit. Ich saß allein auf der oberen Terrasse des Hauses Santi-Niketan und schaute auf die Baumwipfel der Salallee vor mir. Ich löste mein Herz los von meinen eigenen Plänen und Berechnungen, von den Kämpfen des Tages, und hob es schweigend hinauf zu dem, dessen Gegenwart und Frieden den Himmel durchflutete, und allmählich wurde mein Herz von ihm erfüllt. Ich begann, die Welt rings um mich her mit den Augen meiner Seele zu sehen. Die Bäume erschienen mir wie stille Lobgesänge, die aus dem stummen Herzen der Erde aufstiegen, und das Rufen und Lachen der Knaben, das durch die Abendluft zu mir herauftönte, erklang mir wie ein Quell von lebendigen Tönen, der aus der Tiefe des Menschenlebens aufstieg. Ich vernahm die Botschaft in dem Sonnenlicht, das meine Seele in ihrer Tiefe berührte, und ich fühlte ein süßes Gestilltsein in den Lüften, die das Wort des alten Meisters zu mir sprachen: »_Ko hy evānyāt kaḥ prānyāt yady eṣa ākāśa ānando na syāt._«[15] »Wer könnte je in dieser Welt leben und hoffen und streben, wenn der Raum nicht mit Liebe gefüllt wäre.« Und als ich dann den Kampf um Erfolg und meinen Ehrgeiz, andern wohlzutun, aufgab und das eine, was not tut, begriff; als ich fühlte, daß der, der sein eigenes Leben in Wahrheit lebt, das Leben der ganzen Welt lebt, da klärte sich die trübe Atmosphäre äußeren Kampfes, und die natürliche Schöpferkraft brach sich Bahn zum Kern aller Dinge. Und wenn es jetzt noch mancherlei Oberflächliches und Wertloses im Betrieb unsrer Anstalt gibt, so hat es seine Ursache in dem Mißtrauen gegen den Geist, das uns noch immer anhaftet, in der unausrottbaren Überzeugung von unsrer eigenen Wichtigkeit, in der Gewohnheit, die Ursache unserer Fehlschläge anderswo als bei uns zu suchen, und in dem Bestreben, alle Lockerheit und Schlaffheit in unsrer Arbeit dadurch wieder gutzumachen, daß wir die Schrauben der Organisation fester anziehen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, daß da, wo der Eifer, andere zu belehren, allzu groß ist, besonders wenn es sich um geistige Dinge handelt, das Ergebnis dürftig und nicht ganz wahr ist. Alle Heuchelei und Selbsttäuschung bei unsern religiösen Überzeugungen und Übungen sind die Folge von dem Übereifer geistlicher Mentoren. Auf geistigem Gebiet ist Erwerben und Spenden eins; wie die Lampe andern Licht gibt, sobald sie selbst leuchtet. Wenn ein Mensch es zu seinem Beruf macht, seinen Mitmenschen Gott zu predigen, so wird er viel mehr Staub aufwirbeln, als zur Wahrheit führen. Religion läßt sich nicht in der Form von Unterricht mitteilen, sondern nur durch religiöses Leben selbst. So bewährt sich das Ideal der Waldkolonie jener Gottsucher auch heute noch als die wahre Schule religiösen Lebens. Religion ist nicht etwas, was man in Stücke zerlegen und in bestimmten Wochen- oder Tagesrationen austeilen kann als eins der verschiedenen Fächer des Schulprogramms. Sie ist die Wahrheit unsres ganzen Seins, das Bewußtsein unsrer persönlichen Beziehung zum Unendlichen; sie ist der wahre Schwerpunkt unsres Lebens. Sie kann uns in unsrer Kindheit zuteil werden, wenn wir ganz an einem Orte leben, wo die Wahrheit der geistigen Welt nicht durch eine Menge von Notwendigkeiten verdunkelt wird, die sich Bedeutung anmaßen; wo das Leben einfach ist und reich an Muße, an Raum und reiner Luft und an dem tiefen Frieden der Natur, und wo die Menschen in festem Glauben den Blick auf das Ewige gerichtet haben. Nun wird man mich fragen, ob ich in meiner Schule das Ideal erreicht habe. Ich muß darauf antworten, daß die Erreichung unsrer höchsten Ideale sich schwer nach äußern Maßstäben messen läßt. Ihre Wirkung läßt sich nicht gleich an Resultaten nachweisen. Wir tragen in unsrer Einsiedelei den Ungleichheiten und Mannigfaltigkeiten des menschlichen Lebens in vollem Maße Rechnung. Wir versuchen nie, eine Art äußere Gleichförmigkeit zu erzielen, indem wir die Verschiedenheiten der Anlage und Erziehung unsrer Schüler auszurotten suchen. Einige von uns gehören zur Sekte des Brāhma Samādsch, einige zu andern Hindu-Sekten, und einige von uns sind Christen. Da wir uns nicht mit Bekenntnissen und Dogmen beschäftigen, entstehen aus der Verschiedenheit unsres religiösen Glaubens durchaus keine Schwierigkeiten. Auch weiß ich, daß das Gefühl von Ehrfurcht für das Ideal dieser Schule und für das Leben, das wir hier führen, unter denen, die sich in dieser Einsiedelei versammelt haben, an Ernst und Tiefe sehr verschieden ist. Ich weiß, daß unsre Begeisterung für ein höheres Leben doch noch immer nicht weit hinausgekommen ist über unser Trachten nach weltlichen Gütern und weltlichem Ruhm. Und doch bin ich vollkommen gewiß und habe zahlreiche Beweise dafür, daß das Ideal unsrer Einsiedelei von Tag zu Tag immer mehr in unsrer Natur Wurzel faßt. Ohne daß wir es merken, werden die Saiten unsres Lebens zu immer reinerem, seelenvollerem Klang gestimmt. Was es auch war, das uns zuerst hierher führte, durch alle Disharmonie tönt doch unaufhörlich der Ruf: _śāntam, śivam, advaitam_ -- du Gott des Friedens, Allgütiger, Einziger! Die Luft scheint hier von der Stimme des Unendlichen erfüllt, die dem Frieden des frühen Morgens und der Stille der Nacht tiefen Sinn gibt und durch die weißen Scharen von _shiuli_-Blumen im Herbst und _mālatī_-Blumen im Sommer das Evangelium von der Schönheit predigt, die anbetend sich selbst als Opfer darbringt. Es ist schwer für die, die nicht Inder sind, sich klar zu machen, welche Vorstellungen sich alle mit dem Wort _āśrama_, Waldheiligtum, verbinden. Denn es blühte wie die Lotusblume in Indien unter einem Himmel, der freigebig ist mit Sonnenlicht und Sternenglanz. Indiens Klima ruft uns ins Freie; die Stimme seiner mächtigen Ströme ertönt in feierlichem Gesang; die endlose Weite seiner Ebenen umgibt unsre Heimstätten mit dem Schweigen einer andern Welt; die Sonne steigt am Rand der grünen Erde auf wie eine Opferflamme, die das Unsichtbare auf dem Altar des Unbekannten entzündet, und sie steigt am Abend im Westen herab wie ein prächtiges Freudenfeuer, mit dem die Natur das Ewige begrüßt. In Indien ist der Schatten der Bäume gastlich, der Staub der Erde streckt seine braunen Arme nach uns aus, die Luft schlägt liebend ihren warmen Mantel um uns. Das sind die unwandelbaren Tatsachen, die immer wieder zu unsrer Seele sprechen, und daher empfinden wir es als Indiens Aufgabe, durch diese Verbundenheit mit der Seele der Welt die menschliche Seele als eins mit der göttlichen Seele zu erkennen. Diese Aufgabe hat in den Waldschulen der alten Zeit ihre natürliche Form gefunden. Und sie treibt uns an, das Unendliche in allen Gestalten der Schöpfung, in den Beziehungen menschlicher Liebe zu suchen; es zu fühlen in der Luft, die wir atmen, in dem Licht, dem wir unsre Augen öffnen, im Wasser, in dem wir baden, in der Erde, auf der wir leben und sterben. Daher weiß ich -- und weiß es aus eigener Erfahrung --, daß die Schüler und Lehrer, die sich in dieser Einsiedelei zusammengefunden haben, an Freiheit des Geistes täglich wachsen und immer mehr eins werden mit dem Unendlichen, nicht durch irgendwelchen Unterricht oder äußere Übungen, sondern kraft der unsichtbaren geistigen Atmosphäre, die diesen Ort umgibt, und des Andenkens an einen frommen Mann, der hier in inniger Gemeinschaft mit Gott lebte. Ich hoffe, es ist mir gelungen, darzulegen, wie das bewußte Streben, das mich leitete, als ich meine Schule in der Einsiedelei gründete, allmählich seine Selbständigkeit verlor und eins wurde mit dem Streben, das die Seele dieses Ortes ist. Mit einem Wort: mein Werk erhielt seine Seele durch den Geist der Einsiedelei. Aber diese Seele hat ohne Zweifel ihre äußere Gestalt in der Einrichtung der Schule. Und ich habe alle diese Jahre hindurch versucht, in dem Lehrsystem dieser Schule meine Erziehungstheorie zu verwirklichen, die sich auf meine Erfahrung von der Kindesseele gründet. Ich glaube, wie ich schon vorher andeutete, daß das unbewußte Empfinden bei den Kindern viel tätiger ist als das bewußte Denken. Eine große Menge der wichtigsten Lehren ist uns durch jenes vermittelt. Die Erfahrungen zahlloser Generationen sind uns durch seine Wirksamkeit in Fleisch und Blut übergegangen, nicht nur ohne uns zu ermüden, sondern so, daß sie uns froh machten. Diese unterbewußte Fähigkeit des Gewahrwerdens ist ganz eins mit unserm Leben. Sie ist nicht wie eine Laterne, die man von außen anzündet und putzt, sondern wie das Licht, das der Glühwurm durch die Ausübung seiner Lebensfunktionen erzeugt. Zu meinem Glück wuchs ich in einer Familie auf, wo der Sinn für Literatur, Musik und Kunst instinktiv geworden war. Meine Brüder und Vettern lebten im freien Reich der Gedanken, und die meisten von ihnen hatten natürliche künstlerische Anlagen. Durch solche Umgebung angeregt, begann ich früh zu denken und zu träumen und meine Gedanken zum Ausdruck zu bringen. In bezug auf religiöse oder soziale Anschauungen war unsre Familie frei von aller Konvention, da sie wegen ihrer Abweichung von orthodoxen Glaubenslehren und Sitten von der Gesellschaft in den Bann getan war. Dies machte uns furchtlos in unsrer geistigen Freiheit, und wir wagten neue Versuche auf allen Gebieten des Lebens. So war die Erziehung, die ich in meiner frühesten Kindheit hatte, Freiheit und Freude in der Übung meiner geistigen und künstlerischen Kräfte. Und weil dies meinem Geist lebhaft zum Bewußtsein brachte, wo sein natürlicher Nährboden war, wurde die Schleifmühle des Schulbetriebes so unerträglich für mich. Diese Erfahrung aus meiner frühen Kindheit war alles, was ich an Schulerfahrung hatte, als ich an mein Unternehmen ging. Ich fühlte, daß das Wichtigste und Notwendigste nicht die äußere Lehrmethode, sondern der lebendige Odem der Kultur selbst war. Zum Glück für mich gewann Satish Chandra Roy, ein hochbegabter junger Student, der sich auf sein Staatsexamen vorbereitete, lebhaftes Interesse für meine Schule und machte es sich zur Lebensaufgabe, meine Idee auszuführen. Er war erst neunzehn Jahre alt, aber ein Mensch von hohem Geistesfluge, mit einer für alles Große und Schöne wunderbar empfänglichen Seele. Er war ein Dichter, der sicher unter den Unsterblichen der Weltliteratur seinen Platz gefunden hätte, wenn er am Leben geblieben wäre; aber er starb schon mit zwanzig Jahren und konnte so unsrer Schule seine Kraft nur ein kurzes Jahr lang widmen. Bei ihm hatten die Knaben nie das Gefühl, auf ihr Unterrichtsfach beschränkt zu sein, sondern es war, als öffnete er ihnen alle Tore der Welt. Mit ihm gingen sie in den Wald, wenn im Frühling die Salbäume in voller Blüte standen; dann deklamierte er ihnen, ganz berauscht von Begeisterung, seine Lieblingsgedichte. Er las ihnen Shakespeare und selbst Browning -- denn er war ein großer Verehrer Brownings -- und erläuterte ihnen mit wunderbarer Kraft des Ausdrucks die Dichtungen in bengalischer Sprache. Niemals zweifelte er an der Verständnisfähigkeit der Knaben, er sprach und las ihnen über jeden Gegenstand, der ihn selbst interessierte. Er wußte, daß es durchaus nicht nötig war, daß die Schüler alles wörtlich und genau verstanden, sondern daß ihr Geist aufgerüttelt und ihre Seelen geweckt wurden, und dies gelang ihm immer. Er war nicht, wie andre Lehrer, ein bloßer Vermittler von Bücherwissen. Er gestaltete seinen Unterricht persönlich, er schöpfte aus seiner eigenen Tiefe, und daher war das, was er den Schülern bot, lebendige Nahrung, die die lebendige menschliche Natur sich leicht aneignet. Der wahre Grund seines Erfolges war seine intensive Teilnahme an dem Leben, an den Ideen, an allem um ihn her, vor allem an den Knaben, die mit ihm in Berührung kamen. Er schöpfte seine Begeisterung nicht aus Büchern, sondern aus der unmittelbaren Berührung seiner empfänglichen Seele mit der Welt. Der Wechsel der Jahreszeiten hatte auf ihn dieselbe Wirkung wie auf die Pflanzen. Er schien in seinem Blut die unsichtbaren Boten der Natur zu spüren, die immer durch den Weltenraum eilen, in der Luft schweben, am Himmel schimmern und aus den Wurzeln der Grashalme aus der Erde herauftönen. Seine Literaturstudien hatten nicht den Modergeruch der Bibliothek an sich. Er hatte die Gabe, die Ideen so greifbar deutlich und lebendig vor sich zu sehen, wie er seine Freunde sah. So hatten die Knaben unsrer Schule das seltene Glück, ihren Unterricht von einem lebendigen Lehrer und nicht aus Büchern zu erhalten. Haben nicht unsre Bücher, wie die meisten Dinge des täglichen Gebrauchs, sich zwischen uns und unsre Welt gestellt? Wir haben uns gewöhnt, die Fenster unsres Geistes mit ihren Seiten zu verdecken und Bücherphrasen als Pflaster auf unsre geistige Haut zu kleben, so daß sie für jede direkte Berührung der Wahrheit unempfindlich geworden ist. Wir haben uns aus einer ganzen Welt von Bücherweisheit eine Festung gebaut mit hohen Ringmauern, wohinter wir uns verschanzt haben und vor der Berührung mit Gottes Schöpfung sicher sind. Gewiß würde es töricht sein, den Wert von Büchern im allgemeinen zu bestreiten. Aber man muß auch zu gleicher Zeit zugeben, daß Bücher ihre Grenzen und ihre Gefahren haben. Jedenfalls sollten den Kindern in den ersten Jahren ihrer Erziehung die Wahrheiten, die sie zu lernen haben, auf natürlichem Wege, das heißt durch die Menschen und die Dinge selbst vermittelt werden. Da ich hiervon überzeugt bin, habe ich alles, was ich konnte, getan, um in unsrer Einsiedelei eine geistige Atmosphäre zu schaffen. Ich mache Lieder, aber ich mache sie nicht eigens für die Jugend zurecht. Es sind Lieder, die ein Dichter sich zu seiner eigenen Freude singt. So sind die meisten meiner Gitanjali-Lieder hier entstanden. Diese Lieder singe ich, so wie sie mir erblühen, den Knaben vor, und sie kommen scharenweise, um sie zu lernen. Sie singen sie in ihren Mußestunden, in Gruppen unter freiem Himmel sitzend, in Mondscheinnächten oder im Schatten der drohenden Juliwolken. Alle meine späteren Dramen sind hier entstanden und unter Teilnahme der Knaben aufgeführt. Ich habe ihnen lyrische Dramen für ihre Jahresfeste geschrieben. Sie dürfen immer dabei sein, wenn ich den Lehrern irgend etwas von meinen neuen Sachen in Prosa oder Versen vorlese, welchen Inhalts es auch sei. Und von dieser Erlaubnis machen sie Gebrauch, ohne daß der geringste Druck auf sie ausgeübt wird, ja, sie sind sehr traurig, wenn sie nicht aufgefordert werden. Einige Wochen vor meiner Abreise von Indien las ich ihnen Brownings Drama »Luria« und übertrug es, während ich las, ins Bengalische. Es nahm zwei Abende in Anspruch, aber die zweite Versammlung war ebenso zahlreich wie die erste. Wer gesehen hat, wie diese Knaben ihre Rollen spielen, ist überrascht, wie stark sie als Schauspieler wirken. Das kommt daher, weil sie nie eigentlichen Unterricht in dieser Kunst gehabt haben. Sie erfassen instinktiv den Geist der Dichtung, obgleich diese Dramen keine bloßen Schuldramen sind und ein feines Verständnis und Mitempfinden erfordern. Bei aller Ängstlichkeit und überkritischen Empfindlichkeit, die ein Dichter der Aufführung seines Stückes gegenüber hat, war ich nie enttäuscht von meinen Schülern, und ich habe selten einem Lehrer erlaubt, die Knaben in ihrer eigenen Darstellung der Charaktere zu stören. Häufig schreiben sie selbst Stücke oder improvisieren sie, und dann werden wir zu der Aufführung eingeladen. Sie haben ihre literarischen Vereine und haben mindestens drei illustrierte Zeitschriften, die von drei Gruppen der Schule geleitet werden. Die interessanteste dieser Zeitschriften ist die der »Kleinen«. Eine ganze Anzahl unsrer Schüler haben ein beachtenswertes Talent für Zeichnen und Malerei gezeigt. Wir entwickeln dies Talent nicht mit Hilfe der alten, hier in den Schulen noch immer üblichen Kopiermethode, sondern lassen die Schüler ihrer eigenen Neigung folgen und helfen ihnen nur dadurch, daß wir hin und wieder Künstler zu uns einladen, die die Knaben durch ihre eigenen Arbeiten anregen und begeistern. Als ich meine Schule anfing, zeigten die Knaben keine besondere Liebe zur Musik. Daher stellte ich zuerst noch keinen Musiklehrer an und zwang die Knaben nicht, Musikstunden zu nehmen. Ich sorgte nur für Gelegenheiten, wo die, die für diese Kunst begabt waren, sie üben und zeigen konnten. Dies hatte die Wirkung, daß das Ohr der Knaben sich unbewußt übte. Und als nach und nach die meisten von ihnen große Neigung und Liebe zur Musik zeigten und ich sah, daß sie bereit sein würden, regelrechten Unterricht darin zu nehmen, berief ich einen Musiklehrer. In unsrer Schule stehen die Knaben des Morgens sehr früh auf, bisweilen vor Tagesanbruch. Sie besorgen selbst das Wasser für ihr Bad. Sie machen ihre Betten. Sie tun alle die Dinge, die den Geist der Selbsthilfe in ihnen entwickeln. Ich glaube an den Wert regelmäßiger religiöser Betrachtung, und ich setze morgens und abends eine Viertelstunde dafür an. Ich halte darauf, daß diese Zeit innegehalten wird, ohne jedoch von den Knaben zu erwarten, daß sie so tun, als ob sie in religiöse Betrachtungen versenkt wären. Aber ich verlange, daß sie still sind, daß sie Selbstbeherrschung üben, wenn sie auch, statt an Gott zu denken, die Eichhörnchen beobachten, die die Bäume hinauflaufen. Jede Schilderung solcher Schule kann nicht anders als unzulänglich sein. Denn das Wichtigste von ihr ist ihre Atmosphäre und die Tatsache, daß es keine Schule ist, die den Knaben von autokratischen Behörden aufgezwungen ist, in der sie ihr eigenes Leben leben sollen. Sie nehmen teil an der Schulverwaltung, und in Straffällen verlassen wir uns meistens auf ihren eigenen Gerichtshof. Zum Schluß möchte ich meine Zuhörer warnen, ein falsches oder übertriebenes Bild von dieser Einsiedelei mit nach Hause zu nehmen. Wenn man so seine Ideen vorträgt, so erscheinen sie ganz einfach und vollkommen. Aber ihre Verkörperung in der Wirklichkeit ist nicht so klar und vollkommen, weil das Material lebendig und mannigfach und immer wechselnd ist. Es treten uns Hindernisse entgegen sowohl in der menschlichen Natur wie in den äußeren Umständen. Einige von uns vergessen nur zu leicht, daß die Geister der Knaben lebendige Organismen sind, und andere sind von Natur geneigt, das Gute mit Gewalt durchsetzen zu wollen. Die Knaben ihrerseits sind nicht alle in gleichem Maße empfänglich, und so haben wir manchen Mißerfolg zu verzeichnen. Vergehen treten unerwartet auf, die uns an der wirkenden Kraft unsrer Ideale zweifeln lassen. Es kommen trübe Zeiten, voll von Rückschlägen und Zweifeln. Aber dies Schwanken und diese Konflikte gehören nun einmal zum wahren Bilde des wirklichen Lebens. Lebendige Ideale können nicht als Uhrwerk aufgezogen werden, das nun jede Sekunde genau angibt. Und wer den festen Glauben an ein Ideal hat, muß die Wahrheit desselben dadurch beweisen, daß er sich durch die niemals ausbleibenden Widerstände und Mißerfolge nicht vom Wege abbringen läßt. Ich für mein Teil halte mehr von dem Prinzip des Lebens, von der Seele des Menschen, als von Methoden. Ich glaube, daß das Ziel der Erziehung die sittliche Freiheit ist, die nur auf dem Wege der Freiheit erreicht werden kann, obgleich die Freiheit ihre Gefahren und ihre Verantwortung hat, wie das Leben überhaupt sie hat. Ich weiß gewiß, wenn auch die meisten Menschen es vergessen zu haben scheinen, daß Kinder lebendige Wesen sind, lebendiger als Erwachsene, die schon in einer Rinde von Gewohnheiten stecken. Daher ist es für ihre geistige Gesundheit und Entwicklung unbedingt nötig, daß man sie nicht in Schulen steckt, deren einziger Zweck der Unterricht ist, sondern daß sie in einer Welt leben, deren leitender Geist die persönliche Liebe ist. Solch eine Welt ist die Einsiedelei, der _āśrama_, wo die Menschen sich im Frieden der Natur zu dem höchsten Lebensziel vereint haben; wo sie sich nicht nur frommen Betrachtungen hingeben, sondern auch mit offenen Augen in die Welt schauen und tätig wirkend in ihr schaffen; wo man den Schülern nicht unausgesetzt den Glauben beibringt, daß die Selbstvergötterung der Nation das höchste Ideal für sie ist; wo sie begreifen lernen, daß diese Menschenwelt Gottes Königreich ist, dessen Bürger zu werden sie streben sollen; wo Sonnenauf- und -untergang und die stille Herrlichkeit der Sterne nicht täglich unbeachtet bleiben; wo der Mensch freudig teilnimmt an den Festen, die die Natur mit ihren Blüten und Früchten feiert, und wo jung und alt, Lehrer und Schüler sich an denselben Tisch setzen und das tägliche Brot wie das Brot des Lebens miteinander teilen. RELIGIÖSE BETRACHTUNG Es gibt Dinge, die wir von außen bekommen und als Besitz an uns nehmen. Aber mit der religiösen Betrachtung ist es umgekehrt. Hier treten wir mitten in eine große Wahrheit ein und werden von ihr in Besitz genommen. Laßt uns im Gegensatz dazu sehen, was Reichtum ist. Geld repräsentiert eine entsprechende Summe von Arbeit. Vermittelst des Geldes kann ich die Arbeit vom Menschen loslösen und sie in mein Eigentum verwandeln. Ich erwerbe sie von außen und wandle sie in eigene Kraft um. Oder nehmen wir das Wissen. Es gibt eine Art, die wir von andern übernehmen, und eine andre Art, die wir uns durch Beobachtung, Experimente und Nachdenken erwerben. Alles dies sind Versuche, uns etwas, was wir nicht haben, zu eigen zu machen. Bei diesen Dingen sind unsre geistigen und physischen Kräfte in ganz entgegengesetzter Weise tätig als bei der religiösen Betrachtung. Die höchste Wahrheit können wir nur erfassen, indem wir uns in sie versenken. Und wenn unser Bewußtsein ganz in sie eingetaucht ist, dann wissen wir, daß sie kein bloßer Besitz ist, den wir erworben haben, sondern daß wir eins mit ihr sind. So werden durch solches Versenken, wo unsre Seele ihre wahre Beziehung zur höchsten Wahrheit findet, auch alle unsre Handlungen und Worte, unser ganzes Wesen wahr. Ich möchte hier einen Text anführen, der uns in Indien zu solcher Versenkung dient. _Om bhūr bhuvaḥ svaḥ. tát savitúr váreṇyam bhárgo devásya dhīmahi dhíyo yó naḥ pracodáyāt[16]._ _Om._ Das heißt Vollkommenheit; es ist in der Tat das symbolische Wort für das Unendliche, Vollkommene, Ewige. Der Laut an sich schon ist vollkommen und stellt die Ganzheit aller Dinge dar. All unsre religiösen Betrachtungen beginnen mit Om und enden mit Om. Es soll den Geist mit der Ahnung der ewigen Vollkommenheit erfüllen und ihn aus der Welt der engen Selbstsucht befreien. _Bhūr bhuvaḥ svaḥ._ _Bhūr_ bedeutet die Erde. _Bhuvaḥ_ bedeutet die mittlere Region, den Luftraum. _Svaḥ_ bedeutet die Region der Sterne. Erde, Luft- und Sternenraum. Mitten ins Herz dieses Weltalls sollst du deinen Geist richten. Du sollst dir gegenwärtig halten, daß du im Unendlichen geboren bist, daß du nicht nur einem besonderen Fleck dieser Erde angehörst, sondern der ganzen Welt. _Tát savitúr váreṇyam bhárgo devásya dhīmahi._ Laßt uns nachdenken über die anbetungswürdige Kraft des Weltschöpfers. Das Wort Schöpfer ist durch beständigen Gebrauch abgegriffen. Aber wir müssen uns die Unermeßlichkeit des Weltalls ins Bewußtsein rufen, wenn wir sagen, daß Gott das Weltall aus seiner unendlichen Schöpferkraft erschafft, nicht durch eine einmalige Schöpfungstat, sondern unaufhörlich, jeden Augenblick. Alles dies ist ein Ausdruck des ewigen Schöpferwillens. Dieser ist nicht wie das Gesetz der Schwere oder andere Naturgesetze etwas Abstraktes, das wir nicht verehren können und das auf unsre Verehrung keinen Anspruch erheben kann. Sondern unser Text sagt, daß jene Kraft »anbetungswürdig« ist, daß sie unsre Verehrung fordert, weil sie einem höchsten Wesen angehört und keine bloße Abstraktion ist. Wodurch offenbart sich diese Kraft? Auf der einen Seite durch Erde, Luftraum und Sternenhimmel, auf der andern durch unser Bewußtsein. Es besteht eine ewige Verbindung zwischen uns und der Welt, weil diese Welt in unserm Bewußtsein erst ihre volle Verwirklichung findet. Ohne dies Bewußtsein und ohne das höchste Bewußtsein als Quelle und Mittelpunkt, könnte es keine Welt geben. Gottes Kraft strahlt von ihm aus und strömt als Bewußtsein in mir und in der Außenwelt. Wir selbst trennen gewöhnlich diese beiden Welten, aber in Wahrheit sind sie zwei Seiten derselben Schöpfung, sie sind gleichen Ursprungs und daher eng miteinander verbunden. So vergegenwärtigt mir diese Betrachtung, daß mein Bewußtsein und die weite Welt außer mir eins sind. Und worin besteht diese Einheit? Sie besteht in der großen Kraft, die zugleich mich und die Welt außerhalb meiner mit Bewußtsein durchströmt. Durch solche Versenkung erwerbe ich nicht etwas für mich, sondern ich gebe mich selbst auf und werde eins mit der ganzen Schöpfung. Dies ist also unser Text, und wir richten unsre Gedanken ganz auf ihn und wiederholen ihn immer wieder, bis unsre Seele still ist und nichts uns mehr zerstreut. In diesem Zustand kann kein Verlust, keine Angst, kein Schmerz uns berühren, wir sind frei. Dies bedeutet also religiöse Versenkung: wir tauchen ganz ein in die höchste Weisheit, wir leben und weben in ihr und haben in ihr unser Sein. Ein anderer Text, der in unsrer Schule den Knaben zu ihrer täglichen Andachtsübung dient, lautet: _Om. Pitā no 'si, pitā no bodhi. Namas te 'stu[17]._ _Pitā no 'si._ Du bist unser Vater. _Pitā no bodhi._ Gib uns das Bewußtsein, das Erwachen zu der Gewißheit, daß du unser Vater bist. _Namas te 'stu._ Für _namaḥ_ läßt sich schwer ein genau entsprechendes Wort finden, vielleicht kommt »Verneigung« oder »Verehrung« seiner Bedeutung am nächsten. Meine Anbetung dir -- laß sie wahr werden. Dies ist der erste Teil des Textes unsrer Andachtsübung. Ich will versuchen, zu erklären, was ich darunter verstehe. _Pitā no 'si._ Der Text beginnt mit der Versicherung, daß Gott in Wahrheit unser Vater _ist_. Aber diese Wahrheit ist in unserm Leben noch nicht als solche erfaßt und zum Ausdruck gekommen, und das ist die Ursache all unsrer Unvollkommenheiten und Sünden und all unsres Elends. Daher beten wir, daß sie in unserm Bewußtsein Wirklichkeit werde. Dann schließt der Vers mit _Namas te_. Laß meine Anbetung wahr werden! Weil Anbetung die Haltung ist, die uns ihm gegenüber gebührt. Wenn ich diese große Wahrheit -- _Pitā no 'si_ -- vollkommen erkannt habe, dann bringt mein Leben sein wahres Wesen zum Ausdruck, durch demütige Selbsthingabe und anbetende Verehrung. Beim Gebet brauchen wir mitunter Worte, die zwar unserm Empfinden Ausdruck geben, die wir aber doch nur mechanisch äußern, ohne uns in dem Augenblick ihre volle Bedeutung klarzumachen. Solch ein Wort ist »Vater«. Daher versuchen wir in dieser Betrachtung seinen Sinn in seiner ganzen Tiefe zu erfassen und unser Herz in Einklang mit seiner Wahrheit zu bringen. Wir können diese Welt als das nehmen, als was sie uns erscheint. Wir können in unserm Geiste die Vorstellung haben, sie sei eine Welt der Kraft und des Stoffes; dann wird unsre Beziehung zu ihr die rein mechanische Beziehung der Naturwissenschaft. Aber auf diesem Wege gelangen wir nie zu der höchsten Wahrheit, die im Menschen offenbar wird. Denn was ist der Mensch? Er ist ein persönliches Wesen. Das Naturgesetz kümmert sich darum nicht. Das Naturgesetz hat es mit der Physiologie und Psychologie, mit dem Mechanismus unsrer Natur zu tun. Und wenn wir zu unserm persönlichen Wesen kommen, so finden wir kein Naturgesetz, das es uns erklären könnte. Daher hat die Naturwissenschaft keine Ahnung von dem, was die Grundlage unsres Wesens ist. Für sie wird die ganze Welt zur Maschine, und so kann sie nicht auf den Gedanken kommen, in dem Schöpfer den Vater zu sehen oder »die Mutter«, wie wir Inder ihn oft nennen. Wenn wir in der Welt nur ein Zusammenwirken verschiedener Kräfte sehen, so kann von Anbetung keine Rede sein. Aber wir sind nicht nur Gegenstände der Physiologie und Psychologie. Wir sind Männer und Frauen. Und wir müssen versuchen zu erkennen, welchen Sinn es für uns und für die ganze Welt hat, daß wir Menschen sind. Die Existenz meines Körpers erklärt die Naturwissenschaft aus allgemeinen Gesetzen. So erkenne ich, daß mein Körper nicht eine isolierte Schöpfung ist, sondern ein Teil eines großen Ganzen. Dann komme ich zu der weiteren Erkenntnis, daß auch das Denken meines Verstandes im Einklang mit allen Vorgängen in der Welt steht, und so kann ich mit Hilfe meines Verstandes all die großen Gesetze, die das Weltall regieren, erkennen. Aber die Naturwissenschaft verlangt, daß ich hier stehen bleibe. Für sie haben Körper und Geist ihren Hintergrund in dem Weltall, aber für die Persönlichkeit gibt es keinen solchen Hintergrund. Jedoch unser Gefühl wehrt sich gegen solche Behauptung. Denn wenn diese unsre Persönlichkeit keine ewige Beziehung zur Wahrheit hat, wie alles andre, was für eine Zufallserscheinung ist sie denn? Wozu ist sie denn überhaupt da und wie ist ihr Dasein möglich? Diese Tatsache meiner Persönlichkeit bedarf zu ihrer Stütze der Wahrheit der unendlichen Persönlichkeit. Durch die unmittelbare Wahrnehmung des Ichs in uns sind wir zu der großen Entdeckung gekommen, daß es ein unendliches Ich geben muß. Dann stellt sich uns die Frage: Wie ist unsre Beziehung zu diesem unendlichen Ich? In seinem innersten Herzen findet der Mensch die Antwort, daß es die engste aller Beziehungen, daß es die Beziehung der Liebe ist. Es kann keine andere sein, denn es gibt keine vollkommene Beziehung außer der der Liebe. Die Beziehung zwischen König und Untertan, zwischen Herr und Diener, zwischen dem Gesetzgeber und denen, die dem Gesetz gehorchen, -- alle solche Beziehungen sind einseitig und dienen einem besonderen Zwecke. Sie umfassen nicht das ganze Wesen. Aber die Beziehung zwischen dem Einzel-Ich und dem Welt-Ich muß vollkommen sein. Denn nur in der Liebe findet unsere Persönlichkeit vollkommene Befriedigung, und daher muß auch unsre Beziehung zu der unendlichen Persönlichkeit die der Liebe sein. Und so hat der Mensch gelernt zu sagen: »Unser Vater«. Gott ist nicht nur unser König oder unser Herr, er ist unser Vater. Das heißt, es ist etwas in Ihm, woran wir teilhaben, etwas Gemeinsames zwischen diesem ewigen Ich und dem endlichen kleinen Ich. Aber man könnte noch fragen, warum wir denn das Wort Vater gebrauchen, das doch eine persönliche Beziehung zwischen menschlichen Wesen ausdrückt? Warum suchen wir nicht nach einem anderen Wort? Ist dies nicht zu klein und begrenzt? Das Wort Vater schließt in unsrer Sanskritsprache den Begriff Mutter mit ein. Sehr oft gebrauchen wir dies Wort in seiner Dualform _Pitarau_, das» Vater und Mutter« bedeutet. Der Mensch wird in die Arme der Mutter geboren. Wir kommen nicht einfach so auf die Erde, wie der Regen aus der Wolke kommt. Das Große für uns ist, daß wir von Vater und Mutter ins Leben geleitet werden. Es zeigt, daß unsre Beziehung zur Welt von vornherein eine persönliche ist. Und so finden wir auch unsre Beziehung zum Unendlichen. Wir wissen, daß wir aus der Liebe geboren sind, unsre ersten und nächsten Beziehungen sind die der Liebe, und wir fühlen, daß unser Verhältnis zu den Eltern das wahre Symbol ist für unser ewiges Verhältnis zu Gott. Diese Wahrheit müssen wir uns jeden Augenblick gegenwärtig halten. Wir müssen wissen, daß wir auf ewig mit unserm Vater verbunden sind. Dann erheben wir uns über die Nichtigkeit der Dinge, und die ganze Welt bekommt für uns einen Sinn. Daher ist das erste Gebet, daß wir Gott als Vater erkennen. Du, der du die unendliche Welt von Sternen und Welten schaffst, ich kann dein Wesen nicht erfassen, und doch weiß ich eines ganz gewiß: Du bist _Pitā_, bist mein Vater. Das Kindchen weiß noch nicht viel von dem, was die Mutter tut, aber es weiß, daß es seine Mutter ist. So weiß ich auch sonst nichts von Gott, aber das Eine weiß ich: Er ist mein Vater. Laß mein ganzes Bewußtsein von diesem Gedanken durchglüht sein: Du bist mein Vater. Jeden Tag laß dies das eine Zentrum all meiner Gedanken sein, daß der Höchste, der das ganze Weltall regiert, mein Vater ist. _Pitā no bodhi._ Laß mich im Licht dieser großen Wahrheit erwachen: Du bist mein Vater. Laß mich all meine Gedanken wie ein nacktes Kind in deine Arme legen, daß du sie den Tag über behütest und beschützest. Und dann: _Namaḥ_. Meine völlige Selbsthingabe wird Wahrheit werden. Hierin findet die Liebe des Menschen ihre höchste Freude. _Namas te, namaḥ_ -- Anbetung dir -- laß es wahr werden! Ich bin mit dem unendlichen Ich verbunden, und daher ist meine wahre Haltung nicht Stolz oder Selbstzufriedenheit, sondern Selbsthingabe. _Namas te 'stu._ Dies ist noch nicht der ganze Text, der meinen Schülern zu ihren Gebeten und Betrachtungen dient. Dies Gebet ist nämlich verschiedenen Stellen unserer ältesten Schriften, der Veden, entnommen. Es steht nirgends im Zusammenhange. Aber mein Vater, der sein Leben dem Dienste Gottes weihte, sammelte diese Worte aus dem unerschöpflichen Schatzhaus unsterblicher Weisheit, den Veden und Upanischaden. Der nächste Vers lautet: _Mā mā hiṃsi._ Triff mich nicht mit dem Tode. Wir müssen uns genau den Sinn dieses Gebetes klar machen. Ich sagte, daß der erste Vers lautete: »Du bist mein Vater.« Dies ist der Anfang und das Ende aller Wahrheit. In sie müssen wir ganz hineingeboren werden, wenn unser Leben seine Erfüllung finden soll. Doch wenn es auch wahr ist, daß wir mit unserm Vater in alle Ewigkeit verbunden sind, so ist doch eine Schranke da, die uns hindert, diese Wahrheit ganz zu erfassen und dies ist die größte Quelle unsrer Leiden. Die Tiere haben auch ihre Schmerzen, sie leiden durch die Angriffe von Feinden und durch physische Unvollkommenheit, und dies Leiden spornt sie noch mehr an, nach Befriedigung ihrer natürlichen Lebensbedürfnisse zu streben und gegen Hindernisse anzukämpfen. Dies Streben und Kämpfen an sich ist Freude. Und wir können sicher sein, daß sie in Wahrheit ihr Leben genießen, weil durch jenen Ansporn ihre ganze Lebensenergie geweckt wird. Sonst würde ihr Leben wie das der Pflanzenwelt sein. Das Leben braucht zu seiner Erfüllung Hemmnisse, um im beständigen Kampf gegen diese materiellen Widerstände sich seiner eigenen Überlegenheit und Würde bewußt zu werden. Aber all diese Hemmnisse werden von den Tieren als Schmerz empfunden. Allein der Mensch hat noch eine tiefere Leidensquelle. Auch er muß seinen Lebensunterhalt suchen und sich gegen all die Feindseligkeiten der Natur und der Menschen behaupten. Aber das ist nicht alles. Das Wunder ist, daß der Mensch, der in derselben Welt geboren ist, wie die Tiere, der dieselben Lebensprobleme zu lösen hat wie sie, noch etwas anderes hat, um das er kämpft und sorgt, obgleich er es nie ganz zu erfassen vermag. Nur in flüchtigen Augenblicken spürt er seine unmittelbare Berührung, und mitten im Genuß seines Reichtums, in Luxus und äußerem Behagen, umgeben von allen Schätzen dieser Welt fühlt der Mensch doch immer, daß diese Dinge ihm nicht genügen, und aus der Tiefe seines Herzens ringt sich das Gebet, das er nicht an die Naturkräfte der Erde richtet, an Luft oder Feuer, sondern an ein Wesen, das er nur dunkel ahnt -- das Gebet: »Rette mich, triff mich nicht mit dem Tode!« Wir meinen damit nicht physischen Tod, denn wir alle wissen, daß wir sterben müssen. Der Mensch fühlt instinktiv, daß dies Leben nicht sein endgültiges Leben ist, daß er nach einem höheren Leben trachten muß. Und dann ruft er zu Gott: »Laß mich nicht in diesem Tal des Todes. Hier findet meine Seele keine Befriedigung. Ich esse und schlafe, und finde doch weder Sättigung noch Ruhe. Ich darbe mitten in all diesem Reichtum.« Wie das Kind nach der Nahrung schreit, die aus dem eigenen Leben der Mutter quillt, so schreit unsre Seele nach der ewigen Mutter: »Errette mich vom Tode, gib mir Leben von deinem Leben. Ich darbe! Hier finde ich keine Nahrung, und der Tod breitet schon seine Schwingen über mich. Errette mich!« _Vī́śvāni deva savitar duritā́ni párā suva!_[18] O Gott, mein Vater, nimm diese Welt von Sünden von mir! Wenn dies Selbst alles für sich zu gewinnen sucht, dann stößt es sich beständig wund. Denn das Leben der engen Selbstsucht ist gegen seine wahre Natur; sein wahres Leben ist ein Leben der Freiheit, und daher verletzt es unaufhörlich seine Flügel an den Käfigwänden. Das Selbst kann in solchem Gefängnis kein Genüge und keinen Sinn finden. Es ruft aus: »Ich gelange nicht zu meiner Erfüllung!« Es schlägt gegen die Stäbe des Käfigs, und seine Schmerzen sagen uns, daß nicht das Leben des Ichs, sondern das weitere Leben der Seele sein wahres Leben ist. Dann rufen wir: »Zerbrich dies Gefängnis, ich sage mich los von diesem Ich. Zerbrich alle seine Sünden, all sein selbstsüchtiges Wünschen und Trachten, und nimm mich als dein Kind an, -- dein Kind, nicht das Kind dieser Welt des Todes.« _Yád bhadráṃ tán na ā́ suva[19]!_ Gib uns das, was gut ist. Sehr oft sprechen wir dies Gebet und bitten unsern Vater, uns das zu geben, was gut ist, aber wir wissen nicht, wie Furchtbares uns zuteil würde, wenn Gott uns unsre Bitte in vollem Maße gewährte. Es gibt nur sehr wenige unter uns, die, wenn sie erkennen, was das höchste Gute ist, noch darum bitten können. Nur der kann es, der sein Leben gereinigt und es aus den Ketten des Bösen befreit hat, der furchtlos Gott bitten kann, sein Werk an ihm zu tun. Er, der sagen kann: »Ich habe meinen Geist von allen selbstsüchtigen Impulsen und von aller Angst und Sorge des engen Lebens im Ich befreit,« und nun kann ich voll Zuversicht beten: »Gib mir, was gut ist, in welcher Gestalt es auch sei, sei es Leid, Verlust, Schmach, Verlassenheit -- ich werde es mit Freuden hinnehmen, denn ich weiß, es kommt von dir.« Aber wie schwach wir auch sein mögen, dies muß unser Gebet sein. Denn wir wissen, daß, wer in Gott seinen Vater erkannt hat, alles, was aus seinen Händen kommt, willig hinnimmt, und müßte er auch in Leid und Elend versinken. Das ist wahre Freiheit. Denn Freiheit ist nicht da, wo nur äußeres Glück ist. Sondern wenn wir Gefahr und Tod, Mangel und Leid Trotz bieten können und uns doch frei fühlen, wenn wir nicht den geringsten Zweifel haben, daß wir in unserm Vater leben, dann kommt alles wie eine frohe Botschaft zu uns, und wir können es mit Demut und Freude empfangen und unser Haupt in Dankbarkeit beugen. _Námaḥ śambhavā́ya_[20]. »Anbetung dir, von dem alle Freuden des Lebens kommen.« Wir heißen sie froh willkommen, all die verschiedenen Ströme der Freude, die du durch verschiedene Kanäle uns zuleitest, und wir neigen uns in Anbetung vor dir. _Mayobhavā́yaca_. »Anbetung dir, von dem die Wohlfahrt der Menschen kommt.« Wohlfahrt enthält beides, Freude und Leid, Gewinn und Verlust. Dir, der du mit Schmerz, Sorge und Not unser Leben segnest, -- dir sei Anbetung. _Námaḥ śivā́ya ca śivátarāya ca_[20]. »Anbetung dir, dem Gütigen, dem Allgütigen.« Dies ist der vollständige Text. Der erste Teil ist das Gebet um Erkenntnis, daß wir nicht nur in der Welt der Natur, in der Welt von Erde, Luft und Wasser leben, sondern in der wahren Welt der Seele, in der Welt der Liebe. Und wenn wir erkannt haben, daß wir von dieser Liebe getragen werden, dann empfinden wir die Disharmonie unsres Lebens, das von Liebe nichts weiß. Wir empfinden sie erst, wenn wir Gott als unsern Vater erkannt haben. Aber sobald wir zu dieser Erkenntnis gekommen sind, fühlen wir die Disharmonie unsres Lebens so stark, daß sie uns vernichtet und wir dies Leben als Tod empfinden. Wir können es nicht mehr ertragen, sobald wir uns bewußt werden, daß die Liebe unsres Vaters uns umgibt. Dann kommt das Gebet um Befreiung aus der Gewalt der Dinge und um das höchste Gut, um die Freiheit in Gott. Und dann der Schluß. Wir beugen uns in Anbetung vor Ihm, in dem alle unsre Freuden sind, in dem die Wohlfahrt unsrer Seele ist, in dem das Gute ist: _Om, S̀āntiḥ, S̀āntiḥ, S̀āntiḥ. Om._ DIE FRAU Wenn die männlichen Geschöpfe ihrer natürlichen Neigung zum Kämpfen nachgeben und einander töten, so läßt die Natur dies zu, weil die weiblichen Wesen ihrem Zweck unmittelbar, die männlichen ihm dagegen nur mittelbar dienen. Sparsam, wie sie ist, liegt ihr nicht besonders an der Erhaltung der hungrigen Brut, die mit zänkischer Gefräßigkeit über alles herfällt und doch sehr wenig dazu beiträgt, die Rechnung der Natur zu bezahlen. Daher können wir beobachten, wie in der Insektenwelt die Weibchen dafür sorgen, daß die männliche Bevölkerung sich auf die kleine Zahl beschränkt, die zur Erhaltung der Art unbedingt notwendig ist. Weil nun aber den männlichen Wesen in der Menschenwelt so wenig Pflichten und Verantwortung der Natur gegenüber blieben, so waren sie frei, anderen Beschäftigungen und Abenteuern nachzugehen. Man definiert den Menschen als das Tier, das Werkzeuge macht. Dies Werkzeugmachen liegt nicht mehr im Plan der Natur. Ja, durch unser Vermögen, Werkzeuge zu machen, sind wir imstande, der Natur Trotz zu bieten. Der männliche Mensch, der den größten Teil seiner Kräfte frei hatte, entwickelte dies Vermögen und wurde furchtbar. So ist es gekommen, daß, wenn auch auf den Gebieten des natürlichen Lebens das Weib noch den Thron behauptet, den die Natur ihr zuerkannt, auf geistigem Gebiet der Mann seine eigene Herrschaft errichtet und ausgedehnt hat. Denn zu diesem großen Werk brauchte er Bewegungsfreiheit und innere Ungebundenheit. Der Mann machte sich diese verhältnismäßige Freiheit von physischer und seelischer Gebundenheit zunutze und ging unbelastet an die Erweiterung seines Lebensgebiets. Hierbei beschritt er den gefahrvollen Weg gewaltsamer Umwälzungen und Zerstörungen. Immer wieder wurde von Zeit zu Zeit alles, was er mit großem Fleiß angehäuft, hinweggefegt und der Strom des Fortschritts an der Quelle verschüttet. Und wenn auch der Gewinn beträchtlich war, so war im Vergleich damit der Verlust noch ungeheurer, besonders wenn man bedenkt, daß mit dem Wohlstand eines Volks oft auch seine Geschichte unterging. Aus diesen wiederholten Katastrophen hat der Mensch die Wahrheit gelernt, wenn er sie sich auch noch nicht völlig zunutze gemacht hat, daß er bei allem, was er schafft, das sittliche Gleichmaß wahren muß, wenn sein Werk nicht untergehen soll; daß ein bloßes unbegrenztes Anhäufen von Macht nicht zu wahrem Fortschritt führt; daß Ebenmaß des Baues und Harmonie mit seiner Basis zu wirklichem Gedeihen nötig sind. Dies Ideal der Festigkeit und Dauerhaftigkeit ist in der Natur der Frau tief gegründet. Es macht ihr niemals Freude, nur immer weiterzueilen und dabei Pfeile eitler Neugierde mitten ins Dunkel hinein zu schießen. Sie wirkt instinktiv mit allen ihren Kräften dahin, die Dinge zu einer gewissen Vollendung zu bringen, -- denn das ist das Gesetz des Lebens. Wenn auch in der Bewegung des Lebens nichts endgültig ist, so ist doch jeder Schritt desselben ein vollständiges rhythmisches Ganze. Selbst die Knospe hat ihr Ideal vollkommener Rundung, ebenso die Blume und die Frucht. Aber ein unvollendetes Gebäude hat nicht das Ideal der Ganzheit in sich. Wenn es sich daher unbegrenzt immer weiter ausdehnt, so wächst es über sein Maß hinaus und verliert das Gleichgewicht. Die männlichen Schöpfungen intellektueller Kultur sind babylonische Türme, sie wagen es, ihrer Basis zu trotzen, und stürzen daher immer wieder ein. So wächst die Menschheitsgeschichte auf Trümmerschichten empor, es ist kein ruhig fortschreitendes Wachsen unmittelbar aus der mütterlichen Erde. Der gegenwärtige Krieg gibt ein Bild davon. Die wirtschaftlichen und politischen Organisationen, die nur mechanische Kraft darstellen, die aus dem Intellekt geboren ist, sind geneigt zu vergessen, daß ihr Schwerpunkt in dem Mutterboden des Lebens liegen muß. Die Gier, Macht und Besitz anzuhäufen, die ihr Ziel niemals vollständig erreichen kann, die nicht im Einklang steht mit dem Ideal sittlicher und geistiger Vollkommenheit, muß schließlich mit eigener Hand ihren schwerfälligen Bau einreißen. Im gegenwärtigen Stadium der Geschichte ist die Kultur fast ausschließlich männlich; es ist eine Kultur der Macht, welche die Frau abseits in den Schatten gedrängt hat. Daher hat diese Kultur ihr Gleichgewicht verloren und taumelt nur von einem Krieg zum anderen. Ihre Triebkräfte sind zerstörender Art, und ihr Kultus fordert eine erschreckende Zahl von Menschenopfern. Diese einseitige Kultur stürzt eben wegen ihrer Einseitigkeit mit ungeheurer Schnelligkeit von Katastrophe zu Katastrophe. Und endlich ist die Zeit gekommen, wo die Frau eingreifen und diesem rücksichtslosen Lauf der Macht ihren Lebensrhythmus mitteilen muß. Denn die Aufgabe der Frau ist die passive Aufgabe, die der Erdboden hat, der nicht nur dem Baum hilft, daß er wachsen kann, sondern auch sein Wachstum in Schranken hält. Der Baum muß die Freiheit haben, sich ins Leben hineinzuwagen und seine Zweige nach allen Seiten auszubreiten, aber all seine tieferen Bande werden vom mütterlichen Boden geborgen und festgehalten, und nur dadurch kann der Baum leben. Unsre Kultur muß auch ihr passives Element haben, auf dem sie tief und fest gegründet steht. Sie muß nicht bloßes Wachstum, sondern harmonische Entfaltung sein. Sie muß nicht nur ihre Melodie, sondern auch ihren Takt haben. Dieser Takt ist keine Schranke, er ist das, was die Ufer dem Fluß sind: sie geben seinen Wassern, die sich sonst im Morast verlieren würden, dauernden Lauf. Dieser Takt ist Rhythmus, ein Rhythmus, der die Bewegung der Welt nicht hemmt, sondern sie zu Wahrheit und Schönheit rundet. Die Frau ist in weit höherem Maße mit den passiven Eigenschaften der Keuschheit, Bescheidenheit, Hingebung und Opferfähigkeit begabt als der Mann. Die passiven Eigenschaften der Natur sind es, die ihre ungeheuren Riesenkräfte zu vollendeten Schöpfungen der Schönheit umwandeln, -- die die wilden Elemente zähmen, daß sie mit zarter Fürsorge dem Leben dienen. Diese passiven Eigenschaften haben der Frau jene große und tiefe Seelenruhe gegeben, die so nötig ist, um das Leben zu heilen, zu nähren und zu hegen. Wenn das Leben sich nur immerfort ausgäbe, so wäre es wie eine Rakete, die in einem Blitzstrahl aufsteigt und im nächsten Augenblick als Asche niederfällt. Das Leben aber soll einer Lampe gleichen, die noch weit mehr Leuchtkraft in sich birgt, als ihre Flamme zeigt. Und die passive Natur der Frau ist es, in der dieser Vorrat von Lebenskraft aufgespeichert ist. Ich habe an einer anderen Stelle gesagt, daß man bei der Frau des Westens eine gewisse Ruhelosigkeit beobachtet, die nicht ihrer wahren Natur entsprechen kann. Denn Frauen, die besonderer und gewaltsamer Anregung in ihrer Umgebung bedürfen, um ihre Interessen wachzuhalten, beweisen nur, daß sie die Berührung mit ihrer eigenen, wahren Welt verloren haben. Offenbar gibt es im Westen eine große Anzahl von Frauen, die, ebenso wie die Männer, alles, was gewöhnlich und alltäglich ist, verachten. Sie sind immer darauf aus, etwas Außergewöhnliches zu finden, und strengen alle ihre Kräfte an, eine unechte Originalität hervorzubringen, die, wenn sie auch nicht befriedigt, doch überrascht. Aber solche Anstrengungen sind nicht das Zeichen wahrer Lebenskraft. Und sie müssen den Frauen verderblicher sein als den Männern, weil die Frauen mehr als die Männer die Träger der Lebenskräfte sind. Sie sind die Mütter des Menschengeschlechts, und sie haben ein lebendiges Interesse an den Dingen, die sie umgeben, eben an den Dingen des alltäglichen Lebens; wenn sie dies Interesse nicht hätten, müßte die Menschheit untergehen. Wenn sie dadurch, daß sie beständig Anregung von außen suchen, einer Art geistiger Trunksucht verfallen, so daß sie ohne ihre tägliche Dosis sensationeller Erregung nicht mehr auskommen können, so verlieren sie das feine Empfinden, das sie von Natur haben, und mit ihm die schönste Blüte ihrer Weiblichkeit, und zugleich die Kraft, die Menschheit mit dem zu versehen, was sie am nötigsten braucht. Des Mannes Interesse für seine Mitmenschen wird erst wirklich ernst, wenn er sieht, daß sie besondere Fähigkeiten besitzen oder von besonderem Nutzen sein können, aber eine Frau fühlt Interesse für ihre Mitmenschen, weil sie lebendige Geschöpfe, weil sie Menschen sind, nicht weil sie einem besonderen Zweck dienen können oder weil sie eine Fähigkeit haben, die sie besonders bewundert. Und weil die Frau diese Gabe hat, übt sie solchen Zauber auf unsre Seele aus; die überschwängliche Fülle ihres Lebensinteresses ist so anziehend, daß sie allem an ihr, ihrer Rede, ihrem Lachen, ihrer Bewegung, Anmut verleiht; denn Anmut fließt aus dieser Harmonie mit dem Leben, das uns umgibt. Zum Glück für uns hat unsre Alltagswelt die feine und unaufdringliche Schönheit des Alltäglichen, und wir brauchen nur unser eigenes Empfinden offen zu halten, um seine Wunder zu begreifen, die nicht in die Augen fallen, weil sie geistiger Art sind. Wenn wir durch den äußeren Vorhang hindurchblicken, so finden wir, daß die Welt in ihren alltäglichen Erscheinungen ein Wunder ist. Wir erfassen diese Wahrheit unmittelbar durch die Gabe der Liebe, und die Frauen erkennen durch diese Gabe, daß der Gegenstand ihrer Liebe und Zuneigung trotz seiner zerlumpten Hülle und scheinbaren Alltäglichkeit unendlichen Wert hat. Wenn die Frauen die Teilnahme am Alltäglichen verloren haben, dann schreckt die Muße sie mit ihrer Leerheit, weil, nachdem ihr natürliches Empfinden abgestumpft ist, sie nichts mehr in ihrer Umgebung finden, das ihre Aufmerksamkeit beschäftigt. Daher schwirren sie von einer Tätigkeit zur anderen, nur um die Zeit auszufüllen, nicht um sie zu nützen. Unsre alltägliche Welt ist wie eine Rohrflöte, ihr wahrer Wert liegt nicht in ihr selber, sondern in der Musik, die der Unendliche durch ihr leeres Innere ertönen läßt, und die alle die vernehmen, welche die Gabe und die Ruhe des Gemüts haben, auf sie zu hören. Aber wenn die Frauen sich gewöhnen, jedes Ding nach dem Wert einzuschätzen, den es für sie selbst hat, dann können wir darauf gefaßt sein, daß sie wütend gegen unsern Geist Sturm laufen, um unsre Seele von der stillen Begegnung mit dem Ewigen fortzulocken und uns dahin zu bringen, daß wir versuchen, die Stimme des Unendlichen durch den sinnlosen Lärm rastloser Geschäftigkeit zu übertäuben. Ich will damit nicht sagen, daß das häusliche Leben das einzige Leben für eine Frau sei. Ich meine, daß die Welt des Menschlichen die Welt der Frau ist, sei es die häusliche Welt oder sei es draußen im Leben, solange nur ihre Betätigung dort dem Menschen gewidmet ist, und nicht abstraktes Streben nach Organisation. Alles rein Persönliche und Menschliche ist das Gebiet der Frau. Die häusliche Welt ist die Welt, wo jedes Individuum nach seinem eigenen Wert geschätzt wird; hier gilt nicht der Marktwert, sondern der Wert, den die Liebe gibt, das heißt der Wert, den Gott in seiner unendlichen Gnade allen seinen Geschöpfen beilegt. Diese häusliche Welt hat Gott der Frau zu eigen gegeben. Sie kann die Strahlen ihrer Liebe nach allen Seiten weit über ihre Grenzen hinaus leuchten lassen, ja, sie kann selbst aus dieser ihrer Welt hinaustreten, wenn der Ruf an sie ergeht, daß sie als Weib sich draußen bewähre. Aber eins ist gewiß, und diese Wahrheit darf sie nie vergessen: im Augenblick, wo sie geboren ist und die Mutterarme sie zuerst umschließen, da ist sie im Mittelpunkt ihrer eigenen, wahren Welt, in der Welt rein menschlicher Beziehungen. Die Frau sollte ihre Gabe gebrauchen, durch die Oberfläche hindurch ans Herz der Dinge zu gelangen, wo in dem Geheimnis des Lebens ein unendlicher Reiz verborgen liegt. Der Mann hat diese Gabe nicht in dem Maße. Aber die Frau hat sie, wenn sie sie nicht in sich ertötet, -- und daher liebt sie die Geschöpfe, die nicht wegen ihrer hervorragenden Eigenschaften liebenswert sind. Der Mann hat seine Pflichten in seiner eigenen Welt, wo er beständig Macht und Reichtum und Organisationen aller Arten schafft. Aber Gott hat die Frau gesandt, daß sie die Welt liebe. Und diese Welt ist eine Welt alltäglicher Dinge und Begebenheiten, keine Märchenwelt, wo die schöne Frau Jahrhunderte schläft, bis sie von dem Zauberstab berührt wird. In Gottes Welt haben die Frauen überall ihren Zauberstab, der ihr Herz wach hält -- und dies ist weder der goldene Zauberstab des Reichtums, noch das eiserne Zepter der Macht. Alle unsre geistigen Führer haben den unendlichen Wert des Individuums verkündet. Der überhandnehmende Materialismus der heutigen Zeit ist es, der die einzelnen den blutdürstigen Götzen der Organisation erbarmungslos opfert. Als die Religion materialistisch war, als die Menschen ihren Göttern dienten, weil sie ihre Tücke fürchteten oder dadurch Reichtum und Macht zu erlangen hofften, da war ihr Kultus grausam und forderte Opfer ohne Zahl. Aber mit der Entwicklung unsres geistigen Lebens wurde unser Gottesdienst der Gottesdienst der Liebe. In dem gegenwärtigen Stadium der Kultur, wo die Verstümmelung von Individuen nicht nur geübt, sondern verherrlicht wird, schämen die Frauen sich ihres weiblichen Gefühls. Denn Gott hat sie mit seinem Evangelium der Liebe gesandt als Schutzengel der einzelnen, und in diesem ihrem göttlichen Beruf bedeuten ihnen die einzelnen mehr als Heer und Flotte und Parlament, mehr als Kaufhäuser und Fabriken. Sie haben hier ihren Dienst in Gottes eigenem Tempel der Wirklichkeit, wo Liebe mehr gilt als Macht. Aber weil die Männer in ihrem Stolz auf Macht angefangen haben, lebendige Dinge und menschliche Beziehungen zu verspotten, so schreien eine große Anzahl von Frauen sich heiser, um zu beweisen, daß sie nicht Frauen sind, daß sie ihrem wahren Wesen treu sind, wenn sie Macht und Organisation vertreten. Sie fühlen sich heutzutage in ihrem Stolz verletzt, wenn man in ihnen nur die Mütter der Menschheit sieht, die ihren einfachen Lebensbedürfnissen und ihrem tieferen seelischen Bedürfnis nach Mitgefühl und Liebe dienen. Weil die Männer mit salbungsvoller Frömmigkeit den Dienst ihrer selbstgefertigten Götzenbilder: Staat, Nation usw., predigen, zerbrechen die Frauen beschämt den Altar ihres wahren Gottes, der vergebens auf ihr Opfer dienender Liebe wartet. Schon lange sind unterhalb der festen Rinde der Gesellschaft, auf die die Welt der Frau gegründet ist, Wandlungen vor sich gegangen. Neuerdings ist die Kultur mit Hilfe der Wissenschaft in wachsendem Maße männlich geworden, so daß man sich um das Wesen und die Eigenart der einzelnen immer weniger kümmert. Die Organisation greift über auf das Gebiet persönlicher Beziehungen, und das Gefühl muß dem Gesetz weichen. Es hat von männlichen Idealen geleitete Gemeinschaften gegeben, in denen der Kindesmord herrschte, der grausam das weibliche Element der Bevölkerung soweit wie möglich niederhielt. Dasselbe, nur in anderer Form, geschieht in der modernen Kultur. In ihrer zügellosen Gier nach Macht und Reichtum hat sie die Frau fast ganz aus ihrer Welt gedrängt, und das Heim muß von Tag zu Tag immer mehr dem Geschäftszimmer Platz machen. Sie beansprucht die ganze Welt für sich und läßt der Frau fast keinen Raum mehr. Sie schädigt sie nicht nur, sondern verhöhnt sie. Aber der Mann kann durch seinen Machtwillen die Frau nicht ein für allemal zum bloßen Zierstück herabwürdigen. Denn sie ist der Kultur nicht weniger notwendig als er, vielleicht mehr. In der Entwicklungsgeschichte der Erde sind große verheerende Umwälzungen über sie hingegangen, als die Erde noch nicht die lockere Weichheit ihrer Reifezeit erreicht hatte, die allen gewaltsamen Kraftentfaltungen Trotz bietet. Und auch die Kultur des materiellen Wettbewerbs und des Kampfes der Kräfte muß einem Zeitalter der Vollkommenheit weichen, dessen Kraft tief in Güte und Schönheit wurzelt. Zu lange schon steht der Ehrgeiz am Steuer unsrer Geschichte, so daß der einzelne sein Recht erst jedesmal den Machthabern mit Gewalt entwinden und die Hilfe des Bösen in Anspruch nehmen muß, um das zu erlangen, was gut für ihn ist. Aber solche Zustände können immer nur eine Zeitlang dauern, denn die Saat, die die Gewalt ausgestreut hat, liegt wartend und heimlich wachsend in den Rissen und Spalten und bereitet im Dunkel den Zusammenbruch vor, der hereinbricht, wenn man es am wenigsten erwartet. Obgleich daher in dem gegenwärtigen Stadium der Geschichte der Mann seine männliche Überlegenheit behauptet und seine Kultur mit Steinblöcken aufbaut, ohne sich um das Prinzip des wachsenden Lebens zu kümmern, so kann er doch die Natur der Frau nicht ganz in Staub zermalmen oder in totes Baumaterial umwandeln. Man kann wohl der Frau ihr Heim zertrümmern, aber sie selbst, ihre Art, kann man nicht töten. Was die Frau zu erlangen sucht, ist nicht nur die Freiheit, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, indem sie dem Mann die Alleinherrschaft im Erwerbsleben zu entreißen sucht, sondern sie kämpft auch gegen seine Alleinherrschaft auf dem Gebiete der Kultur, wo er ihr täglich das Herz bricht und ihr Leben verödet. Sie muß das verlorene soziale Gleichgewicht wiederherstellen, indem sie das volle Gewicht ihrer Weiblichkeit der männlichen Schöpfung gegenüber in die Waagschale wirft. Der Riesenwagen der Organisation fährt kreischend und krachend auf der Heerstraße des Lebens dahin, Elend und Verstümmelung auf seinen Spuren zurücklassend, denn was kümmert's ihn, wenn er nur eilig weiterkommt. Daher muß die Frau in die zerquetschte und zertrümmerte Welt der Einzelwesen eintreten und sie alle als die Ihrigen in Anspruch nehmen, die Unbedeutenden und Unbrauchbaren. Sie muß die schönen Blumen des Gefühls liebend schützen vor dem tötenden Spott kalter, kluger Tüchtigkeit. Sie muß all das Ungesunde und Unreine hinwegfegen, das die organisierte Machtgier in der Menschheit hervorrief, als sie sie ihrer natürlichen Lebensbedingungen beraubte. Die Zeit ist gekommen, wo die Verantwortung der Frau größer ist als je zuvor, wo ihr Arbeitsfeld weit über die Sphäre häuslichen Lebens hinausreicht. Die Welt ruft durch ihre geschmähten Individuen ihre Hilfe an. Diese Individuen müssen wieder in ihrem wahren Wert erkannt werden, sie müssen wieder ihr Haupt zur Sonne heben dürfen und durch die erbarmende Liebe der Frau den Glauben an die Liebe Gottes wiedergewinnen. Die Menschen haben die Widersinnigkeit der heutigen Kultur gesehen, die auf Nationalismus gegründet ist, d. h. auf Volkswirtschaft und Politik und den daraus folgenden Militarismus. Sie haben gesehen, daß sie ihre Freiheit und Menschlichkeit aufgeben mußten, um sich den ungeheuren mechanischen Organisationen anzupassen. So können wir hoffen, daß sie ihre kommende Kultur nicht nur auf wirtschaftlichen und politischen Wettbewerb und Ausbeutung gründen werden, sondern auf soziales Zusammenwirken aller Völker, auf die geistigen Ideale der Nächstenliebe und gegenseitigen Hilfe, und nicht auf die wirtschaftlichen Ideale des größtmöglichen Nutzungswerts und der mechanischen Tüchtigkeit. Und dann werden die Frauen an ihrem wahren Platz sein. Weil die Männer so riesige und ungeheuerliche Organisationen zustande gebracht haben, sind sie zu dem Glauben gekommen, daß diese Macht, andere zu verdrängen, ein Zeichen von Größe und Vollkommenheit sei. Dieser Glaube hat bei ihnen so fest Wurzel geschlagen, daß sie schwer die Unwahrheit ihres gegenwärtigen Fortschrittsideals erkennen werden. Aber die Frau kann mit ihrem unverfälschten Gefühl und mit der ganzen Kraft ihrer Menschenliebe an diese neue Aufgabe, eine geistige Kultur aufzubauen, gehen, wenn sie sich nur einmal ihrer Verantwortlichkeit bewußt wird; denn freilich, wenn sie oberflächlich und kurzsichtig ist, wird sie ihre Mission verfehlen. Und gerade weil die Frau von dem Mann beiseite gedrängt war und gewissermaßen im Dunkel lebte, wird ihr jetzt in der kommenden Kultur volle Entschädigung werden. Und jene menschlichen Wesen, die sich ihrer Macht rühmen und mit ihrer Ausbeutung nirgends haltmachen wollen, die den Glauben an den wahren Sinn der Lehre ihres Herrn und Meisters, daß die Friedfertigen das Erdreich besitzen sollen, verloren haben, sie werden in der nächsten Lebensgeneration zuschanden werden. Es wird ihnen ergehen, wie es in den alten, vorgeschichtlichen Zeiten den großen Ungeheuern, den Mammuts und den Dinosauriern erging. Sie haben ihr Erbe auf dieser Welt verloren. Sie hatten Riesenmuskeln für ungeheure körperliche Leistungen, aber sie mußten Geschöpfen weichen, die weit schwächere Muskeln hatten und weit weniger Raum einnahmen. Und so werden auch in der kommenden Kulturperiode die Frauen, die schwächeren Geschöpfe -- schwächer wenigstens nach ihrer äußeren Erscheinung --, die weniger muskulös sind und immer zurückstanden, immer im Schatten dieser großen Geschöpfe, der Männer, lebten, ihren Platz einnehmen, und jene größeren Geschöpfe werden ihnen weichen müssen. FUSSNOTEN: [1] Edward Robert Bulwer-Lytton, Sohn des Dichters Edward Bulwer und selbst Dichter, 1876-80 Vizekönig von Indien. [2] pers. durbār oder darbār, Audienz, öffentlicher Empfang der mongolischen Fürsten. [3] Taittiriya -- Upaniṣad 2, 7, 1. [4] #Kabīr#, einer der Begründer der neueren indischen Mystik, Sohn eines armen muhammedanischen Webers in Benares, lebte von etwa 1440 bis 1518. Ein Schüler Rāmānandas, verkündete er seine Religion der Gottesliebe, in der indische und muhammedanische Vorstellungen zusammenflossen, wurde von beiden Lagern als Ketzer verfolgt und schließlich 1495 aus Benares verbannt. Seine Lieder wurden aus schriftlichen Quellen und mündlicher Überlieferung von Kshiti Mohan Sen, einem Lehrer an Tagores Schule, gesammelt und in vier Bänden herausgegeben. Danach hat der Dichter selbst eine Auswahl ins Englische übertragen: Songs of Kabir. Translated by Rabindranath Tagore. London 1915. Kabir pflegt seine Lieder zu zeichnen, indem er am Anfang der letzten Strophe seinen Namen nennt (vgl. S. 89). -- Die angeführte Stelle aus XVII, p. 62 f. [5] S. Sādhanā S. 28. (Der Anfang Ṛgveda 10, 113, 1.) [6] Die älteste erhaltene Kodifizierung der indischen Rechtssatzungen und Sitten; berühmtes Lehrgedicht, das unter dem Namen Manu's, des mythischen Vaters des Menschengeschlechts, geht. [7] Eine der schönsten und der kürzesten Upanischaden (Texte der altindischen Mystik), gewöhnlich nach dem ersten Wort als Iśā-Upaniṣad bezeichnet. S. Sechzig Upanishads des Veda, aus dem Sanskrit übersetzt von Paul Deussen. (Leipzig 1905.) S. 523-8. [8] Songs of Kabir (s. S. 32) LXXVI, p. 121. [9] Ebenda XVII, p. 67. [10] Der Schluss ist kaum richtig wiedergegeben. Genauer Deussen: »ja, ich sehe sie, deine lieblichste Gestalt; und jener dort, der Mann dort, ich bin es selbst!« (Tagore: he is I Am.) [11] Das vieldeutige Wort #kratu# ist eher mit Geist wiederzugeben. [12] Songs of Kabir LXXXII, p. 129. [13] Eṣāsya paramā gatiḥ, Eṣāsya paramā sampat, Eṣo 'sya paramo lokaḥ, Eṣo 'sya parama ānandaḥ. (Bṛhad āraṇyaka-Upaniṣad 4, 3, 32). [14] Vgl. oben S. 76. [15] Taittirīya-Up. 2, 7, 1. [16] Mit Ausnahme der 4 ersten Worte die berühmte Gāyatrī (Ṛgveda 3, 62, 10), s. Sādhanā S. 15. [17] Du bist unser Vater. Sei unser Vater! Anbetung sei dir! (_bodhi_ kann »sei« und »erwache, merke auf etwas« bedeuten. Die Erklärung des Textes nimmt es in letzterem Sinne, zu dem Verb _budh_ -- erwachen, bewußt werden, wissen). [18] Ṛgveda 5, 82, 5. [19] Ṛgveda 5, 82, 5. [20] Vājasaneyi-Saṃhitā 16, 41. Ebenso die folgenden Zitate. [Illustration] Gedruckt im Sommer 1921 bei Poeschel & Trepte in Leipzig * End of the Project Gutenberg EBook of Persönlichkeit, by Rabindranath Tagore *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 45163 ***